Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Sechzehntes Kapitel: Der Pflaumenkerl

Unter den Linden in Berlin drängte und schob sich die hastige Menschheit. Die Linden streckten kahle dürre Zweige in den grauen Himmel, von dem leise Schneeflocken herabkamen. Wenn sie auf den Boden fielen, zergingen die glänzenden Sternchen und wurden zu einer grauen schmutzigen Masse, die viele Füße zertraten. Eine bunte Menge ist es, die da vorübereilt, und jeder Augenblick bringt neue Gruppen vor das Auge. Die Menschen tauchen auf und verschwinden wieder, und wieder neue kommen, wie das Gestiebe vom grauen Himmel. Es sind die Stunden, wo die elegante Welt Einkäufe macht; jetzt zur Weihnachtszeit trägt fast jedermann irgendein, wenn auch allerkleinstes Paket. Elegante Wagen schieben sich nebeneinander, Taxameter, fauchende Autos zittern und pulsieren vor den Juwelierläden; dazwischen fliegen kleine Zeitungsverkäufer, Apfelsinenhändler, und da ein kleines braunes Kerlchen mit dunkeln blitzenden Augen, das eben allgewandt dem Blick eines Polizisten zu entgehen bestrebt ist. Es ist wohl aus dem Süden verschlagen, das Kind, und es trägt in dieser eleganten Prachtstraße seinen heimatlichen Weihnachtskram feil. Schwarze Pflaumenkerle, auf Hölzchen gespießte getrocknete Pflaumen, wie kleine Schornsteinfeger. Es schaut mit spähendem Blick an den Herrn und Damen hinauf und lacht dazu aufmunternd mit seinen Schwarzaugen. Eben ist ja sein Feind, der Polizist, mit einem Streit zwischen einem aufgeregten Herrn und einem nicht ganz alkoholfreien Kutscher beschäftigt.

»Zwetschgenkerle, echte schwarze Krambusse,« ruft er. Da leuchten seine Augen auf, ein sehr großer Herr, ein Riese, wie's dem Büblein vorkommt, lacht ihn an und sagt: »Gib mir deinen schönsten Krambus, aber auf zwei gleichen Beinen muß er stehen.«

»Jawohl, Herr Baron,« sagt der kleine Geschäftsmann, in dem wohl ein Menschenkenner schlummert, und, oh, der aufregende Augenblick, der große Herr zieht sein Portemonnaie und hat eine blanke Mark in der Hand.

»Das andere kannst du behalten.« Ein elegantes Coupé ist vorbeigefahren und hält dort, wo um den aufgeregten Herrn und den nicht alkoholfreien Kutscher sich bereits ein Menschenring gebildet hat. Eine junge Dame entsteigt dem Wagen und drängt sich in fliegender Eile durch die Menge. Eben ist der Krambus in ein Stück Papier eingeschlagen in der Paletottasche des Herrn verschwunden, da legt sich plötzlich eine schmale Hand im grauen Handschuh auf den Arm des Herrn.

»O Harro, lieber Harro, endlich, endlich!« halb schluchzend, halb lachend. Das Interesse der vorüberströmenden Menschheit wendet sich nun schier peinlich den beiden hohen Gestalten zu, die da auf offener Straße ein Wiedersehen feiern, wobei der Herr fast sprachlos vor Überraschung ist.

»Prinzessin, verzeihen Sie, ich erkannte Sie nicht, Durchlaucht sind doch nicht ganz allein.«

»Ja – doch!«

»Ich bitte Sie, die Leute alle.«

»Das sind gar keine Menschen, das sind nur Schemen und Schatten. Sie gehen immer über diese Straßen, sie gehen einen nichts an, man spricht nie mit ihnen ... O Harro, hast du mich denn nicht gekannt?«

»Prinzessin, ich sehe dort Ihren Wagen, darf ich Sie dahin begleiten ...«

»Und dann soll ich Dich nie wieder sehen, – nein, was gehen uns die Schemen an. – Ich muß dich sprechen. All die Jahre, – ist denn kein Ort hier in der Nähe –«

Harro hat sie an den Wagen gebracht, es sind jetzt sehr viel Schemen um den Weg. Der Lakai öffnet den Schlag. Rosmarie steht davor, fast mit blitzenden Augen.

»So bist du, Harro!«

Da flüstert er ihr etwas zu, sie nickt und steigt in den Wagen und fährt fort; es kommen wieder neue Schemen und das Gestiebe vom Himmel wird dichter, und der graue Schmutz auf dem Boden klebriger und feuchter. Harro hat sich auch in einen Wagen geworfen und fährt, so schnell es geht, dem Coupé nach. Am Dom entläßt Harro den Kutscher und eilt dann gegen den Wind über den ungemütlichsten Platz Europas, wo alle häßlichen Winde sich ein Rendezvous zu geben pflegen, nach der Nationalgalerie. Das Kunstbedürfnis der Berliner und der Onkels vom Lande ist heute gemäßigt. Die Säle sind fast leer, nur eine Gruppe junger Damen umgibt eine Lehrerin, die eben über die Insel der Seligen doziert.

»Beachten Sie bitte dieses einzigartige ...« Harro entflieht eine Treppe hinauf, und da, unter der Apotheose Kaiser Wilhelms, ausgerechnet unter diesem Riesenschmarren, auf der runden Bank allein, sitzt die junge Dame mit des Seelchens Augen und Stimme und Goldhaar. Sie erhebt sich mit einem leisen Freudenschrei –. So ganz ohne jede Fremdheit und junge Damenhaftigkeit, als flöge das Seelchen den Prinzessinnengang hinunter, so leuchten die grauen Augen.

»O Harro, du bist doch gekommen und hast mich nicht umsonst warten lassen.«

Ein schläfriger blauer Museumsdiener pendelt langsam vorbei; als er sich die beiden Besucher betrachtet hat, verschwindet er wieder in dem nächsten Saal. Stelldichein sieht er zu häufig, als daß sie noch ein Interesse für ihn hätten. Harro beugt sich herab und küßt die schlanke Hand.

»Durchlaucht, ich bin in größter Sorge, daß Ihnen irgend etwas Unangenehmes erwächst, Bekannte kommen, aber ich wollte nicht – Rosmarie, weinen Sie nicht ... ich bitte Sie, soll ich gehen?«

»O nein, Harro, nein, und so lange, wie ich dich nicht gesehen habe – o Harro, warum hast du nicht einen einzigen Brief von mir beantwortet? Auch nicht den letzten, vor vierzehn Tagen!«

»Vor vierzehn Tagen? ...« So lange hat sie noch geschrieben. »Ich habe nie einen Brief bekommen.«

»Nie, – alle meine Briefe ...? Du hast gedacht, ich hätte dich ganz vergessen!«

»Nein, das habe ich nie gedacht. Nur, es sei Ihnen nicht gestattet, ich konnte es auch gar nicht erwarten ...«

»Harro, dein neues Haus steigt aus dem Walde auf. Es ist das schönste im ganzen Land. O Harro, ich möchte hundert Dinge von dir wissen. Und daß du mich gar nicht gleich kanntest, weil ich häßlich geworden bin und so überlang neben allen Leuten, nur neben dir nicht.«

»Häßlich,« sagt der lange Thorsteiner, »o Gott, häßlich!«

Und Rosmarie sieht plötzlich erschrocken und wie aus einem Traume erwachend zu ihm auf. Eine langsame brennende Röte steigt in ihre Wangen und ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen. Die Augen des Seelchens, die sanften, träumerischen Augen, die noch so feucht vom Kinderbrunnen sind. Harro ergreift die feine Hand: »Ich habe Ihnen noch nicht gedankt. Es war so gütig von Ihnen, so ganz wie das Seelchen ... Ich bin seitdem recht einsam gewesen.«

»Nicht so einsam wie ich,« sagte die Prinzessin langsam. »Nein, es ist da die große Arbeit, die Freude daran und der Erfolg – ich habe davon gelesen. Ich lese alles, auch gesehen habe ich die drei Bäume bei Schulte!«

Er lächelt. »Und die hohe Kritik, darf ich noch darum bitten ...«

Rosmarie antwortet ganz ernsthaft: »Es schien mir, als sei der Himmel zu schwer, zu drohend die Wolken, und dazu das Land zu lächelnd, als wäre das Bild aus zwei Stimmungen gemalt, aber vielleicht täusche ich mich.«

»So wenig als früher, Rosmarie, du hast immer noch das zweite Gesicht. – So ganz hat mich nie mehr etwas befriedigt, seit wir nicht mehr zusammen die Bilder malen ... ich könnte dir da erzählen, –« er stockt, es ist ihm ja wieder das alte Du entfahren, das darf nicht mehr sein, das ist vorüber. – Und Rosmarie hat wie immer den leisesten Schatten über seinem Wesen sofort gefühlt.

Sie schweigen, und da drüben pendelt der blaue Diener herum, als treibe ihn ein Argwohn. Einen Augenblick erhebt sie wieder fast scheu die Augen zu ihm auf, ihr Blick gleitet an ihm herunter und trifft den schwarzen Mann und lächelt ein wenig.

»Ich sah dich bei dem Knaben stehen, sonst hätte ich dich nicht mehr erreicht unter den vielen Schemen. Gib ihn mir, Harro, den schwarzen Mann, daß ich auch etwas zu Weihnachten bekomme!« –

Er zieht ihn aus der Tasche und drückt ihn zurecht, und das schwarze Scheusälchen wird in dem weichen Atlasfutter des Sealskinmuffes verborgen, der ihr an einer goldenen Kette vom Halse hängt. Dabei hat er gesehen, daß sie an den schönsten Füßen noch Herrn Wurmhabers Schuhe trägt. Darum dieser Gang, wie nur Königinnen durch Traumgärten schreiten können. Die goldene Krone trägt sie auch. Unter dem Sealskinbarett quillt es hervor in weichen großen Wogen und über dem Ohr hängt frei eine Locke. Eine heiße Welle fliegt über sein Herz, er erhebt sich plötzlich:

»Rosmarie, ich bin in Sorge um Sie, Sie werden gewiß erwartet, und wenn Sie jemand hier so allein sähe. – Es sind leider nicht nur Schemen, es gibt auch böse, geschäftige Zungen.«

Rosmarie erhebt sich langsam. Sie gibt ihm ihre Hand.

»So leb wohl, Harro ... Wann seh ich dich wieder – in Brauneck?« Harro küßt schweigend die Hand, die durch den Handschuh so kalt ist. Es ist, als schnüre ihm etwas den Hals zu.

»Also nicht auf Wiedersehen? Harro, doch! Auf den Wiesen, wo die gelben Blumen stehen und das bittere Wasser des Vergessens fließt. Dort. Auch ich traue mich nicht mehr in die seligen Gärten hinein. Auf Wiedersehen also – vor den Toren. Vielleicht kommt doch ein verlorener Ton heraus. – Leb wohl.«

Sie geht an ihm vorbei hinunter, langsam, wie Königinnen schreiten. –

»O du ... Königin von Thule,« flüstert er ... »O Gott ... einen Augenblick noch. Wenn du geblieben wärest... Gott sei Dank, daß es vorbei ist.« – – –

Der Kutscher Bernbacher aus Brauneck, der so tadellos neben dem Lakaien auf dem Bock sitzt und so sicher das Coupé durch das Gewirr der Autos und Wagen lenkt, bewegt doch seine Lippen dabei. Er brummt: »Es gibt Kerls, die dienen und das Maul nicht halten können ... aus denen wird im Leben nichts. Bagage! Es gibt eine leere Geschirrkammer und eine lange Peitsche und nirgends ein Zeuge. Und kann einer auf die Polizei laufen, die gute Stelle hat er verloren und die Empfehlung von der Herrschaft. – Wir halten auf Ordnung in Brauneck ... Also ein junger Kerl weiß nichts. Der Herr kann groß gewesen sein, er kann auch klein gewesen sein; ist die Prinzessin ausgestiegen oder nicht –. Er hat die Pferde gehalten wegen der dreimal verfluchten Autos ... Br!« Der Wagen hält, der Lakai reißt den Schlag auf, und die Prinzessin steigt die Treppe hinauf und geht in Hut und Mantel in ihres Vaters Zimmer. Der sitzt vor seinem Diplomatenschreibtisch, der mit allerhand Papieren beladen ist. Er sieht erstaunt auf.

»Du kommst von einem Ausgang, ist dir etwas?«

»Ich habe Harro Thorstein wieder gesehen.« Dem Fürsten steigt eine dunkle Röte auf die Stirne.

»War er hier?«

»Nein, er wäre wohl nicht hierher gekommen, ich mußte mit ihm sprechen, ich bat ihn, in die Nationalgalerie zu kommen. Und er war so gut und kam auch.«

»Dies muß ich für im höchsten Grade taktlos von dem Grafen halten, dich zu treffen wie eine Konfektionsmamsell in einer Galerie.«

»Was konnte er tun, wenn ich ihn bat, – mit Tränen gebeten habe.«

»So trifft der Vorwurf dich. Es kann dich jemand gesehen haben, es ist heillos, nur daran zu denken. Du hast dich kompromittiert, du hast alle Mädchenhaftigkeit, deine ganze Erziehung, – Gott, ich weiß ja gar nicht, was ich sagen soll, ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Wo ist denn Miß Granger?«

»Ich habe Miß Granger in die englische Kirche gebracht, es ist heute Saintsday, und bin dann allein die Linden hinuntergefahren ...«

»Ich habe dir vertraut, es kam mir kein Gedanke, daß du dies kurze Alleinsein mißbrauchen könntest. Du weißt doch, daß ein junges Mädchen nicht mit einem Herrn allein in eine Galerie geht!«

»Harro ist doch nicht irgend ein Herr, sondern mein alter Freund.«

»Alt, – er ist keine fünfunddreißig Jahre alt!«

»Daß ich etwas tue, was Mama nicht recht ist und vielleicht auch dir nicht recht, fühlte ich wohl, darum komme ich jetzt zu dir und sage es dir. Bereuen kann ich es nicht, Vater. Wo sind alle meine Briefe, die ich an Harro geschrieben habe und von denen er keinen bekommen hat?«

Der Fürst riß eine dunkle Kassette hervor; ein Druck auf das Schloß, und sie sprang auf. Sie war bis zum Rande gefüllt mit sorgfältig kouvertierten Briefen, alle uneröffnet.

»Glaubst du denn, ich werde das dulden? Nachdem ich eingesehen habe, und auch Mama, die es als Frau besser verstehen muß, mich aufgeklärt hat, welcher Art deine Gefühle für den Thorsteiner sind. Du wirst mir einst dankbar sein. Damals wollte ich keine noch schlimmere Katastrophe herbeiführen, da du ohnedies übermäßig erregt warst, und ich hoffte, du werdest dich mit der Zeit beruhigen und an der einseitigen Korrespondenz genug bekommen. Du siehst, daß ich nichts geöffnet habe. Und Graf Thorstein hat dir nie zu schreiben versucht. Für ihn war die ganze Periode abgeschlossen, er hat sich auch nie mehr sehen lassen. Was ich ihm auch immer hoch angerechnet habe.«

»Er mußte doch denken, wenn er nie mehr etwas von mir hörte, daß ich ihn vergessen und alles, was er mir Gutes und Schönes getan. Aber nun weiß er es ja, und ich bereue es nicht. Und du sollst ihm keinen Vorwurf machen und ihn nicht taktlos schelten ... er konnte nicht anders ... er mußte kommen. Und es war ihm nicht recht und er hatte beständig Sorge, es möchte uns jemand sehen, und es könnte mir daraus ein Schaden werden. Ich verstand es gar nicht, warum er so seltsam war. Du und Mama hätten dabei sein können und jedes Wort hören, das wir gesprochen haben, Vater, und er fürchtete sich vor mir. Ich sah es deutlich, er fürchtete sich. Bin ich denn zum Fürchten! Und er wollte nicht auf Wiedersehen sagen, so sehr ich ihn bat, er wollte nicht. Nur auf den Asphodeloswiesen im andern Land – du brauchst dich darum auch nicht zu sorgen, was ich tun werde, und kannst mir Tag und Nacht Miß Granger an die Fersen heften, oder nicht, – es ist gleich. Ich werde ihm auch nicht mehr schreiben, das ist nun auch vorüber. Das ist alles vorüber.«

Rosmarie glitt aus dem Zimmer mit ihren langsamen Schritten, wie Königinnen schreiten in Traumgärten. Der Fürst ging auf und ab und suchte seine Erregung zu bemeistern. Schließlich war ja jetzt alles viel klarer und besser als zuvor. Rosmarie war noch nicht eingeführt worden, es war wohl möglich, daß sie niemand erkannt hatte. Und der Thorsteiner hatte ihr wohl zu verstehen gegeben, daß die alte Kinderfreundschaft ein Ende habe, und sie hatte es verstanden. Es war also kein Grund vorhanden, sich jetzt noch über die Sache aufzuregen. Charlotte, dachte er, es ist besser, sie erfährt nichts davon. Takt ist nicht ihre Starke. Und Rosmarie, sie beruhigt sich, wohl am ehesten jetzt. Irgendeinen Fetzen Stolz wird sie doch haben. Nun, den raffte sie wohl zusammen, und später kann sie über diese reichlich sentimentale Kinderfreundschaft lächeln.

Alles das sagte er sich schön vor und beruhigte sich damit und kehrte wieder zu seinen Papieren zurück. Aber eine leise Angst bleibt. Rosmarie ist eben ein Sorgenkind gewesen, da haftet einem die Unruhe noch an. –

An Rosmaries Wesen ist aber nichts Besonderes zu bemerken. Sie geht am Abend mit Mama ins Theater, den nächsten Tag in eine große Blumenausstellung. Der Fürst ist erst ganz beruhigt, als ihm sein Diener, den er ausgeschickt hat, um den Grafen Thorstein aufzusuchen, da er ihn eventuell sprechen wolle, die Nachricht bringt, ein Graf Thorstein sei abgereist, unbekannt wohin. –

Nun ist also alles in Ordnung, und als er am andern Morgen Rosmarie freundlich und lieblich an seinem Frühstückstisch findet und sie ihm mit gewohnter Sorgfalt seinen Tee und seine Eier bereitet, gestattet er sich sogar eine extra gute Laune. Die Fürstin erscheint nie zum Frühstück, ihre Toilette nimmt immer längere Zeit in Anspruch. So ist diese Stunde sehr gemütlich. Rosmarie ist eine gute Tochter, findet er, sie ist nicht schlechter Laune, sie hat keine verweinten Augen, sie klagt nicht die ganze Welt an, weil ihr etwas nicht nach Wunsch gegangen ist. Sie hat alles für ihn bereit, einen Morgenkuß, ein liebevolles Eingehen auf seine kleinsten Wünsche. Wenn er bedenkt, welche Szene sie hätte machen können – Serenissimus ist ein großer Feind von Szenen –, so findet er, daß er mit Recht gerührt ist.

»Rosmarie, hast du auch alle deine Weihnachtswünsche laut werden lassen? Weißt du, erraten kann ich nicht so gut. Das ist bei Damen immer unsäglich schwierig. Oder möchtest du selbst jemand eine Freude machen? Gib mir dein Portemonnaie, ich will dir etwas hineinstecken – vielleicht macht es dir doch Spaß, etwas selbst auszuwählen.«

»Du bist sehr gut, Vater, ich danke dir. Ich gehe heute mit Fräulein Bergmann aus, Miß Granger hat Rheumatismus, und besorge nur die Dinge, die ich nach Brauneck schicken will.«

»Ob du es nun für dich verwendest oder für andere, hier mein Herz, nimm und kaufe dir ein bißchen Freude damit, wenn du kannst.«

»Oh, das werd ich tun, Vater, du bist sehr gut, ich danke dir, ich bringe dir auch einen Veilchenstrauß mit.«

»Nimmst du das Coupé?«

»Nein, ich gehe, Mama hat es nicht gern, wenn ich morgens das Coupé nehme, hie und da braucht es die Friseurin, wenn sie gerade Eile hat.«

»Dies ist ausgezeichnet, eine reizende Einrichtung. Meine Tochter geht zu Fuß, weil die Friseurin ein Coupé braucht. Was ist das für ein kostbares Frauenzimmer, daß sie nicht in der Elektrischen fahren kann?«

»O Vater, dazu ist sie viel zu vornehm, das dürfte man ihr nicht anbieten. Und ich gehe gerne. So früh sind auch die Läden nicht so voll, und es geht schneller.«

Rosmarie bietet ihrem Vater ihre weiche Rosenwange hin. »Also ich gehe mir ein bißchen Freude kaufen, das hast du so lieb gesagt.«

»Gut, Rosmarie, und vergiß den Veilchenstrauß nicht!«

Rosmarie mit Fräulein Bergmann, der vielgeplagten Kammerfrau ihrer Mutter, geht die Friedrichstraße hinunter, die ja zu jeder Tageszeit ein anderes Bild bietet. Jetzt gehen Schulkinder und eilige Lehrerinnen und ein verspätetes Ladenfräulein, eine Hausfrau, die in die Markthallen geht. Das ist die einzige Tageszeit, wo Rosmarie sich auf die Straßen wagt. Man sieht zu viel nach ihr, selbst in dem menschenreichen Berlin. Ihre hohe, schlanke Gestalt, ihr Gang, ihr leuchtendes Haar, sie ist auffallend, mag sie noch so einfach und dunkel gekleidet sein, wie jetzt in dem blauen Tuchkleid und Sealskinjackett und Barett. Am schönsten Blumenladen machen sie halt, und Rosmarie kauft zwei wunderschöne Sträuße von herrlich duftenden Nizzaveilchen. Einen Strauß bekommt in Papier eingeschlagen Fräulein Bergmann zu tragen, den andern steckt sie in das Jackett. Es ist mild heute, die Blumen werden's schon aushalten. Einige Läden werden besucht, und hoffentlich werden die Braunecker sich freuen, der Herr Domänenrat, Fräulein Berger und die andern alle.

Da ist ein großer Laden mit Kunstgegenständen aller Art, der kommt zuletzt. Nein, vorher noch der kleine Eisenladen. Rosmarie braucht eine kleine Schere. Fräulein Bergmann muß sich verwundern, Scheren gibt's doch im Überfluß. Aber auch die kleine Schere wird gekauft und wandert in Rosmaries Muff.

Nun kommt die Kunst. Da gibt es eine Menge Dinge, schöne und auch häßliche. Letztere in der Überzahl. Eine freundliche, blasse, nicht zudringliche Verkäuferin ist da, deren Augen sehnsüchtig auf Rosmaries Veilchen fallen. »Fräulein Bergmann, das ist ein schöner Laden, ich glaube, hier finden wir alles, was wir brauchen. Und Fräulein Bergmann, ich glaube, Sie möchten sich auch gerne etwas aussuchen. Darf ich Ihnen das Goldstück dazu geben. Suchen Sie doch etwas für Ihren Bruder, der solche Freude an hübschen Dingen hat. Ich sehe mir einstweilen die Kristallsachen an.« Fräulein Bergmann strahlt. – »Ach wie freundlich, Durchlaucht, tausend Dank!« und sie wendet sich einem wunderbaren Trompeter von Säckingen als Zigarrenbehälter zu. Rosmarie beugt sich zu der blassen Verkäuferin vor und sagt schnell: »Geben Sie mir Papier, ich werde eine Adresse aufschreiben. Und die Kristallvase dort mit dem silbernen Fuß.« Ihre schönheitssicheren Augen haben sofort die einzige gute Form unter all den vielen herausgefunden. Sie schreibt die Adresse mit fliegender Hand.

»Können Sie mir das besorgen, kommt das noch an? ... Mit Eilboten! ...«

»Gewiß, gnädiges Fräulein.«

»Der Preis?«

Rosmarie muß ihr ganzes Portemonnaie ausleeren.

»Wollen Sie es mir besorgen, Fräulein, und dies hineintun?« –

Sie wendet sich um, an den Pfeilern sind schmale lange Spiegel, und vor dem einen hat sie etwas an ihrem Haar zu ordnen. Die Schere blitzt auf, die Locke, die an ihrem Ohr herunterhing, ist nicht mehr da. Den Veilchenstrauß nimmt sie von der Jacke und zerteilt ihn. Das Fräulein muß auf ihre schlanken Hände dabei sehen und auf die schönen, schönen Veilchen. Solche gab's hinterm Pfarrgarten, wo sie daheim war. Freilich nicht an Weihnachten. Und plötzlich hält sie die eine Hälfte der Veilchen in der Hand.

»Für Sie, Fräulein. Sie haben mich so freundlich bedient, und ich sah, daß Sie sich daran freuten.«

Das blasse Mädchen wird rot.

»Gnädiges Fräulein, ich weiß nicht, ich darf ...«

»Oh, Sie dürfen schon« –

Gibt es denn unter den vornehmen, den ganz vornehmen Leuten auch so freundliche Menschen? Gewiß, die blonde junge Dame muß von den allervornehmsten sein! Die Locke windet Rosmarie um die andere Hälfte der Veilchen und legt sie auf den Boden der Schale. Die Schale gibt einen tiefen, feinen und doch starken Ton von sich ... Ach wie schön! Wie der singende Brunnen.

»Einen Namen?« fragt die Verkäuferin.

»Nicht nötig.«

Freilich, wer das Goldgespinst sieht, wird auch wissen, von welchem Haupte es kam. Rosmarie wendet sich lächelnd zu Fräulein Bergmann, die umringt steht von einer Reihe Trompeter, Gretchen und Königin Luisen, und sich eben entschlossen hat.

»Und nun gehen wir, Fräulein Bergmann!«

»Durchlaucht sind fertig?«

»Ich fand nur eines, es wird geschickt.«

»Ach Durchlaucht, die schönen Veilchen. Verloren?«

»Es ist gut, daß ich noch einen Strauß habe, den habe ich dem Fürsten versprochen.« Und sie bringt ihm die Veilchen.

»Ich habe mir eine, nein zwei, nein drei Freuden gekauft.«

»Hast du, Rosmarie! So bin ich recht befriedigt von meiner Tochter. Geh nun zu Mama, ach, wenn man ihr auch Freuden kaufen könnte!«

Am Weihnachtsabend steht Rosmarie unter dem großen herrlichen Baum, der auf dem niederen Tischchen steht. Die Kerzen sind schon ausgelöscht. Der Fürst betrachtet ein neues Prachtwerk über alte Schlösser, das ihm Rosmarie herausgesucht hat. Die Fürstin blättert am Klavier neue Noten um, von denen sie hie und da einen Akkord anschlägt. Rosmarie nimmt von ihrem Platz das Etui, worin auf köstlichem Samt ihr Perlenkollier geruht hat. Sie trägt es schon, Perlen muß man ja immer tragen ... ihr Vater hat es ihr um den Hals gelegt.

An dem untersten Zweige der schönsten Weißtanne aus den Braunecker Wäldern – ach das einzige diesmal von dem geliebten Brauneck, – Mama hat es durchgesetzt, daß man hier blieb, – da hängt tiefverborgen über Rosmaries Platz ein schwarzer Pflaumenkerl. Den schneidet sie vorsichtig ab mit spitzem Scherchen und legt ihn auf den weißen Samt des Etuis. Er paßt gerade hinein und nimmt sich wunderlich genug aus in dem feinen Bett. Dann klappt sie das Etui wieder zu und setzt sich auf einen der tiefen Stühle unter dem Baum und legt ihren Kopf auf die Lehne, die Hände verschränkt sie darunter; Mama dürfte sie nicht so sitzen sehen, aber sie ist ja beschäftigt. Schon seit dem Thomastage, seit sie von Harro gegangen, hat sie einen wunderlichen Druck auf dem Herzen verspürt. Das wird heute stärker, schmerzhaft ist es nicht, nur sonderbar, so daß sie eigentlich immer ein wenig daran denken muß. »Wenn es noch stärker wird, – ja dann – dann flieg ich davon, wie ich es so oft als Kind geträumt habe,« denkt sie. – »Immer vom Fliegen träumte es mir, und heute nacht fliege ich gewiß wieder im Traum mit langen weichen Flügeln. Nun wird Harro wohl das Paket bekommen, ja er hat es schon, es ist so wunderlich, ich meine, ich sehe ihn ... O Gott, ich lerne noch das Fliegen ... Harro, so sitzest du da und starrst in die Schale, und die Veilchen sind noch frisch und, nein ... ich möchte doch nicht fliegen lernen, es bedrängt ...«

Der Fürst sitzt über dem Prachtwerk, er ist gerade an einem seiner eigenen Schlösser, er hört etwas wie einen leichten Fall, aber nichts mehr, und blättert weiter. Die Fürstin hat nun endlich ein Motiv gefunden, das ihr behagt, und beginnt es etwas zaghaft noch durchzuspielen. Es ist irgend eine Walzermelodie, sentimental, ein wenig banal, und ein gewisser Schwung darin, so wie sie es liebt, und das erklingt nun etwas fremdartig in den hohen, schönen Räumen mit dem ernsten Baum, den Rosmarie nach ihren Ideen geschmückt hat. – – –

In seiner alten Stube sitzt der Ruinengraf. Vor einer halben Stunde hat ihm durch den tiefen Schnee der Bote das Paket aus Berlin gebracht. Mit großer Sorgfalt und einigem Staunen über den ungenannten Absender hat er geöffnet. Da, aus der letzten Hülle schlägt ihm Veilchenduft entgegen, der bringt ihm ein leises Herzklopfen, – es kann doch nicht sein, da – die herrliche Schale auf dem Silberfuß, der so schön in seinen Verästelungen das blanke Kristall umspinnt. Schon aus der Form, die unter hundert anderen vielleicht dem Meister so vollkommen geglückt ist, daß sie wie ein Naturerzeugnis wirkt, – schon daran allein kann er die Hand erkennen, die das ausgewählt hat. Und da liegt im Grunde der Schale der Veilchenstrauß, umwunden von dem blassen Goldfaden ... Und da sitzt er davor und starrt und starrt, und es ist, als brennten sich ihm die feinen Formen ein. –

»Seelchen – so erwiderst du den grausamen Schlag, den grausamsten für dein warmes Herz, – damit, daß du mir noch Liebes tust. O Seelchen, wenn du noch irgendwo zu finden wärest, ich liefe bis ans Ende der Welt, bis ich dir gedankt hätte. Aber du bist nicht mehr zu finden, in deine seligen Gärten bist du gegangen, es ist eine fremde junge Fee, die deine Augen trägt und sagt, sie habe dein Herz. O du Königin von Thule! – O Gott, was hat der Ruinengraf mit dir zu schaffen? Fremde, junge, blasse Königin mit deiner goldenen Krone.« –

Horch, klang da nicht die Schale, ein Ton, fein und stark und süß, entschwebte er nicht dem geheimnisvollen Rund, und hebt sie sich nicht leise vom Tisch, als hübe sie wer in die Höhe – steht da nicht eine weiße, schlanke hohe Gestalt mit der goldenen Krone, und sehen ihn nicht über den Rand der Schale große, graue sanfte Augen an. – Und noch einmal klingt das Glas, fremder noch und feiner, ferner ... – Der Ruinengraf springt auf, daß sein Stuhl umstürzt, »Seelchen, o Königin.« Er ist allein in der großen düsteren Stube mit seiner Kristallschale und seinen Veilchen. »Was war das – habe ich geschlafen, fang ich an, Hirngespinste zu bekommen? Königin von Thule, oh, was kann ich dir denn sein? Was rufst du mich ... Oh, nur dein Narr kann ich sein, – dein Narr,« und der Thorsteiner legt seinen Kopf auf die Tischplatte neben seiner Schale und seine Schultern zucken so heftig, daß nun die Schale wohl tönen mag ...

»Was ist denn mit Rosmarie, ich glaube, sie ist unterm Baum eingeschlafen, sieh doch nach ihr! Wenn sie müde ist, soll sie zu Bett gehen,« ruft die Fürstin über den Flügel herüber.

Der Fürst legt seinen Band beiseite. Das ist wirklich hochinteressant ... »Das hast du gut gemacht, Rosmarie,« – er geht in das andere Zimmer. Rosmarie sitzt nicht auf ihrem Stuhl, nein ... da liegt sie, wie sie heruntergeglitten ist, schneeweiß mit halboffenen Augen unter dem Christbaum.

»Charlotte ... o Gott. Rosmarie – sie ist ohnmächtig – o komm doch.«

Die Fürstin kommt herein, dann kreischt sie auf: »Tot ist sie ... ich kann das nicht sehen – die Augen, – decke sie zu, die schrecklichen Augen ...« Der Vater hat sein Kind schon in den Armen.

»Unsinn, ich fühle das Herz, wie es schlägt, so hilf doch! Rufe den Leuten!« Die Fürstin geht rückwärts an die Türe und drückt auf die elektrische Leitung, dann sinkt sie auf den Diwan und verbirgt ihr Gesicht in die Kissen. »Ich kann das nicht mit ansehen, sie ist tot ... Oh, tragt sie fort – tragt sie fort.«

Es stürzt alles zusammen, man trägt Rosmarie auf ihr Bett. Dort liegt sie, nun hat sie die Augen geschlossen. Der Fürst hält ihre Hand. Gott sei Dank, man hört das schwache, aber regelmäßige Schlagen des Herzens. Weil seine zitternden Finger den Puls nicht mehr halten können, drückt er seine Lippen auf das blasse Handgelenk, so fühlt er den leisesten Schlag. Da kommt der Arzt, und Rosmarie schlägt wieder die Augen auf und flüstert:

»Heute bin ich geflogen, weit – aber es ist schwer, das Fliegen – es macht müde – es bedrängt.«

Rosmarie hat doch ein recht schwaches Herz. Man muß sie sehr schonen, sie ist viel zu schnell gewachsen, und es wird gut sein, wenn sie einen recht ruhigen Sommer auf dem Lande mit möglichst viel frischer Luft und möglichst wenig seelischen Erregungen, nicht zu viel Vergnügen oder Sport verbringt.


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