Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Neunzehntes Kapitel: Das alte Lied.

Lisa dringt am Morgen unter Schwierigkeiten zu Miß Granger vor. Sie läßt ja niemand außer der kleinen Angelina – wie kann eine solche Schlange Angelina heißen! – in ihre Gemächer. Und Lisa verlangt unter vielen Gesten und eingestreuten englischen Worten, daß man den Adolf nach einem Doktor schicke. Miß Granger ist zittriger als je und härter von Verständnis, aber sie sagt endlich: Yes, yes, und geht zu der Prinzessin hinunter. Dort gibt es eine Szene, Lisa hört es durch die Türe. Die Miß ächzt und stöhnt und wimmert, und die Prinzessin muß trösten. Was geschieht denn ums Himmels willen der Miß, wenn zu einem Doktor geschickt wird! Sie hört, wie die Prinzessin aufsteht und sich mit ihren Sachen zu schaffen macht. Miß Granger kommt heraus, eine goldene Kette mit einem Riechflakon, schön mit Edelsteinen besetzt, in der Hand.

»Doktor?« fragt Lisa, aber die Miß schießt unwillig kopfschüttelnd an ihr vorbei und in ihren Bau. Später sieht sie die Miß bei Adolf stehen und den fortschicken, aber das müssen langsame Doktoren sein. Bis zum Abend erscheint keiner.

Und in der Nacht hört Lisa plötzlich einen hellen Schrei. Sofort ist sie aus ihrem Bett heraus, wirft ihren Morgenrock um sich und geht zu der Prinzessin hinein.

Greller Mondschein, ein ganz anderer Mond als der gute alte Braunecker Mond, erfüllt das Zimmer. Die Prinzessin liegt zusammengekauert in ihrem Bett und starrt mit wilden, weit offenen Augen nach der Wand.

»Sieh mich nicht an, o geh hinweg, – ich kann nicht mehr zurück. Wie kann ich leben mit dem schwarzen Balken über meinem Herzen?«

Die Lisa schüttelt das Grauen: »Durchlaucht, es ist niemand da, es ist nur das weiße Kleid, das da hängt.«

Sie macht Licht mit zitternden Händen und läßt schnell Vorhänge herunter, daß der schreckliche, der fremde Mond draußen ist. Die Prinzessin sieht sie mit wirren Augen an.

»Durchlaucht, ich bin's, die Lisa, es war ja nur ein Traum.«

Sie glaubt es ja selber nicht. Sind jetzt nicht die heiligen Nächte, in denen alles umgeht?

»O Lisa, bist du's? Bleib bei mir!«

Lisa muß sich aufs Bett setzen, die Prinzessin schmiegt sich an sie, und das ganze Zimmer hört das arme Herz klopfen. Sie sind so einsam, so schauerlich einsam in dem fernen Land, und der Lisa fallen alle die fremden, dunkeln, kahlen Berge ein, durch die sie gefahren sind. Sie fühlt jetzt jeden einzelnen. So weit ist's von dem alten Brauneck und der Mutter Nachtlämpchen. – Und es hat sich gemeldet! Wer oder was, das weiß sie nicht, aber: Es hat sich gemeldet! Und sie darf nicht von der Prinzessin fort, sonst würde sie jetzt noch den faulen Adolf zu einem Doktor schicken. –

Wenn sie sich nur rührt, so bittet, fleht, befiehlt die Prinzessin: »Bleib bei mir. Lisa, kann man denn solche Schmerzen haben? Und wenn du nur bei mir bleibst – es ist alles nicht so schrecklich wie die Augen.« Die Lisa sagt: »Durchlaucht, ich mache Tee, hier im Zimmer auf der kleinen Teemaschine mache ich ihn, und für Schmerzen sind warme Tücher gut, das schadet niemals.«

Und bei alledem kommt doch ein wenig Trost für beide heraus.

Zuletzt holt Lisa ihr Konfirmationsgesangbuch. »Soll ich ein Lied lesen?« Es steckt aber ein dünnes Heft darin, das sind Lieder, die man sich noch extra beim Herrn Stiftsprediger hat abschreiben dürfen, wenn man gewollt hat.

»Ja, lies nur, Lisa.«

Und Lisa liest in der fremden, einsamen Mondnacht in dem Palmengarten, durch den das Meeresrauschen geht, ein altes Lied. Weil es ja Nacht ist:

Wo willst du hin, weil's Abend ist,
Geliebter Pilgrim Jesu Christ?
Komm, laß mich so glückselig sein
Und kehr in meinem Herzen ein.

»O Lisa, das ist schön.«

Laß dich erbitten, liebster Freund,
Derweil es ist so gut gemeint,
Du weißt, daß du zu aller Frist
Ein herzenslieber Gast mir bist.

Erleuchte mich, daß ich die Bahn
Zum Himmel sicher finden kann,
Damit die dunkle Sündennacht
Mich nicht verführt noch irre macht.

Bevorab in der letzten Not
Hilf mir durch einen sanften Tod ...

Lisa stockt. Ach, nun ist's ein Sterblied geworden, das hat sie nicht gewollt.

Die Prinzessin flüstert: »in der letzten Not ... Lies den Anfang noch einmal, Lisa.«

Und die Braunecker Kinder sind nicht mehr in der Fremde, das Lied hat sie mit weichen Schwingen hinübergetragen in die ferne Heimat ... – – – Am andern Morgen sagt Lisa zu Miß Granger »Doktor« und erhebt fast drohend die Hand, aber die flieht in ihre Kirche. Lisa flüchtet zu dem verliebten Adolf:

»Die Engländerin ist nimmer zur Raison zu bringen. Sie müssen gehen und einen deutschen Doktor ausfindig machen und ihn gleich herbeibringen.«

»Habe schon Gegenordre, Fräulein Lader.«

»Von wem?«

»Von Ihrer Durchlaucht.«

Lisa geht hinauf. Die Prinzessin sieht sie ganz fremd an, der armen Lisa kommt es wie ein Traum vor, daß sie sie heut nacht im Arme gehabt. Die Prinzessin, wie sie nun ihre Sache vorstammelt, hebt ihren feinen Kopf und sieht sie mit ganz königlichen Augen an:

»Ich wünsche keinen Doktor. Ein fremder Mann kann mir doch nichts nützen. Und ich habe zu tun, du siehst doch, daß ich schreibe. Du kannst gehen.«

»Durchlaucht, wenn aber die Nacht ...«

»Oh, die wird ganz gut sein, du brauchst dich nicht zu sorgen, Lisa ... Morgen wollen wir sehen,« und sie schreibt weiter.

Lisa geht hinaus mit der ganzen bittern Last auf dem Herzen. Sie geht in ihr Zimmer und holt ihr bestes Briefpapier heraus und schreibt mit vielem Seufzen und ängstlichem Überlegen einen Brief an den Herrn Stiftsprediger. Und die Nacht und der fremde Mond kommen wieder, aber so leise Lisa schläft, sie hört nichts, keinen Ton. Und Gott sei Dank, daß der Brief fort ist, und ihre Gedanken begleiten ihn über die vielen Berge und durch die schwarzen Tunnel, nach dem lieben alten Brauneck. –

Am Nachmittag ist der Adolf im schönsten Herrenanzug zum englischen Dienerball, zu dem ihm seine kleine Nurse eine Einladung verschafft hat, abgezogen, – vor Mitternacht wird er wohl nicht zurückkommen. Und die Prinzessin fragt Lisa:

»Gehst du nicht auch auf den Ball, bist du nicht eingeladen?« »Nein, Durchlaucht. Und es wäre mir auch keine Ehre, hinter dem Adolf herzulaufen. Aber, wenn ich dürfte, einen kleinen Ausgang machen? Den Tee richte ich zuvor, und zum Servieren bin ich wieder zurück. Vielleicht kann Miß Granger doch ein einziges Mal nicht in die Visite gehen?«

Lisa hätte sich sonst keine Kritik erlaubt, aber die Engländerin haßt sie. – Was sie da oben nur immer treiben mag, und mit wem sie da laut spricht und lacht? und dann klingt's wieder wie Gebete, es kann einen schaudern.

»Liebe Lisa, du kommst ja gar nicht heraus ... Geh doch, und gewiß bis zum Capo. Und wegen des Diners eile dich nicht, Angelina kann servieren.«

Lisa geht, noch entrüstet darüber, daß die Angelina mit ihren schwarzen Händen die Schüsseln hereintragen soll. Nein, bis dahin ist sie längst zurück. Sie hat keine Ruhe mehr, sie will sich in dem kleinen deutschen Laden am Strand nach einem deutschen Doktor erkundigen. Jedem kann man ja die Prinzessin nicht anvertrauen.

Und nun geht sie den Palmengang hinunter, und die Prinzessin sieht ihr nach. Nun ist alles fort. Miß Granger ist fort, die Köchin hält wohl ihren Mittagsschlaf, nur Angelina singt gellend in der Küche unten. Und auch die Prinzessin will ausgehen. Es ist ein schöner, sonnglänzender Tag, nur kalte Winde wehen, und im Schatten ist's empfindlich kühl. Zum erstenmal muß die Prinzessin sich selbst bedienen. Sie nimmt ihren festesten Schirm, ach, der ist nur ein zartes Gebilde, und geht leise die Marmortreppe hinunter, wo auch zwei Miniaturlöwen dräuen, so gut es ihnen möglich ist. –

Ach, wie ist der Weg so weit den Garten entlang, so mühselig. – »Wie gut, daß Lisa nicht da ist, sie hätte mich nicht gehen lassen ...«

Die Gartentüre ist zum Glück offen, nun geht es zwischen hohen Mauern entlang ein schmales Sträßchen, so schmal, daß kein Wagen hindurchkommt. Über die Mauern schauen die schwanken Palmen und dunkelgrünen Zitronenbäume und hohe düstere Zypressen, zu denen Rosmarie nun schon eine Liebe gefaßt hat. Sie nickt ihnen auch heute zu und lächelt ein wenig.

Das ist die Marina, die das Sträßchen kreuzt, und dort eine Bank schön in der Sonne. Dorthin, nur bis dorthin. Es gehen nicht viel Menschen auf der Straße, sie würden erschrecken vor dem Anblick dieser weißen, schwankenden Gestalt. Die Bank ... nur noch ein paar Schritte ... Wie ein dunkler Schleier fällt es vor ihren Augen, da fühlt sie den Griff einer Hand an ihrem Arm.

»Ich führe Sie, Durchlaucht.«

Nun sitzt sie auf der Bank. Der Schleier weicht langsam, und vor ihr steht mit abgezogenem Hut der ältere deutsche Herr, der sie so sehr an den Herrn Stiftsprediger erinnert.

»Durchlaucht sollten nicht allein gehen!«

Dann verneigt er sich und sagt: »Geheimrat Schwarzen aus Gießen,« – was Rosmarie sehr verwundert. Erst nach einigem Besinnen kommt ihr, daß das wohl der Name des freundlichen Herrn sein könnte; vorgestellt hat sich ihr noch nie jemand.

»Kann ich vielleicht Eurer Durchlaucht einen Wagen besorgen?«

»O nein, Sie sind sehr gut, Herr ... Herr Geheimrat ... Ich möchte auch nur bis an die Ecke gehen, wo der Briefkasten ist.«

»Kann ich Euer Durchlaucht nicht den Brief besorgen?«

»O nein, ich danke, ich muß das selbst tun.«

Rosmarie trägt einen dicken Brief in der Hand.

»So gestatten mir Durchlaucht, daß ich Sie bis dorthin begleite.«

Dem armen erschöpften Wesen, das wohl seinen letzten Gang macht, muß man den Willen tun.

»Ja, bitte, wenn Sie so gütig sein wollen, aber ein wenig ausruhen muß ich zuvor, bitte setzen Sie sich doch auch.«

Der Herr Geheimrat setzt sich auf die Bank und fängt an, sehr freundlich und ruhig mit ihr zu reden. Er kennt Brauneck, auf einer seiner Wanderungen hat er es daliegen sehen, von dem gegenüberliegenden Berge aus, mit seinem Renaissancegiebel und den vier dicken Ecktürmen, dem schlanken, hohen Schloßturm und dem grünen Parkgürtel.

»Oh, wie wohl tut das, von der Heimat zu hören unter den fremden Bäumen hier.«

»Durchlaucht haben keinen guten Winter gehabt. Es taugt auch nicht jedem, das Sonnenland.«

Rosmarie stürzen schnell ein paar Tränen herunter. Welch gute Stimme hat der fremde Herr, und nun sieht sie ihm in die hellblauen Augen unter dem dunkeln, weichen Hut, der die herrliche Stirn verbirgt.

»Die Tage, das ist nicht das schlimmste, aber die Nächte und der fremde Mond und die Meeresstimmen, die einen keinen Augenblick vergessen lassen, daß man so ferne ist von Brauneck. Und die Angst, die furchtbare Angst, die entsetzlicher ist als alles.«

Sie starrt mit dunkeln Augen vor sich hin in ein Entsetzen hinein.

Dem priesterlichen Herzen neben ihr wird es weh zumute. Wer an diesem Leid vorüberginge, wäre schlimmer als jener Levit, dem ein göttliches Auge auf seinem eiligen Wege durch ein einsames Land nachsah.

»Angst ist furchtbar. Aber warum die bittere Angst? So viele Ängste zerrinnen, wenn man ihnen nicht entweicht, sondern sie mit festen Augen ansieht.«

»Ich habe es auch versucht. Ich habe die Augen aushalten müssen, ganz allein –«

Sie sieht ihn nicht an, sie spricht wie im Traume, sie antwortet nur der guten, guten Stimme. – »Und nun weiß ich, ich fürchte Gott.«

»Fürchten ist etwas anderes als Angst haben.«

»Dann will ich sagen, ich habe Angst vor Gott.«

»Um das dürfen Sie keine einsame schreckliche Nacht mehr haben. Prinzessin, geben Sie mir doch Ihren Brief, ich trage ihn dorthin und bringe Sie dann nach Hause.« Sie sieht ihn mit ihren großen sanften Augen an: »Alle meine Briefe, wohin ich sie auch sende, sie landen immer in meines Vaters Schreibtisch, da liegen sie dann in Stößen, und das darf mit diesem Brief nicht geschehen.«

»Durchlaucht, wenn ich diesen Brief in den Kasten werfe, wird er auch ankommen. Aber wenn Ihr Vater es nicht wünscht ...«

Rosmarie lächelt. »Bis der Brief ankommt, – ja dann wird er es wünschen.«

Und der Herr Professor geht mit langen Schritten zu dem Briefkasten, vorher sieht er die Adresse an. Das arme Kind kommt ihm so weltunbekannt vor, daß sie vielleicht ihre Briefe gar nicht richtig adressieren kann? Nein, die Adresse wird wohl richtig sein. An einen Grafen Thorstein in Rom, sogar die Straße fehlt nicht. Und nun kommt er wieder zurück und schiebt der Prinzessin seinen festen Stock in die Hand und bietet ihr seinen Arm an. Und sie gehen langsam, sehr mühselig, zurück in den Palmengarten. Sie sprechen kein Wort, das Gehen ist Arbeit genug.

Verlassen liegt das Marmorhäuschen in grüner Sonneneinsamkeit. Niemand rührt sich darin, die Türe steht weit offen. Der Professor hilft Rosmarie aus dem Mantel heraus und trägt behutsam den Federhut an einen sicheren Ort, und nun kann sich Rosmarie in ihrem Korbstuhl ausstrecken. Er deckt sie sorgfältig mit ihrer seidenen Decke zu und meint: »Es wäre doch gut, wenn jemand sofort zum Arzt ginge.«

»Ich habe gar keinen Arzt.«

»Keinen Arzt!« Was gibt es für sonderbare Menschen! Dem Herrn Professor schießen alle möglichen Heilmethoden, bis zum Gesundbeten, durch den Kopf, denen die fürstlich Braunecksche Familie wohl huldigen könnte ...

»Mein Vater weiß gar nicht, wie krank ich bin.«

»Ja, Durchlaucht, ist es nicht das allerbeste, hier ist eine Glocke, ich läute jemand herbei, und Durchlaucht setzen ein Telegramm auf, daß es Ihnen so wenig gut geht. Durchaus nicht, daß der Fürst erschreckt würde ... Das muß ein Vater von seinem Kinde wissen, mag er sonst mit ihm stehen, wie er will.«

Eine Glocke ertönt, aber es erscheint niemand.

Die Köchin ist wohl zu ihrer Familie gegangen, und Angelina? Ja, wenn alles seinem Vergnügen nachläuft, sollte da die arme Angelina allein tugendhaft bleiben, und für den geringsten Lohn? Angelina ist auch fort.

Da ist vorderhand nichts zu machen. Die Prinzessin kann man nicht allein lassen. Ein barmherziger Samariter muß es eben auf sich nehmen, daß er in allerhand konfuse Lagen gerät. Der Levit ist der weitaus taktvollere Mann, das fremde Elend geht ihn nichts an, und es ist besser, sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen. Man weiß ja gar nicht, ob die einem dafür dankbar sind und sich nicht mit einem: »Was unterstehen Sie sich, mein Herr?« erheben. Nein, um die Ecke, und die Sache ist abgetan.

Die Prinzessin lebt ein wenig auf, nun sie liegt, und bittet: »Ach, sprechen Sie doch mit mir. Ich habe niemand – niemand.«

»Warum müssen Sie sich vor Gott ängstigen?«

»Ich wußte nicht, was ich tue; aber nun weiß ich es. Ich habe eine große Sünde auf mir, und darum muß ich mich ängsten. Was ich tue, wußte ich nicht –«

»Gottes Willen erkennt man ja manchmal erst, wenn man ihn übertreten hat.«

»Ach, daß Sie das sagen. Ja. In den letzten Nächten da wußte ich es, als die Augen mich ansahen. So vorwurfsvoll. Ich mußte mich krümmen vor den Augen –«

»Wessen Augen?«

»Ich weiß es nicht. Oder vielleicht weiß ich's. Es wandte sich einmal jemand um ... Und darüber weiß ich's nun, und ich zittere, und nun ist's zu spät, gut machen kann ich es nicht mehr.«

»Was kann man auf Erden gut machen? –« sagt leise der weise Mann dort am offenen Fenster, durch das schon der Abendschein hereinflammt.

»Und ich kann nicht mehr zurück. Mein Vater glaubt von mir, daß ich eine Tat begangen habe, die feig und tückisch und grausam war.«

Der Herr Professor ruft mit heller Stimme: »Nein, das nicht, Prinzessin ... das nicht. Aber Ihr Vater hatte wohl Gründe, um das je von Ihnen glauben zu können.«

»Er hat sie. Es ist alles so verwoben und verwachsen, ein Dorngeschlinge, und die Dornen zerstechen mein Herz. Und als sie ihr Urteil über mich sprachen, da haben sie – nicht von mir – gesagt: Im Angesicht des Todes lügt man nicht!«

»Prinzessin. Sie haben doch nicht ...«

»Es ging ganz leicht zu Anfang. Und es war die letzte Liebe, die ich meinem Vater tun wollte, er sollte es nie, nie wissen. Ich habe ein schwaches Herz, an dem kann man auch sterben. Ich hätte es sehr viel leichter haben können, da ist mein kleines Scherchen. Aber es wäre so entsetzlich gewesen – rachsüchtig! Und hätte ihnen allen recht gegeben. So würden sie es gar nicht wissen. Und zuerst war es leicht. Die vielen, vielen Tränen, schön und schrecklich und lieblich. – Und daß meine Seele frei wurde und hingehen konnte, wo sie wollte. Zu meinem Vater, und ihn sehen, und daß er mein Bild immer noch über seinem Schreibtisch hat.«

Das arme Kind, es träumt wohl wieder, oder es ist so schwach, daß es Traum und Wachen nicht mehr unterscheidet.

»Und dann kamen die Augen und sahen mich an, da wußte ich, daß ich an der Liebe gesündigt. Und ich hätte müssen meinen schwarzen Balken auf mich nehmen und meinen Vater weiter lieben und nicht verlassen, denn wer liebt ihn wie ich? Und nun ist's zu spät, ich habe es versucht. Ich kann nicht mehr zurück.«

»Es ist nicht zu spät, Prinzessin, niemals zu spät, Gott sei Dank, da höre ich jemand!«

Es war Lisa, die mit ziemlich verweinten Augen hereinkam. Sie hatte unterwegs das Heimweh bekommen. Die Sorge, das fremde Weihnachtsland, man weiß nicht, ist's Sommer oder ist's Winter?

»Prinzessin, wir tun das nächste. Ich gehe einen Arzt zu holen und Sie, Fräulein, bringen Ihre junge Dame zu Bett. Prinzessin, der Wille tut viel, ungeheuer viel. Ich könnte Ihnen Dinge sagen! Und Sie haben ja den besten Willen. Wenn man einmal den Weg weiß, kann man ihn auch gehen.«

Und der Professor eilt mit seinen langen Schritten hinaus und findet in der Marina einen leeren Wagen, der ihn zum Doktor führt.

Der junge, patientenlose Doktor erhebt sich verdrossen ...

»Herr Geheimrat, Sie sehen so menschenfreundlich aus, als brächten Sie mir eine kleine Pockenepidemie mit ... O gewiß, ich komme so schnell wie möglich, wüßte nicht, was mich abhalten könnte. Wohin?«

»Sie fahren, so schnell der klapperige Wagen es gestattet –«

»Zu wem?«

»Zu einer Prinzessin von Brauneck, Doktor. Ich bitte Sie, seien Sie recht zart gegen das arme Kind.«

»Eine Prinzessin, unmöglich! Eine Prinzessin gebietet von vornherein über jede vorhandene Zartheit, ich werde zerfließen.«

»Es ist schlimm, Doktor! Ich muß es Ihnen sagen, sie hat irgend etwas mit sich getan, hat sterben wollen.«

»Gott, natürlich! Wenn es nichts Verzweifeltes wäre, hätte man den deutschen Doktor nicht geholt.«

Der Doktor brummt etwas, und der Wagen hält. Vor dem Gartentor steht ein großer Herr, dem man auch im Halbdämmer den deutschen Offizier ansieht, im Reisemantel und schaut sich den Eingang an. Als er die Herren sprechen hört, zieht er den Hut und kommt herbei:

»Entschuldigen Sie, wohnt in diesem Part die Prinzessin von Brauneck?« »Gewiß, in der Villa Riposa.«

»Ich danke sehr –« und der Herr verneigt sich und geht das Sträßchen hinunter; er hat sich offenbar nur erkundigen wollen. Den Doktor begleitet der Herr Professor bis zu den Löwen.

»Ich erwarte Sie hier, Doktor, und bitte, bewegen Sie die Prinzessin sofort nach der Untersuchung, daß sie an ihren Vater telegraphiert, oder tun Sie es ... Dies ist ein verzauberter Garten, ein verzaubertes Haus, und wieder kein Mensch da. Gehen Sie nur die Treppe hinauf zu der mittleren Tür.«

Dann wandelt der Professor den langen Palmengang hinunter in der plötzlich abgekühlten Luft. Er wird sich einen Katarrh holen, den er doch hier loswerden sollte. Der Herr aus Samaria säße jetzt schon längst in Jericho, oder der Herr Professor bei Schulte und einem Glase Wein, wenn er sich nicht auf dem Wege Ängste, Kümmernisse und Verlegenheiten aufgeladen hätte. So wandelt er denn auf und ab, und die Sache währt lange. Einmal kommt er wieder an den Eingang. Da steht schon wieder der deutsche Herr in seinem Reisemantel. Und weil der Herr Professor doch vorher mit ihm gesprochen hat und ein sehr höflicher Mann ist, so zieht er den Hut, und der andere auch. Und der sagt: »Dieser Garten enthält wohl keinen öffentlichen Durchgang?«

»Eine beschränkte Öffentlichkeit vielleicht doch. Es wohnen verschiedene Familien in diesem Park. Wenn Sie hereinkommen wollen, können Sie es mit demselben Rechte tun wie ich. Es ist ein gastliches Land ...«

Der große Herr kommt wirklich herein ...

»Geheimrat Schwarzen aus Gießen.«

»Graf Thorstein.«

Dem Herrn Professor gibt es einen kleinen Ruck.

»Graf Thorstein aus Rom? Via Settimo Settembre?«

»Aus Rom, soeben angekommen.«

Da kommt der Doktor den Gang heruntergestürzt.

»Bester Herr Professor, seien Sie so gütig, Sie haben doch den Wagen warten lassen – besorgen Sie mir dies in der Apotheke. Nein, noch nichts zu sagen, und die Depeschen. Eine an den Fürsten, eine an einen Grafen Thorstein. Und kommen Sie mit den Dingen aus der Apotheke wieder hierher. Die Prinzessin möchte Sie dringend sprechen.«

Und der Doktor wendet sich schleunigst wieder der Villa zu, den andern Herrn hat er in der schnell anbrechenden Düsterheit gar nicht bemerkt.

»Herr Geheimrat, die Depesche ... Sie verzeihen, ich hörte meinen Namen. Ich bin der einzige Thorstein, dem die Prinzessin depeschieren könnte. Ich kann mich legitimieren.«

Und er reißt seine Brieftasche heraus und entnimmt ihr adressierte Briefe, schließlich einen Paß.

»Sie entschuldigen, Herr Graf, es ist anvertrautes Gut.«

Und der Herr Professor geht zum nächsten Laternenpfahl und prüft mit wissenschaftlicher Akribie den Paß und übergibt dann mit einer Verbeugung dem Grafen die Depesche.

»Ein Brief an Sie ist auch unterwegs.«

Die Depesche enthält nur wenige Worte.

»Lieber Harro, wenn Du meinen Brief gelesen hast, so tue mir die Liebe und rede mit meinem Vater. Rosmarie.«

Der Thorsteiner springt auch mit hinein in den Wagen. Apotheke und Postamt sind nebeneinander.

»Die Depesche handelt von einem Briefe –«

»Den ich selbst in den Schalter befördert habe.«

»Die Prinzessin ist krank?«

»Ja, und noch nichts Gewisses zu sagen – Sie haben es gehört. Versuchen Sie den Brief wieder zu bekommen, vielleicht ist er noch nicht fort.«

»Sehr gütig, Herr Geheimrat. – Sie nehmen sich wohl ein wenig der Prinzessin an, sie ist gewiß sehr einsam hier? Ist Prinzessin Helene noch bei ihr?«

»Leider kann ich Ihnen fast keine Auskunft geben. Ich selbst habe heute zum ersten Male mit der Prinzessin gesprochen. Und wenn Sie mir helfen wollten, so könnten Sie die Apotheke und ich die Depesche besorgen ... es geht schneller.«

Die Herren besorgten alles, der Brief ist aber schon auf dem Wege nach Rom. »Gestatten Sie, daß ich Sie noch einmal zum Garteneingang begleite, Herr Geheimrat.«

Als sie fahren, fragt der Professor: »Könnten Sie nicht besser mit heraufkommen?«

»Unmöglich, nein. Ich verkehre schon seit Jahren in Brauneck nicht mehr, übrigens habe ich durchaus keine Differenz mit dem Fürsten gehabt, der mich stets aufs gütigste und mit der ganzen Noblesse seines Wesens behandelt hat ... Doch – wenn ich mit Ihnen hinaufginge – vielleicht tue ich's doch – so hätten wir die schönste Differenz fix und fertig. Ich habe in die Rezepte hineingesehen, es steht eine Kamphereinspritzung darin, – daß der Doktor das Schlimmste befürchtet, habe ich daraus entnommen. Gott, so schrecklich können Sie doch das Seelchen nicht quälen! – Ich kenne das. Es hilft ja doch nichts! Es verlängert nur. Herr Geheimrat, so stehen Sie ihr doch bei! Wer ist denn um des Himmels willen mit ihr?«

»Soviel ich weiß, nur eine grämliche Engländerin, die ich eines Abends in einem für eine prinzeßliche Duenna höchst eigentümlichen Zustande wanken gesehen habe, einem Zustand, der uns, die wir mitten im akademischen Leben stehen, nicht so ganz unbekannt ist.«

Harro murmelt: »Die Herrschaften haben ein so unbegreifliches Pech mit den Britinnen ... Ich verstehe nicht ... Und sonst niemand?«

»Ein brauner Lakai und ein sehr zuverlässig aussehendes Fräulein, jung, bescheiden. Allerdings, als ich die Prinzessin nach Hause brachte, war kein Mensch da. Sie kennen die Prinzessin schon lange?«

»Als sie noch so klein war,« Harro zeigt im Wagen eine unmögliche Kleinheit, »nur so ein Hauch von einem Kind. Ich habe sie auf den Armen getragen. Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, Herr Geheimrat, wenn es wirklich zu dieser Einspritzung kommen sollte, so lassen Sie mich es wissen ... Ich komme herauf ... Es wird ebenso stark wirken.«

»Herr Graf, ich kann Sie unmöglich in ein Haus holen, in das ich selbst eingedrungen bin. Ich kann es Ihnen freilich auch nicht verwehren, zu kommen.«

»Aber mir ein Zeichen geben, das können Sie. – Ich habe mir das verzauberte Haus angesehen. Es ist eine Veranda da, zwei Löwen liegen auf der Brüstung. Stellen Sie eine Lampe zwischen die Löwen, dann ist höchste Not. – Dann würde der Fürst selbst dringend wünschen, daß ich käme, dann gelten die Konventionen nichts mehr. Wenn die Prinzessin ins Wasser fiele, dürfte ich auch die Ehre haben und sie herausziehen.«

»Warum Sie aber nicht gleich heraufkommen, verstehe ich nicht, – es steht schlimm genug.«

»Ich muß doch noch ein weniges für den Harro Thorstein, mit dem ich doch einmal leben muß, sorgen, und nur im äußersten Notfall werde ich den Braunecker Bannkreis überschreiten.«

Mit diesen etwas rätselhaften Worten sprang der Thorsteiner aus dem Wagen. Sie waren am Eingang.

»Die Lampe, Herr Geheimrat, – von einer Stelle in der Straße kann ich sie sehen. Komme ich nicht, so erretten Sie mich gütigst aus der Hand der einheimischen Polizei, die mich vielleicht wegen nächtlichen Herumstreifens aufgegriffen hat. Ich kann zwar schon schön italienisch fluchen ...« – – –

Der Herr Professor sitzt dem finstern jungen Arzt gegenüber in dem kleinen Wohnzimmer.

»Sie hätten auch den Doktor Aquili holen können –. Wenn der Deutsche nur dazu geholt werden soll, daß er einen gewissen Schein schreibt ... Nun, man ist ja ein kalter Rohling, ein gefühlloser Leichenschneider ... ein Fall ist nur lukrativer als der andere ... Es gibt etwas zum Dabeistehen und Zusehen ...«

»Doktor, warum lästern Sie –«

Da kommt Lisa herein: »Herr Geheimrat, wenn Sie bitte zu Ihrer Durchlaucht kommen wollten.«

Der Herr Professor fühlt nach etwas in seinen vielen Taschen: Ja, es ist da – und folgt dem Mädchen. Die Prinzessin liegt auf einem weiß umhängten Bett starr ausgestreckt. Die seidene Daunendecke verhüllt ihre Gestalt ganz, sie ist bis unter die Arme heraufgezogen. Zu beiden Seiten ihres Gesichtes liegen die langen, schweren, blaßgoldenen Flechten. Sie sieht fast erschreckend vornehm aus. Wie ein Marmorgrabmal mit strengen frühgotischen Linien. Sie rührt sich nicht, nur ihre Augen leben. Die Fenster sind offen ... es weht ein leiser Rosenduft, es sind aber keine Rosen da ...

Sie flüstert: »Sie haben mit dem Doktor gesprochen. Werde ich sterben?«

Welch eine Frage! Und wie entsetzlich schwer, die rechte Antwort zu geben.

»Es steht in Gottes Hand. Aber Sie können auch etwas dazu tun, Prinzessin, daß Ihrem Vater das einzige Kind – das sind Sie doch – erhalten bleibt. Nehmen Sie allen Mut zusammen! Denken Sie an die alten Braunecker! Sie können hier in der stillen Stube ebenso viel Mut und Willenskraft beweisen, wie nur je einer Ihrer Ahnen auf dem Schlachtfeld.«

Was für ein feiner Menschenkenner der Herr Professor ist. Es steigt etwas wie eine leise Röte in das weiße Gesicht ...

»Und Sie wissen ja, was Sie wollen ... Sich nicht mehr an der Liebe versündigen ...«

»Ich bin zu weit gegangen, ich kann nicht mehr zurück. Ich kann ja nicht mehr mit meinem Vater leben ... immer einsam muß ich sein. Meine Mutter wird mich nicht bei ihm dulden.«

»Und Ihre Mutter – kann sie nicht überzeugt werden?«

»Unmöglich – sie wird das Schreckliche von mir glauben, so lange sie es glauben will ...«

»Sie sagen selbst – so lange sie es glauben will! Wenn Sie aber Ihre Mutter durch Ihre Güte überwinden können. Es ist wohl ein langer mühseliger Weg. Vielleicht ist es nach Jerusalem, auf schlechten, vollgepfropften Schiffen, durch glühenden Wüstensand und durch Sarazenenpfeile und Durst und nagendes Heimweh nach grünen Waldbergen – ein leichterer Weg. Nur an die großen Seelen kommen die großen und schweren Dinge.«

Rosmarie sagt: »Ich möchte Harro noch ein einziges Mal sehen. Wenn ich meinen Eltern in allem zu Willen sein werde, darf ich es nicht mehr. Und nun habe ich ihn doch gerufen.«

»Den Grafen Thorstein ... Wie wußten Sie?«

»Ich sah ihn bei Ihnen stehen unter der Zypresse.«

»Sie konnten ihn gesehen haben, Prinzessin ... Er wollte nicht heraufkommen.«

»Ich weiß es. Er denkt an meinen Vater, und daß der sagen würde: Taktlos. Und er fürchtet sich vor mir. Und meinen Brief hat er noch nicht bekommen.«

Der Doktor erscheint wieder mit einem Kelchglas in der Hand. Rosmarie erschrickt. »Muß das sein?«

»Ja, Durchlaucht.«

Und sie trinkt ein wenig, und dann werden ihre Augen starr und groß, und ihre Hand greift nach der des Mädchens.

»Doktor, bitte, kommen Sie,« ruft der Herr Professor.

»Hier, ich habe das schon erwartet. Ich muß eine Einspritzung machen.«

»Einen Augenblick, Doktor, wenn Sie noch warten wollten.«

Und der Professor trägt die Lampe aus dem Wohnzimmer auf die Veranda.

»Was machen Sie denn da, Herr Professor, ich brauche doch Licht.«

»Doktor, die Prinzessin hat einen Freund hier, auf den sie wartet. Ich versprach ihm das Zeichen zu geben, ehe Sie die Einspritzung machen. Er meinte, wenn die Prinzessin ihn sähe, werde das ebenso stark wirken. Um Gottes willen, wo ist denn eigentlich das englische Frauenzimmer?«

»Oben in ihrem Zimmer – sie sei gleich hinaufgegangen, ohne auf die Reden des Mädchens zu achten. Ich habe einen unglaublichen Radau oben gemacht, um sie herbeizubringen. Umsonst. Entweder muß sie taub sein oder ...?«

»Dann wird sie freilich nicht viel nützen ... Eine peinliche, eine sehr peinliche Sache, Doktor!«

»Wo haben Sie den geheimnisvollen Freund? Ohne Einspritzung kommen wir doch nicht über die Nacht hinweg ... aber wir können es auch mit dem Freund versuchen. Wir sind nicht in der Lage, uns irgend eine Chance entgehen zu lassen.«

An der Tür stand der lange Thorsteiner.

»Graf Thorstein.«

»Doktor Vogt ...«

»Kann ich Ihre Durchlaucht sprechen?«

»Bitte, kommen Sie!«

Einen Augenblick bleibt der Thorsteiner an der Schlafzimmertüre stehen wie ein Pfahl, und dann – nein, du finsterer Doktor, es geschieht nicht, was du erwartest.

Nein. Der Thorsteiner nimmt sanft die arme Hand und legt sie wieder hin.

»So krank bist du, armes Seelchen?«

Sie hat ihre großen sanften Augen auf ihn gerichtet und versucht ein Lächeln: »Oh, wie froh bin ich, daß du da bist, Harro. Ich danke dir, daß du mir das schöne Werk zu Weihnachten geschenkt hast. – Ich freute mich sehr. Am schönsten ist die würdevolle Gans, die vorderste.«

»Wenn es dir nur Freude gemacht hat. Es dürfte mir besser geraten sein. Du lobst auch die Gänse mehr als die Prinzessin.«

Wie gute alte Freunde reden sie, die sich vor wenigen Tagen getrennt haben, und zwischen denen alles so klar wie möglich ist.

»Und du willst für mich mit meinem Vater reden! Du wirst meinen Brief bekommen, und ich habe es auch alles in meine Decke gestickt. Sie muß neben meinem Stuhle liegen. Sie ist nun freilich nicht ganz fertig geworden. Sie gehört dir, die Decke. Aber leider, ein Weihnachtsgeschenk ist sie nicht. Ich hatte dir nichts diesmal, es hat mir recht weh getan.«

»Und noch viel anderes, Seelchen.«

Der Herr Professor findet, daß er überflüssig ist, und will sich erheben: aber Harro hält ihn fest: »Bitte, bleiben Sie!«

Und die Prinzessin sagt: »Du bist so groß über mir, Harro, – setze dich doch dorthin.«

Dieser Graf ist der vernünftigste Mensch, den der Doktor je in einem Krankenzimmer gesehen hat. Nun setzt er sich hin, nicht zu nahe, nicht zu ferne von dem Bett und versteht da zu sitzen, daß man ganz beruhigt wird, wenn man ihn nur ansieht. Ruhig und nicht lässig, so wie es die Leute tun sollten und es meistens nicht fertig bringen. Und die Prinzessin sieht mit ihren großen sanften Augen nach ihm, als wärme sie sich an seinem Anblick. Sie schweigen beide. Aber es ist kein bedrücktes Schweigen, kein Schweigen, wobei man das Gefühl hätte, als warte eines auf irgend ein Wort, wie es nun fällt, – ein Schweigen, das gutmütige und nervöse Menschen zu den törichtsten Reden zu verführen pflegt. Nein, es ist ein gesättigtes Schweigen, wenn man so sagen kann. Wozu das Zungenwerk? Wir verstehen uns auch so. –

Aber dem Doktor gefallen ihre schöne Ruhe und die Stille und ihre sanften Augen, in denen beinahe ein Lächeln liegt, nicht. Nun darf sie sich noch ganz sanft, nur ein wenig, ausstrecken, ihre Hände etwas heraufziehen –.

Und dieser sichere Mann da wird wohl auch etwas aus seiner beneidenswerten Ruhe kommen. Den Berg hinauf geht es jetzt sehr viel schwerer als hinunter.

Und der Doktor kommt wieder mit seinem Trank und gibt ihn dem Grafen ... er kann sie wohl am ehesten dazu bewegen.

Harro steht sofort auf. »Fräulein, helfen Sie, schieben Sie den Arm unter das Kissen. – Seelchen, das sollst du nehmen.«

»Ach, Harro – nein – du weißt nicht ... ach, könnt Ihr mich nicht lassen? Muß ich denn durch die Glut und die Hitze und die Pfeile nach Jerusalem –«

»Sie müssen, Prinzessin! Sie werden doch nicht jetzt schon den Kampf aufgeben ...« flüstert der Professor.

»Muß ich, Harro?«

»Du wirst wohl müssen ... ich ... nein ... ich zwinge dich nicht. Wenn du nicht willst, so stell ich das Glas fort, und wir lassen dich in Ruhe. Und ich bleibe noch bei dir, wenn du es wünschest. Vielleicht kannst du ein wenig schlafen ...«

»O wie gerne ... aber ich darf nicht. Sieh ... die Augen –«

»Es ist niemand da, quäl dich doch jetzt nicht damit.« »Ich muß, ich muß – Harro gib mir das Glas. Ich danke dir, daß du es mir erlassen hättest. So gut wie du ist niemand. Und nun mußt du gehen. Und Herr Geheimrat auch. Bitte. Ich danke sehr, sehr. Lebwohl.«

Ja, sie müssen gehen. Der Doktor zuckt die Achseln und begleitet sie hinaus. Ja, es kann die Nacht so hingehen.

»Ich wohne im Hotel Angst, Herr Doktor, und bin dort zu erreichen, wenn man mich in der Nacht noch wünschen sollte.«

»Wenn ich Leute hätte in diesem verwunschenen Hause,« ruft der Doktor ärgerlich. »Es muß ein Diener da sein, aber er sei auf einem englischen Dienerball.«

»Beruhigen Sie sich, Herr Doktor, ich werde ihn schon an den Löffeln nehmen, wenn nicht leiblich, so durchs Telephon, in einer halben Stunde haben Sie ihn,« sagt der Thorsteiner.

Wie sie hinausgehen, sieht Harro neben dem Stuhl der Prinzessin eine zusammengelegte Arbeit liegen. Das ist wohl die Decke. Er öffnet die Rolle ein wenig ... Dann schlägt er sie sorgfältig zusammen und nimmt sie mit.

Und nun gehen sie zusammen, zuerst in Harros Hotel, denn in seiner Pension wird der Herr Professor nichts mehr zu essen bekommen. Und Harro bittet sehr, der Geheimrat möchte ihm doch die Ehre erweisen, sein Gast zu sein. Dann gehen sie mit einer Zigarre in den Rauchsalon, wo zwischen hohen Palmengruppen bequeme Korbstühle stehen. Nur wenige Menschen sind da. Ein runder Platz am tiefen Fenster, von wo aus man ein ungewisses Blinken vom Meere her sieht, ist noch leer. Harro raucht eigentlich nur zum Schein, auch der Herr Geheimrat hat sich eine sehr blonde Zigarre angesteckt. Die Unruhe bemeistert sich so leichter.

»Warum die Prinzessin uns plötzlich fort haben wollte?« beginnt der Professor.

»Das kann ich mir denken, sie leidet. Ich sah es an ihren Händen.« Er seufzt. »So dasitzen – ich wäre lieber geblieben, nun ich doch einmal da war.« »Herr Graf, wie kam es, daß Sie nun so plötzlich dastanden, da man Sie herbeiwünscht? Haben Sie das immer so an sich?«

»Nein, leider nicht. Und können Sie mir einen Anhalt geben, was ich nun mit dem Fürsten bereden soll?«

»Die Prinzessin hofft Hilfe bei Ihnen zu finden. Ich kann Ihnen nichts Genaueres sagen. Irgendwelche Umstände müssen zusammen gekommen sein, daß der Fürst seiner Tochter eine schlimme Tat zuschreiben zu müssen glaubt. Sie sagt: Ich habe meine Ehre verloren, ich muß meinem Vater als grausam, feig und heimtückisch gelten.«

»Unmöglich, ganz unmöglich, das kann der Fürst nicht glauben.«

»Die Prinzessin sagt, er hat gute Gründe.«

»Was kann das sein? Was kann es nur sein?«

»Kann es vielleicht mit dieser Mutter – eine Stiefmutter ist es doch – zusammenhängen ... Wie ist sie denn?«

»Nun, oberflächlich, ein wenig ungeeignet für die Braunecker Herrschaft. Ich meine, sie hätte ebensowohl eines reichen Schlächtermeisters Sohn heiraten können, so in der zweiten Generation, wo das Geld schon etwas gewaschen ist. Ich habe einmal einen wahren Greuel von Bild von ihr gemalt. Und die Leute machen erst noch eine Menge Aufhebens davon. Ich schämte mich dabei. Der Fürst hat auch den guten Geschmack gehabt, das Bild nicht in seinen Ahnensaal zu hängen, es treibt sich irgendwo herum – auf Ausstellungen. Nein, wie ihr Bild ist sie nicht ... Ihre Stieftochter liebt sie ja nicht gerade innig, was man auch kaum von einer jungen lebenslustigen Dame ihrer heranwachsenden Tochter gegenüber verlangen kann. Auch ist das Seelchen durchaus nicht leicht zu verstehen, und wenn man nicht den Schlüssel zu ihrem Wesen hat, reichlich geheimnisvoll. Versteht sich auch auf den passiven Widerstand bei aller Sanftmut. Sie ist darin wie Wasser, weich und sanft und stark. Das alles empfiehlt sie ja einer Stiefmutter nicht sehr. Von irgend welchen Grausamkeiten, welche die Fürstin an ihr verübt hätte, habe ich nie das mindeste gehört.« »Und der Fürst?«

»Oh, ein durchaus vornehmer Mensch. Grand Seigneur, sehr sogar. Er kann darin so wenig aus seiner Haut wie wir alle. Seine Tochter hing ihm sehr am Herzen, ohne daß er sie darum besonders gut verstanden hatte. In seiner Ehe hat er eine Reihe Enttäuschungen erlebt. Haus Brauneck wartet immer noch auf einen Erben.

Die Aufgabe, die mir die Prinzessin zugeteilt, mit ihrem Vater zu reden, ist so ziemlich die peinlichste und schwierigste, die ich mir denken kann. Ich habe den Fürsten seit Jahren nicht mehr gesehen, bin unter Umständen von ihm geschieden, die es mir nahelegten, meine Persönlichkeit für einige Zeit aus seinem Gesichtskreis verschwinden zu lassen. Und tauche nun plötzlich hier auf, wo man mich am allerwenigsten wünscht oder erwartet ...

Ob der Fürst mich anhören will. Ob er nicht von vornherein sich jede Einmischung in seine innersten Angelegenheiten mit mehr oder weniger Höflichkeit verbittet ...

Ich sehe mich schon in Situationen!

Zum erstenmal reut mich bitter, daß ich immer noch weder verheiratet noch verlobt bin. Ich würde mich auf der Stelle verloben, wenn nur irgend ein verlobungsmöglicher Gegenstand in der Nähe wäre. Dem Seelchen muß ich zu Hilfe kommen.«

Der Herr Geheimrat lächelte ein wenig: »Nun, ein solches Opfer, das immerhin seine Konsequenzen hätte, wird doch nicht nötig sein.«

»Wenn ich nur dem Fürsten klar machen könnte, daß kein Mensch sich des Abstandes zwischen mir und seiner Tochter so klar bewußt ist wie ich.«

Harro stand auf. Das ferne Blinken auf dem Meere wurde deutlicher, irgendwo mußte ein Mondschein hinfallen. Ferne Lichter leuchteten auf. Da zog wohl ein stolzer Lloyddampfer vorüber, fern, ganz fern ... Er seufzte auf. »Ich halte Sie auf, Herr Geheimrat, ich hänge meine Unruhe an Sie.«

»Ich gehöre, wenn ich einmal anfange, zu den Hockern, wie man in Tübingen sagte. Ich möchte solche späte Abendstunden, wo der Mensch sich immer mehr von seinem Alltagsgetriebe entfernt und man tiefer in die Seelen eindringt, nicht aus meinem Leben streichen.

Und es ist ganz unmöglich, nicht den allerherzlichsten Anteil an dieser Psyche zu nehmen. Ich habe noch nie ein so adelig vornehmes Mädchen gesehen. Ich hoffe, Sie verstehen mich. Es gibt in jedem Stand vornehme Seelen, – wobei ich allerdings sagen muß, daß mir unter der modernen Arbeiterbevölkerung, so wie sie sich jetzt heimatlos in großen Städten herumtreibt, noch nie eine begegnet ist. Doch da ist wohl meine Erfahrung beschränkt, und es ist mir vielleicht zu wenig gelungen, mich in diese Denkungsweise hineinzufinden. Es wäre schlimm für unser Volk, wenn es so wäre, – aber dies ist nun wieder etwas anderes. Die Prinzessin – sie muß einmal wertvolle Söhne bekommen. Dieser bei einem Mädchen doch ungewöhnlich hohe Begriff von Ehre. Um das, was man sonst Mädchenehre nennt, kann es sich ja nicht handeln.«

»Die Ehre, Herr Geheimrat, das ist ein Kraut, in ihrer innersten Herzkammer gewachsen. Mit elf Jahren hatte sie schon ein Ehrenwort. Kein Mensch wußte, wie sie zu dem Begriff kam. Ihre Erzieherinnen waren nicht geeignet, Seelenkräfte zu entwickeln, sie dressierten nur.«

»Das muß man wissen, Herr Graf. Ich freue mich, daß Sie Künstler sind. Ich sah es Ihren Augen an, – sofort, aber ich wußte nicht, ob Sie der Kunst auch leben.«

»Mit dem allergrößten Teil meines Herzens. Nur einen Winkel habe ich noch für meine Heimat übrig behalten. Es gab da manchmal schmerzliche Kollision der Pflichten. – Ich weiß, Herr Geheimrat, daß es die im höchsten Sinne nicht geben soll, es sieht aber manchmal verzweifelt so aus. Und nun fangen sich ja die beiden Herzensteile zu versöhnen an.«

»Wie mich das freut, Herr Graf ... Ihre Augen ... Gott segne Ihre Augen.«


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