Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Achtes Kapitel: Schloß Schweigen

Heute geht man nach Schweigen, und alles soll ganz anders sein, als Seelchen es sich gedacht. Kein Mensch sagt ein Wort von Harro. Den schönsten dicksten Nebel hat man ungenützt verstreichen lassen, wie alle Tage ist der Wagen auf drei Uhr befohlen. Seelchen weiß nicht, ob es sich nun freuen soll, beschließt jedoch noch abzuwarten, aber so viel merkt sie schon: ein richtiges Fest wird es nicht. Ein Fest ohne Harro!

Der blaue Wagen fährt vor, Mama und Papa steigen ein, das Kind auf den Rücksitz, sehr tugendhaft und ängstlich bemüht, die Füße vor Mamas Augen zu verbergen.

Denn Mamas Ansicht über ihre Schuhe kennt sie nun schon. Zum erstenmal in seinem Leben ist das Kind schlau gewesen. Daß das wunderbare Schuhwerk von Harros Gnaden ist, hat sie nicht verraten, auch nichts vom Herrn Wurmhaber.

Die Fahrt nach Schloß Schweigen ist sehr schön. Es geht in das Tal hinunter, über die uralte bedeckte Holzbrücke donnert der Wagen, dann geht es in Windungen die steile Höhe hinauf, und man sieht die Türme und Giebel von Schloß Brauneck schön gegen den seidig blauen Herbsthimmel. Dann kommt der Hochwald, in dem die Räder leiser rollen, und der glüht in dunklem und hellem Gold und Purpur und Blaugrün. Und Papa ist sehr froh, und sie fühlt, daß er mit ihr zufrieden ist.

Und nun wieder durch Felder, über die der Pflug geht und über die die weißen Marienfädchen fliegen. Seelchen hält ein glühendrotes Ahornblatt in der Hand, das ihr in den Schoß gefallen, und hält es gegen den seidigen Himmel und muß es immer wieder bewundern und sich ausdenken, warum sich wohl das Blatt gar so herrlich zum Sterben anzieht. Nun kommen ein paar uralte kleine Giebelhäuser, ein großer Nußbaum, ein Hohlweg, in dem silberglänzende Waldrebendolden mit rotleuchtenden Hagebutten sich verspinnen, und plötzlich über den Kronen von zwei mächtigen Linden ein dunkler Turm: Schloß Schweigen.

»Rosmarie, freu dich, das ist Schweigen!«

»Wie seltsam,« sagt Mama, »das sieht man ja gar nicht, bis man daran ist.«

»Darum steht es noch. Es ist im Dreißigjährigen Krieg wohl gar nicht gefunden worden.«

»Gott, wie still,« ruft die Fürstin, »heißt es darum Schweigen?« Sie sind ausgestiegen vor dem Försterhaus, das so freundlich am Eingang neben den beiden Linden steht. Über die innere Umwallung schaut hoch und finster in seinem grünen dichten Efeumantel der Palas hernieder und der düster schwarze Bergfried mit Mantel und Wehrgang. Unter den Linden rauscht und murmelt ein Brünnlein, und wie nun der Wagen hinuntergefahren ist zu den Ställen, so ist sein leises Plätscherlied der einzige Laut in der verzauberten Stille. Von der runden Umwallung der Linde aus sieht man auf herbstbunte Waldberge, ein Habicht kreist über der tiefen Klinge, aus dem Gärtlein an der efeuumsponnenen Mauer weht ein leiser Resedaduft. Der Fürst hat seine Tochter an die Hand genommen und zieht einen silbernen Becher aus einem Etui. Den füllt er an dem Brünnlein und sagt:

»Trink, Rosmarie, das muß man hier tun.«

Seelchen sieht zu ihrem Vater auf und trinkt aus dem Becher und bittet ihm in der Stille ihres Herzens ab, daß sie von ihm gedacht, er könne keine Feste feiern.

»Das hat mein Vater auch getan, wie ich zum ersten Male mit ihm hier war. Er sagte: Aus dem Brünnlein muß man trinken, wenn man ein rechter Braunecker werden will.«

Die Fürstin war auch herbeigekommen, sie hob ihr feines Spitzenkleid in die Höhe, um den Brunnen war es ein wenig feucht.

»Sag, Fried, ist das nun Familiensimpelei, wie deine Schwester Helen sagt, oder ist ein Aberglaube dabei?«

»Helen ist ein pietätloses Frauenzimmer und sollte ihre Zunge mehr im Zaum halten. Ein Aberglaube ... ich wüßte nicht, eine Geschichte soll es geben von einem Braunecker, einem Brunnen und einer Fee, ich weiß sie leider nicht. Darf ich dir übrigens anbieten?«

Aber die Fürstin hat kein Verlangen nach kaltem Wasser, sondern hofft auf einen Tee in dem verwunschenen Schloß da oben ... »Wenn eure Andacht beendigt ist, natürlich: Rosmarie sieht aus, als wenn sie in der Kirche wäre.« »Sie ist beendet. Rosmarie, hier hast du noch einen Lindenzweig zu deinem Ahorn.«

»Gehört das auch zum Zeremoniell? Gott, ist die Kleine feierlich, ein Glück, daß sie nicht ein Junge ist, sie müßte Pastor werden!«

Es geht eine Treppe hinauf zwischen Efeuwänden zum inneren Schloßhof mit Palas und Bergfried. Eine hohe Pforte, über der ein mächtiges in Stein gehauenes Wappen mit der Jahreszahl 1534 hängt. Eine düstere Halle mit geschnitzten Hirschköpfen mit riesigen Geweihen an hölzernen Säulen. Die Fürstin schauert ein wenig zusammen.

»Hu, wie riecht es da nach Geistern! Fried, ich bin überzeugt, daß es hier spukt, am hellichten Tage sogar. Du hast mir gar nicht gesagt, daß Schweigen ein solches Spuknest sei ... Du willst doch nicht behaupten, daß man in dieser Luft leben könne, ein paar Tage lang.«

Der Fürst sagt etwas verlegen: »Nun ja, ein wenig altmodisch riecht es ja, nach unbewohnten Räumen ... Vielleicht lüftet die Försterin nicht genug oder wird das Efeugespinst zu dicht. Oben wird es besser, du wirst sehen.«

»Diese Hirschköpfe überall mit den glotzenden Glasaugen, die Treppenfensterplätze,« klagt die Fürstin, »es ist ein Gespensterschloß aus einem englischen Roman.«

»Daß dir die Geweihe nicht gefallen! Sieh, an jedem Schildchen die Namen, sie sind alle in unsern Wäldern geschossen worden. Sieh den Siebzehnender! Und ich bin an einem guten Rehbock froh. Den schoß mein Vater; da war er, laß sehen, fünfzehn Jahre alt ... Da mag er eine Freude gehabt haben! Und nun die Scherereien um die paar Böcke, – unsere Urenkel, wenn die sich einmal amüsieren wollen, müssen auf die Rattenjagd gehen.«

Die Fürstin biegt sich über die Treppe und ruft: »Da seid doch ihr Herren schuld! Mir sollten Anno 48 die Bauern gekommen sein und mir meinen Sport verdorben haben, auf die Ratten käme ich noch lange nicht!« Oben öffnen sich altmodisch trauliche Stuben, die mit schönen Rokoko- und Empiremöbeln eingerichtet sind. Die spindeligen Empiretischchen sehen ein wenig sonderbar neben den uralten schwarzen Öfen aus. Und die Tapeten sind mit fürchterlichen braunen Quadratmustern bedeckt, die man nicht ansehen kann, ohne das Zählen zu bekommen. Die Fürstin kann nicht begreifen, was an diesen Zimmern, an deren Fenstern blau-weiße gestärkte Vorhänge sind, sein soll! Die gräßlichen Tapeten, die Ungeheuer von Öfen, die alten rauhen Fußböden! Selbst für den kleinen Erker, dessen Fenster genau nach Morgen und Abend orientiert sind und ein so liebliches Farbenspiel durch die Efeuranken hindurch versprechen, kann sie sich durchaus nicht begeistern. Der Lehnstuhl, der darin steht, ist steif und das eingelegte Tischchen davor wackelig.

Und sie fühlt deutlich, daß der Fürst etwas von ihr erwartet! Rührung oder Bewunderung? Er sieht sie eigentümlich an, und nun nehmen die Augen dieser wunderlichen Kleinen fast den gleichen Ausdruck an, daß Vater und Tochter sich plötzlich ähnlich sehen.

Dann sagt der Fürst leicht verlegen: »Ich kann natürlich nicht erwarten, daß Schloß Schweigen dir irgend etwas sagt ... Für uns Braunecker ist Schloß Schweigen nicht ein Schloß wie die andern! Es hängen allerhand alte Sagen daran ... Schon der seltsame Name ... Von Schweigen her soll uns unser Glück gekommen sein ...«

Die Fürstin gähnt höflich durch die Nase ...

Seelchens Augen haben sich groß und strahlend geöffnet: »Sind sie hier gewesen, Vater, all die Leute, die jetzt nur noch in ihren Bildern leben, der Herr mit dem Schwert und die schöne Frau mit dem Schmuck wie fallende Blutstropfen, und das blasse Bübchen mit dem Vogel und dem kleinen Schwert an der silbernen Rosenkette! Sind sie hier gewesen, Vater ... und haben sie das Glück herübergebracht ... und warum heißt's Schweigen, und halten die blauen Männlein alle den Finger an die Lippen? Warum muß man schweigen! Hat man Glück, wenn man schweigt?«

»Für kleine Mädchen wird es immer geraten sein, wenn sie nicht so viel reden,« sagt die Fürstin mit so scharfer Stimme, wie sie bisher weder Vater noch Tochter von ihr vernommen haben.

Beide sehen erschrocken nach ihr ... Ihre Stimme klingt so seltsam in den alten Zimmern, die niemandem geöffnet einen leichten Hall forttragen. »Dieser Familiengötze,« denkt die junge Frau, die immer nur in Stadtvillen gewohnt hat, da ihr Vater der Nebenlinie seines Hauses angehörte. Alles hier ist ihr fremd und zuwider. »Wie kann man sich so haben um geschmacklose Stuben,« und sie sieht den seltsamen abweisenden Blick aus den Augen der beiden, der macht sie noch ärgerlicher ...

Und was hat das Kind. Das ist ganz schneeblaß und hat fast schwarze Augen bekommen, steht auf der Schwelle, als wollte es im nächsten Augenblick umfallen.

»Aber Rosmarie, du wirst dich doch nicht fürchten? Gott, ist das Kind ängstlich, es riecht doch nur muffig hier!«

Der Fürst runzelt die Stirne ... es war ein Leichtsinn, Frau von Hardenstein nicht mitzunehmen; wenn irgend etwas geschieht, weiß sich niemand zu helfen. Er zieht sie ins Zimmer herein.

»Komm, Rosmarie, Tee trinken.« Das Seelchen läßt sich fortziehen, es tritt ganz leise auf den Zehenspitzen, als fürchte es jemand zu wecken. –

Man trinkt Tee aus alten vergoldeten Täßchen. Diener sind keine da, hier bedienen sich die Herrschaften immer selbst, das ist so Sitte. Auch nach seiner Milch ist das Kind bläßlich und spricht kein Sterbenswörtchen, aber sie hat doch etwas gegessen, und der Fürst beruhigt sich wieder. Und er versucht, seine junge Gattin etwas mit der Atmosphäre von Schweigen zu versöhnen und erzählt ihr von seiner ersten Jagd hier, noch mit Vater und Großvater, und wie sie übernachteten und niemals Zeit hatten, sich irgend welchen Geistern zu widmen. »Abends freute man sich auf den Morgen und erzählte sich unendlich schöne Gauls- und Hundegeschichten; im Morgengrauen stand der Jäger vor der Tür und klopfte, und man fiel aus den steinharten Betten heraus, noch ganz schlaftrunken.« Aber die Fürstin ist durchaus nicht versöhnt.

»Man muß vollständig ohne Geruchsnerven sein, wenn man hier hausen kann, und ich bitte dich, Fried, diese Tapeten! Und diese Spiegel! Waren die Damen früher so wenig eitel, daß sie solche Spiegel duldeten?«

Da erhebt sich das Seelchen und geht mit zagen Schritten, die niemand, beileibe niemand aufwecken wollen, zur Tür und fragt: »Papa, darf ich jetzt das Zimmer sehen, wo das blaue Männlein von der Decke hängt?«

»Was meinst du, Rosmarie?«

»Das Männlein, das so macht!« und sie hielt den Finger an die Lippen und lächelte, als wenn sie jemand Schweigen gebiete.

»Das gibt es hier doch gar nicht.«

»Doch, Papa, wir wollen's suchen,« und sie zieht ihn mit sich fort, aber immer auf den Zehen, leise, leise ... Sie gehen durch alle Zimmer. Die Fürstin ist zurückgeblieben, sie hat herzlich genug von alten muffigen, geschmacklosen Stuben. Sie zündet sich eine Zigarette an und probiert Stühle und Spiegel. Vater und Tochter gehen durch alle Stuben, und der Fürst zeigt seiner Tochter die Bilder, lauter Jagdstücke in alten Kupferstichen und schlechten Ölgemälden von merkwürdigen Hirschen, Ebern und Hunden. Aber das blaue Männlein ist nicht da. Nicht einmal in der letzten Stube, wo das große Himmelbett steht. Das hat seidene Vorhänge, die bedeckt sind mit den feinsten Blumenstickereien. In den Falten an den geschützten Stellen glühen noch die Farben. Fleißige Hände müssen jahrelang daran gearbeitet haben. Unter dem prachtvollen Betthimmel steht ein altes breites, niederes Bett aus gestrichenem Tannenholz.

»Sieh, da habe ich manche kurze Nacht mit meinem Vater geschlafen, hart war's, graniten. Aber ich durfte in meinem Pennal nur daran denken, so kamen mir schier die Tränen, ein so großer Junge wie ich war.«

Sie sagt kläglich: »Aber, Papa, warum haben sie das kleine blaue Männlein weggetan?«

»Sei doch nicht so hartnäckig, Rosmarie, du hörst doch, hier war niemals ein blaues Männlein, es ist alles unverändert geblieben, solange ich denken kann, und wehe dem, der mir bei meinen Lebzeiten hier etwas verdürbe. Drüben kann man den Neuerungen nicht entgehen, aber hier in dem Waldwinkel will man sein altes Zeug behalten,« grollte der Fürst.

»Aber Papa, es hing doch da, eh wir hereinkamen.«

»Rosmarie, red' keinen Unsinn, kann man denn durch Türen sehen, und in welches Mausloch soll sich das blaue Männchen verkrochen haben!«

»Es ist aber doch nicht da,« sagt sie sehr kläglich.

»Und war nie da. Wer hat dir denn davon erzählt?«

»Niemand, ich weiß es doch.«

»Jetzt will ich nichts mehr davon hören,« sagt der Fürst streng, »und laß das Flüstern und auf den Zehen gehen.«

»Aber es heißt doch Schweigen.«

»Ach, das hat schon Jahrhunderte so geheißen, hier war man oft laut genug.«

»Ja, fühlst du denn nicht ...«

»Rosmarie, du führst dich heute auf! Nun warst du so lange vernünftig, daß man sich freuen konnte – muß mir nun der schöne Tag verdorben sein!«

Seelchen kommen die Tränen, es schleicht sich zu dem Bette hin und greift zaghaft nach dem wunderbaren Vorhang und küßt die seidenen Blumen und wischt sich verstohlen die Augen daran ab. Der Fürst sieht ihr mit finsterer Stirne zu. Nun ist sie gerade wieder wie früher. – Und er geht ärgerlich hinaus, das Kind auf den Zehen hinter ihm drein. Es wendet noch einmal das blasse Gesichtchen nach dem Bett und suchend nach der Decke, als müßte das blaue Männlein sich erbarmen und plötzlich aus der Decke brechen und wieder da hängen, und halb warnend, halb lächelnd, auf die Lippen deuten. Aber die Decke bleibt weiß, und Papa ist ärgerlich, und Mama wird immer vergnügter, je ärgerlicher Papa ist. Dann fährt man nach Hause; der Wagen wird geschlossen, weil es kühl ist. Armer Papa, er kann doch keine Feste feiern.


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