Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Zwanzigstes Kapitel: Von Königinnen.

Der Doktor und der Herr Geheimrat saßen bei ihrem gemeinsamen Frühstück in der kleinen Pension am Strande beisammen. Sie waren allein, die anderen Gäste noch nicht erschienen oder schon fertig. Nur der französische Kellner ging auf und ab. Draußen glänzte ein goldener Sonnenschein auf dem blauen Meere.

»Nun, ich habe nichts anderes erwartet, lieber Doktor, die Prinzessin ist in den besten Händen und gibt sich selbst alle Mühe,« begann der Professor.

Der Doktor klopfte sich ein Ei auf. »In der Medizin sind Sie eben doch Laie, Herr Geheimrat.« »Sie müssen doch mit dem Willen rechnen, der Seelenstimmung überhaupt.«

»Der Fürst hat übrigens schon depeschiert, daß er komme.«

»Sehen Sie, das wird auch gut getan haben, das leugnen Sie nun auch nicht.«

»Ach, hätten Sie den Aquili geholt, was für schöne Reden könnte er jetzt an den Herrn Papa halten ...«

Der junge Doktor verneigte sich gegen einen imaginären Fürsten. »Die besten Aussichten, Durchlaucht, nur eine Frage der Zeit bis zur völligen Genesung. – Herr Geheimrat, Sie haben so gute Zuversicht, Sie müssen mir das Geschäft abnehmen.«

»Bis wann kann der Fürst da sein?«

»Einen Tag und eine Nacht noch.«

»Die Engländerin, hat sie sich blicken lassen?«

»Ja, nach ihrem Kirchgang, den dürfte man ihr nicht nehmen, behauptete die Prinzessin. Ich horchte an der Türe, man muß manchmal horchen ... Sie versicherte, daß sie nur noch in der Religion Trost finde, über die plötzliche ...«

»Plötzlich ist gut.«

»Erkrankung der Prinzessin. Und daß es sicherlich mehr Wert habe, wenn sie ihre Knie beuge ... Die Kniebeuge hörte ich deutlich. Auch ihr Zustand schien mir einer Diagnose bedürftig. Ich möchte auf etwas schließen, was wir in Tübingen das heulende Elend nannten.«

»Und Sie werden wohl damit die Sache getroffen haben. Mit ihr ist nichts zu wollen.«

»Herr Geheimrat,« rief der Doktor mit plötzlicher Wärme, »wenn ich Sie nicht hätte! Ich bin Ihnen sehr dankbar. Und die Prinzeß hat einen Glauben an Sie. Der Freund, der geheimnisvoll wie aus der Versenkung auftauchte, – den möchte ich auch alle Stunden einmal verschreiben. Ich dachte zuerst: Es ist eine Liebesgeschichte, und die Sache kann hochdramatisch werden ... Ich überlegte mir schon: ›Vierter Akt, fünfte Szene, eintritt der hocherzürnte Vater: Treffe ich Sie hier, mein Herr, – wir sprechen uns nachher!‹ – Ich überlegte mir schon: in diesem Falle lade ich alles auf den Herrn Professor der Theologie, Geheimrat Schwarzen, ab. Ich habe niemals Lampen zwischen Löwen gestellt ...«

»Und nun haben Sie eingesehen, daß es keine Liebesgeschichte ist.«

»Wenn überhaupt, dann eine einseitige –«

»Es ist eine alte Freundschaft.«

»Der Graf ist doch nicht alt.«

»Aber die Prinzessin sehr jung.«

»Er versteht die Prinzessin zu behandeln. Ich komme mir dieser jungen Dame gegenüber beständig wie ein blöder Bauernjunge vor.«

»Warum schüchtert Sie eigentlich die Prinzessin so ein – das bin ich von Ihnen gar nicht gewöhnt.«

»Weil ich eine solche Schnauze habe. Nein, Herr Geheimrat, Sie verkennen mich – in mir schlummert die Demut. Prinzessinnen bin ich auch nicht gewöhnt. Es gab die weder auf meinem äußerst nahrhaften väterlichen Bauerngut noch im Jenenser V. C. Auch hat mich meine Praxis noch nicht an Europas Höfe geführt – ich fand die Stellen zu meinem Erstaunen schon besetzt. Aber das ist es nicht. Wenn hohe Damen krank sind, so ist da ein Fall wie der andere – nur der eine vielleicht lukrativer.«

»Ach, damit kommen Sie mir nicht: Sie, mit Ihrem nahrhaften väterlichen Hofe im Hintergrund können sich jede Noblesse leisten. Und müssen's. Wer von diesem Planeten einen großen oder kleinen Teil besitzt, gehört zu den Feldherren.«

»Daß Sie so denken, freut mich riesig, Herr Geheimrat, in der Stille meiner Seele denke ich auch so. Nur darf man's nicht überall laut werden lassen. Bitte, fragen Sie Fräulein Zittelmann – dort geht sie – sie hat wieder ein wahres Ungetüm von Hut auf – ob sie einen Bauernschwiegervater wünscht.«

»Mit einem solchen Gänschen müssen Sie gerade nicht exemplifizieren. Aber ich erfahre immer noch nicht, warum Sie die Prinzessin so einschüchtert. Mir kommt sie bescheiden und fast demütig vor. Sie hebt ja wie die Ottilie in den Wahlverwandtschaften den Herren die Bücher auf.«

»Das wird sie wohl tun. Und sehr anspruchslos. Aber es ist immer, als spreche ich eine andere Sprache ... Ich entschuldige mich fortwährend und wegen allem – der reine Lakai! Sie ist vornehm, sie ist so entsetzlich vornehm! Sagen Sie, ist sie vielleicht zu einer Königin bestimmt?«

»Unmöglich ist es nicht.«

»Also! Nun müssen Sie doch einen kleinen Abstand zwischen einer Majestät und einem Bernhagener Bauernsohn gelten lassen. Meinen Sie, sie verliere auch nur auf Sekunden ihre Hoheit? – Meinen Sie, ich vergäße mich je an der mir so ungewohnten Titulatur? – Sie ist jetzt so schwach, ihren Kopf bringt sie nicht mehr in die Höhe, – ich habe sie quälen müssen. Keinen Augenblick ist sie weniger königlich als den andern. Ich habe mir im Leben nicht ausgedacht, wie Königinnen in solchen Situationen nun wären. Aber ich fühl's immer wieder: So sind Königinnen. Der lange Graf, – der kann mit ihr umgehen. Haben Sie gesehen, wie er ihr den Willen ließ, als sie die Arznei nehmen sollte, und ihr zuredete, sie brauche es nicht zu nehmen, wenn sie nicht wolle ...«

»Ich fand das seltsam. Ich dachte mir, er weiß gar nicht, wie viel daran hängt, ob sie es nimmt oder nicht.«

»Sie haben nur seine Augen nicht gesehen. Ich sah sie zufällig. Die sagten jedenfalls für sie deutlich genug: Du weißt, was du sollst, aber du sollst wissen, daß du deine Freiheit hast.«

»Und gerade in dem Freiheithaben bringt man die schönen und großen Herzen an ihre Pflicht,« sagte der Geheimrat. »Und nun leben Sie wohl, Herr Doktor, ich meine, Sie verstehen recht gut mit Prinzessinnen umzugehen.«

Der Gotthardexpreßzug rast durch tief verschneite Täler, in die die schweren Wolken hineinhängen. Dunkelschwarze Tannen, dunkle Seen mit vereisten Ufern, Krähen und Rabenzüge, frierende Stationsmeister, die auf und ab stampfen, und denen der Rauch aus dem Munde mit ihren Worten geht. Und die Räder haben alle eine Melodie und die singen sie unaufhörlich. Klirrende Fenster und stöhnende Windstöße, die ihre Flügel an die Fenster schlagen, alle kennen sie die Worte und wiederholen sie dem Fürsten, der allein in seinem kleinen dahinfliegenden Gefängnisse sitzt. Wie eine Zelle ist's, in der er nun schon eine Ewigkeit lang fährt, seit er sich in Berlin hineingeworfen hat, als der Zug schon beinahe in Bewegung war. Die Worte hatten ihm aus dem blaugesiegelten Papier entgegengestarrt, als er mit der Fürstin zum Balle des englischen Gesandten hatte fahren wollen. Er hatte es schon dem zusammengefalteten Papier angesehen, daß es einen Dolchstoß enthalte, noch ehe er es geöffnet. Und er bekommt ja so viele Telegramme. So viele, daß die Fürstin sagen kann:

»Muß das jetzt sein?«

Er reicht es ihr wortlos: Ich bin sehr trank und bitte Dich, lieber Vater, zu mir zu kommen. Rosmarie.

Die Fürstin: »Ach, wie unangenehm! Ob es denn wirklich so schlimm ist? Dann hätte doch Miß Granger depeschiert. Vielleicht ist's nur eine von ihren Phantastereien. Ich meine, wir telegraphieren zurück an Miß Granger, wir bäten um weitere Nachricht. Die schrieb mir doch heute, Rosmarie sticke sehr fleißig an einer Decke. Und du weißt, wen wir heute abend treffen wollten, und wie viel daran liegt.«

Der Fürst hört schon längst nicht mehr, er stürzt hinauf, und sie hört ihn nach seinem Leibjäger und dem Kursbuch rufen. Da steigt die Fürstin in ihrer rauschenden diamantflimmernden Pracht in ihr blauatlassenes Coupé. Einen Augenblick wartet sie noch, aber es dringt eine Eisluft herein, – sie winkt dem Lakaien, der Schlag fliegt zu, und das Coupé rollt davon. – Der Fürst hat sich um nichts mehr bekümmert, als daß er den Nachtexpreß noch bekomme, und nun fährt er dahin, und die Worte begleiten ihn. Eine Nacht und einen Tag und wieder eine Nacht, immer die gleichen Wände, ob der Zug durch eisige Winterwüsten oder nun am Meeresbrausen neben Palmenkronen hinfährt. Was kann in einer Stunde geschehen – was in so langer Zeit! Ach, wie die alten Ängste aufleben! Und was sie getrennt in letzter Zeit, das ist zurückgetreten, oder nein, es ist, als habe es sein Kind mit noch mehr Ketten an sein Herz verfestigt. Wenn er ihr unrecht getan hätte? Nein, das hat er nicht – nun wieder haben die Worte ihr Spiel mit ihm.

Und nun graut der letzte Morgen über einem fremden wilden Meere, aus dem gelbe kahle zerrissene Felsen aufsteigen. Der Fürst geht in seinem Abteil wie ein unruhiges gefangenes Tier hin und her. Jetzt eine Station, hohe, morgengraue Palmen, ein blaues Leuchten auf dem Wasser. Da ist die Braunecker Livree. –

Nein, sie könnten den Mann nicht mit der schlimmsten Nachricht ihm entgegengeschickt haben. Das gibt ihm Kraft auszusteigen. Wie wenn er aus einem Schiff stiege, so zittert der Boden.

Der Diener hat sogar ein kleines Briefchen: »Ich begrüße Dich, lieber Vater, als Deine dankbare Rosmarie.«

Der Fürst braucht nicht den Diener zu fragen, das Billett sagt ihm genug. Bei den Löwen, etwas nervös und übernächtig, erwartet ihn der Doktor.

»Kann ich meine Tochter sehen?«

»Gewiß, Durchlaucht.«

»Bitte, begleiten Sie mich, ich muß doch ein wenig Toilette machen.«

Ein Zimmer ist für den Fürsten gerichtet.

Der Kammerdiener, den der Fürst mitgebracht hat, hat mit blitzartiger Schnelligkeit verschiedenes ausgepackt, und der Doktor sieht mit Erstaunen, wie sich das kleine Zimmer füllt mit Gegenständen, die man jetzt und in den verschiedensten Umständen brauchen könnte.

Der Fürst macht sorgfältig Toilette, der Doktor wundert sich ein wenig. Will der den Moment des Wiedersehens hinausschieben, oder darf man nicht ohne sorgfältige Vorbereitungen einer jungen Königin nahen?

Er erstattet Bericht, einen Bericht, den er sich vorher sorgfältig mit dem Geheimrat überlegt hat.

Ja, – er ist erst vorgestern zu der Prinzessin geholt worden. Hat sie sehr elend gefunden, namentlich recht schwachen Puls. Auch sehr schlecht ernährt. Ein organisches Leiden hat er nicht entdecken können. Die große Schwäche des Herzens –

»Meine Tochter ist sehr schnell gewachsen, sie ist ein ziemliches größer als ich. Daher das schwache Herz. Die italienische Kost hat ihr nicht zugesagt. Ich war dagegen, daß meine Schwester eine italienische Köchin engagiert hat.

Und Sie hoffen, Herr Doktor, daß wir bald wieder über den Berg kommen?«

Ja, der Herr Doktor hofft. »Wohl nicht so ganz schnell. Auch ist der Schwächezustand eine tägliche Gefahr.« Doktor Vogt findet in sich ein schlummerndes Talent zum Hofarzt.

»Nun, wird meine Tochter mich erwarten? Wollen Sie die Güte haben, nachzusehen ...«

Aber auch dem Fürsten gibt es einen Herzstoß, wie er sein Kind sieht. Und doch ist ein schwaches Rot auf den Wangen, und wie schön sind die Augen in ihrem feuchten Glanze.

Der Fürst schiebt seinen Arm unter ihren goldenen Kopf und hebt sie sanft empor.

»Vater, liebster Vater, verzeihe, ach verzeih!«

Er zuckt zusammen. Ach, er hatte alles vergessen.

»Du wußtest nicht, was du tatest.«

»Vergib, Vater, o vergib, ich habe gekämpft, oh, bitter habe ich gekämpft.«

Er legt sie auf ihre Kissen zurück und gewöhnt sein armes Herz an ihren Anblick. Sie hat gelitten!

»Harro ist hier, Vater.«

»Harro hier?«

»Ich habe ihn gebeten. Er will mit dir reden –«

»Hast du ihn empfangen, Rosmarie? Das kannst du unmöglich getan haben. So allein und krank wie du bist –«

»Er wollte nicht kommen, aber als ich beinahe gestorben wäre, holten sie ihn. Sie wußten ja, daß er mein Freund sei. Und so ganz allein, Vater ...«

»Liebe Rosmarie ...«

»Nicht ›taktlos‹ sagen, Vater. Du sollst den Doktor fragen, ob ich so nahe am Abgrund war oder nicht. Und Herr Geheimrat Schwarzen, das ist fast eben so gut, wie wenn es der Herr Stiftsprediger wäre, – war auch dabei.« »Und Miß Granger.«

»Sie ist so sonderbar geworden. Ich hätte es dich wissen lassen müssen. Sie sagen nun, sie hätte eine schlimme Krankheit.«

»Lieber Himmel, warum erfahre ich das jetzt erst?«

»Es war zuerst nicht so schlimm. Und dann war ich so bitter. Ich dachte, das gehört ja auch zu meiner Verbannung, daß ich mit Menschen leben muß, die nichts, gar nichts von mir wissen.«

»Reden wir jetzt nicht mehr davon. Rosmarie, du hast dich gegrämt. Deine armen Hände ... Nein, schweigen wir davon. Schweigen wir immer davon, Rosmarie.«

»Vater, wenn es sein muß. Ja. Schweigen.

Aber ich flehe dich an! Höre zuerst einmal Harro! Und dann schweigen, Vater. O Vater, ich will auch darunter dein liebes Kind sein.«


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