Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Dreizehntes Kapitel: Die Kirchenstube.

Es ist ein schöner und stiller Winter in Brauneck. Rosmarie läuft Schlittschuh auf dem Fluß, wo es sicher ist, und geht mit Eifer in ihren Konfirmationsunterricht. Sie läßt ihre Haare nicht mehr offen hängen, sie werden schon zu lang dazu. Sie bekommt zwei breite Zöpfe geflochten, die mit einem Band vereinigt sind, und ein dunkelblaues Schulkleid mit Mantel und Kappe. Frau von Hardenstein begleitet sie bis an den Eingang der Kirchenstube, die hoch und dunkelgetäfert ist und in der die langen schwarzen, mit weißer Schrift bemalten Tafeln hängen. Die Namen der längst verstorbenen Hofprediger, Speziale und Stiftsprediger stehen darauf, alle mit weißen Kreuzen hinter den Namen. In Brauneck war einst ein Chorherrenstift gewesen, das die alten Braunecker Herren begründet hatten. Der jetzige Prinzessinnenbau, ein schönes, steinernes Giebelhaus, war das Stift gewesen. Nun lebte von allem nur noch der alte Titel fort. Der erste Name ist aus dem Jahre 1588.

Alte Holzkästen, roh, unangestrichen, stehen da, und es wäre sehr interessant, in sie hineinsehen zu dürfen. Auf dem Pulte, der auch von rohem Tannenholze ist, steht ein großes altes geschnitztes Kruzifix, überall an den Wänden, dem Pulte, sind ungezählte Tintenflecke und -Spritzer. Rosmarie wunderte sich im stillen, warum es wohl hier Tinte geregnet habe. Sie sitzt mit den Mädchen auf der hinteren Bank, die Knaben sitzen vorne. Rosmarie liebt bald die alte Kirchenstube aufs innigste. Es ist eine ganz besondere Luft da. Ein kleines braunes Kachelöfchen mit Löwenfüßen muß mit buchenen Klötzen gefüttert werden. Dann brummelt es vor sich hin und hat ein feuriges Äuglein und streckt plötzlich eine lange goldene Zunge heraus. Die beste Schülerin, die Erste, wie sie genannt wird, hat das Ehrenamt, den Ofen zu füttern. Es wäre Rosmaries höchster Ehrgeiz, einmal mit diesem Amt betraut zu werden. Aber mit einem Seufzer der Beschämung gesteht sie sich, daß sie dies hohe Ziel auch wohl bis zum nächsten Jahre nicht erreichen wird. Die andern Kinder, namentlich die Mädchen, wissen so viel.

Nach dem Unterricht wird gebetet, und nun kommt ein stolzer Augenblick. Rosmarie wird nicht abgeholt, sondern geht mit den andern Mädchen in breiter Reihe den Weg zum Schloß hinunter. Die Mädchen haben wohl zum Teil einen andern Weg, aber ihre Bank begleitet sie immer bis zur Schloßbrücke. Weiter trauen sie sich nicht, denn da gehen schon die Schokoladefarbenen. Zuerst sprechen sie nichts miteinander. Rosmarie wagt nicht anzufangen und die andern auch nicht. Aber einmal ist Postmeisters Eugenie so freundlich und zeigt Rosmarie in der Stunde eine Bibelstelle, die in ihrer Bibel absolut nicht zu finden war. Und nun ist das Eis gebrochen. Auf dem Heimwege sprechen schon alle durcheinander wie die jungen Vögel. Die Zöpfe fliegen und die Röckchen, und die Zungen stehen keinen Augenblick still. Rosmarie sagt am wenigsten, aber sie lächelt zu dem, was die andern sagen, und hört so eifrig zu, als habe sie im Leben nie Interessanteres gehört, als daß Apothekers Julie den schlechtesten Aufsatz gemacht habe, und daß es bei Notars ein kleines Kind gebe. Ein Kinderwagen stehe schon im Hausflur, ganz weiß mit vergoldeten Knöpfen.

Und eine ganz Kühne will wissen, ob es wahr sei, daß Rosmarie zum Frühstück immer Schokolade mit Schlagsahne und gefüllte Krapfen bekomme und jeden Tag alles frisch von Kopf bis zu Fuß anziehe. Zu der Schlagsahne will sich nun Rosmarie nicht bekennen, aber sie sagt errötend:

»Man kann doch nur frische Wäsche tragen.«

Rosmarie bemüht sich, ebenso mit den Zöpfen zu schlenkern und die Bücher hin und her zu schwingen wie die andern Mädchen. Wenn sie aber einen Spruch aufsagen soll, so grinsen die Buben und kichern die Mädchen. Es klingt so kurios. Als wollte sie zu singen anheben, und so hoch! komisch ist's. Rosmarie strengt sich sehr an, um den schulmäßigen Leierton, mit dem die andern aufsagen, herauszubringen. Als es ihr aber zum erstenmal gelungen ist, einen Spruch schier wie Postmeisters Eugenie herzusagen, da runzelt der Herr Stiftsprediger die Stirne und sagt:

»Rosmarie, wo sind Ihre Gedanken? Sagen Sie erst wieder einen Spruch auf, wenn Sie auch etwas dabei denken wollen.«

Rosmarie setzt sich glührot nieder, mit Mühe hält sie die Tränen zurück. Herrn Stiftsprediger zu erzürnen ist ihr furchtbar. Sie muß sich so bitterlich schämen, daß sie am Schluß nur nach ihrem Mantel greift, ihre Mütze vergißt und allen voranläuft in ihr bergendes Schloß. Und dreimal übergeht sie beim Aufsagen der Herr Stiftsprediger: welchen Schmerz er ihr damit bereitet, kann er freilich nicht wissen. Ihr Lehrer bekommt einen Platz in ihrem Herzen gar nicht so sehr weit unter Harro. Dem Thorsteiner wird es langweilig, immer nur von der Kirchenstube zu hören. Frau von Hardenstein bekommt den ganzen Unterricht zu Hause noch einmal erzählt, fast Wort für Wort, mit jedem Stirnrunzeln und Innehalten und wann Herr Stiftsprediger Rosmarie bei einer Stelle besonders angesehen hat. An Ostern ist leider der schöne Unterricht zu Ende. Apothekers Julie und Postmeisters Eugenie werden konfirmiert und Rosmarie wird im nächsten Jahr auf die erste Bank vorrücken. Wenn Rosmarie nicht eine Prinzessin wäre, so dürfte sie gewiß auch den Ofen schüren, meint die zweite Bank. Und dann ist alles, wie es vorher war. Rosmarie geht nicht mehr mit den Mädchen in Reihen über die Straße. Die grüßen sie scheu, und wenn sie mit Frau von Hardenstein bei ihnen stehen bleibt, so wissen sie nicht viel zu sagen.

Papa kommt und später Mama, und die bringt eine Masse schöner Toiletten mit und eine französische Kammerfrau. Und einen ganzen Vetternschwarm. Kein Mensch kann mehr Vettern haben als Mama. Harro läßt sich gar nicht mehr blicken, so wenig freuen ihn die Vettern. Die auf die Jagd gehenden, die Klavier spielenden, die Scheiben schießenden, die mit dem Kodak herumlaufenden und knipsenden Vettern, sie freuen ihn alle gleich wenig. Zum Glück bleibt wenigstens der Lindenstamm, Rosmaries eigenstes Reich, vetternfrei. Papa hat Falten auf der Stirne und müde Augen. Aber als Mama in Bayreuth ist, werden doch ein paar Feste gefeiert, der Lilientag und eine wunderbare Ausgrabung seltsamer Altertümer auf der Römerwiese. Und zum erstenmal festet Papa mit, und zu Rosmaries größtem Erstaunen gehört er zu den Menschen, die Feste feiern können. – Wenn man ihn allein hat! –

Im Herbst gehen Fürst und Fürstin nach Tirol auf die Gemsenjagd, und Harro ist auch eingeladen mitzugehen. Und er möchte sehr gern, kann aber die Einladung nicht annehmen, weil ein Hamburger Herr Fresken für seinen Saal bei ihm bestellt hat und er dorthin reisen muß. Und dann wird es wieder sehr still in Brauneck. Der Fürst hat gehofft, seine Tochter wenigstens bis Weihnachten bei sich haben zu dürfen, aber diese junge Dame hat plötzlich angefangen zu wachsen. In zwei Monaten ist sie eine Handbreit gewachsen, als der Fürst von Tirol wiederkommt, entsteht allgemeines Entsetzen. Mama will sich ausschütten vor Lachen. Rosmarie wird eine Riesendame, eine Riesendame mit Entenfüßen, wenn das so weiter geht.

Der Herr Hofrat wird konsultiert und meint, es könne sein, daß sie nun ihre Höhe erreicht habe, verlangt aber Vorsicht und größte Schonung, weil das Herz doch nicht ebenso schnell mitwachse. Rosmarie bleibt also in Brauneck und kehrt sich leider nicht an Herrn Hofrats Ausspruch, sondern wächst ruhig weiter. Und nun beginnt der Unterricht wieder. Wer den Ofen füttern darf, gegen diese einst so brennende Frage ist Rosmarie äußerst kühl geworden. Sie erzählt auch nicht mehr den ganzen Unterricht mit jedem Stirnrunzeln und Aufseufzen des Herrn Stiftspredigers wieder, sie ist ganz still darüber.

Harro ist wieder von Hamburg zurück und sehr beglückt über seinen Auftrag. »Das hebt den Bau bis zum ersten Stockwerk aus dem Boden, Seelchen.«

Rosmarie macht eine kleine frostige Miene, die man noch nie an ihr gesehen hat. »Ich freue mich gar nicht, wenn du dem Hamburger die Wände malst. Wie darf der sagen: malen Sie mir meine Wände! – Du hast selbst bald Wände, die du malen kannst.«

»Wo sind, bitte gefälligst, die Wände, die ich malen kann? Und haben vielleicht Euer Durchlaucht von einem gewissen Michel Angelo gehört, der auch Wände für Wochenlohn und freie Station gemalt haben soll?«

Rosmarie wird dunkelrot. –

»Ich mag doch den Hamburger nicht. Wenn es Bilder wären, – aber Wände, die kann man ihm nicht mehr nehmen.«

»Wer wollte das? Dieser Hamburger ist ein feiner und großartiger Mensch. Der Festsaal, den ich malen soll, liegt über der Elbe, und man sieht die Schiffe durch die weiten Bogenfenster vorbeiziehen. Und er läßt mir jede Freiheit, nur möchte er meine Skizzen zuvor sehen. Wenn er das erste nicht gewährte, möchte ich nicht für ihn arbeiten: wenn er das zweite nicht verlangte, auch nicht.«

»Wie lange wirst du in Hamburg sein?«

»Wohl den ganzen nächsten Sommer. An Ostern gehe ich nach Paris, ich brauche einige Modellstudien.«

»Ja, warum dorthin? Warum mußt du deine Modellstudien in Paris machen?«

»Das muß ich, hier gibt es keine Modelle.«

»Sind die Leute in Paris so viel schöner?«

»Hier gibt sich niemand zum Modellstehen her, und wer hat denn von den Menschenkindern hier noch einen unverkrüppelten Körper?«

»Harro, warum verkrüppelt man sich denn?«

»Weil es für schön gilt.« »Harro, ist dieses Gesprächsthema so sehr passend?« warf Frau von Hardenstein ein. »Wichtig wäre es schon, Frau Mutter, aber möglicherweise unpassend. Übrigens bescheide ich mich, ich bin nur gefragt worden.«

Aber Rosmarie ist ebenso hartnäckig wie früher.

»Bin ich auch schon verkrüppelt?«

»Du nicht, nein.«

»Dann will ich es auch nicht werden.«

Frau von Hardenstein erhob sich: »Harro, ich meine, wir gehen definitiv auf ein anderes Thema über; bitte, begleiten Sie mich ins Säulenheim, ich möchte Ihnen etwas zeigen, was mir meine Kinder geschickt haben. Rosmarie, ich glaube, Sie haben noch zu lernen.«

Im Säulenheim legte Frau von Hardenstein ihre Hand auf Harros Arm.

»Bringen Sie mir das Kind nicht in zu viel Widersprüche mit ihrer Umgebung. Sie glauben nicht, was sie um der Schuhe willen alles hat anhören müssen. Und nun noch mehr Eigenheiten.« Harro blickte schuldbewußt.

»Das möchte ich nun freilich nicht, daß sie damit geplagt würde, aber ich meine, die Erhaltung eines gesunden und schönen Körpers sei immerhin einige unangenehme Augenblicke wert.«

»Ach, Sie übertreiben! Wenn man Sie hört, könnte man meinen, wir seien alle krank und häßlich. Aber streiten wir nicht mehr. – Ich muß mich jetzt an den Gedanken gewöhnen, daß wir Sie nun nicht mehr so schön in der Nähe haben werden. Wie schnell sind die Jahre dahingegangen ...« seufzte sie.

»Für mich auch. – Bis ich nun lerne, mich wieder in einen Höhlendachs zurückzuverwandeln.«

»Harro, Sie wollen uns doch die Freundschaft nicht kündigen? Wir sehen Sie vielleicht nicht mehr in der gleichen, ach, so gemütlichen Weise, aber darum ...«

»Sehen Sie, Frau Mutter, wie Sie anfangen zu nuancieren ... Ich bin aber nicht der Mann der Nuancen, wenigstens in meinem freundschaftlichen Verkehr nicht. Erinnern Sie sich, was Sie zu mir unter demselben Säulenschatten sagten: Man wird Ihnen eines Tages zu verstehen geben usw. Nun, ich erwarte diesen Wink nicht. Ich verschwinde schon vorher. Es wäre mir entsetzlich, wenn mir der Fürst einen berechtigten Vorwurf machen könnte. Rosmarie ist noch ein Kind, das können Sie an ihren direkten Fragen sehen ... sie ist nur lang gewachsen. Es kommen die Jahre, wo sie zu leben beginnt, bis jetzt hat sie nur geträumt. Ich glaube nicht, daß sie mich vergessen wird: bin ich aber in diesen Jahren aus ihrem Gesichtskreis getreten, so werde ich in ihrer Erinnerung zu den guten alten Onkels gesellt werden, die sind ungefährlich.«

»Harro, wenn Sie recht hätten. – Freilich ist Rosmarie noch ein Kind, aber ihre Liebe zu Ihnen –«

»Warum sollte ein liebes Kind den guten alten Onkel nicht lieb haben? Liebe Frau Mutter, hätte die Rosmarie ihr Wachstum vernünftig eingeteilt und hätte sie sich nicht in den Kopf gesetzt, plötzlich emporzuschießen wie eine Hopfenranke, so wären uns diese Gedanken gar nicht gekommen. Aber da sie nun ein so langes Kind ist ...«

»O Harro, Sie haben mir das Herz schwer gemacht. Sie haben ja recht. Aber meine arme Rosmarie!« – – –

Rosmarie soll nun eingesegnet werden. Es ist schon längst kein Zweifel mehr, wer die Erste ist. Auch wenn die Rosmarie keine Prinzessin wäre, das gibt sogar die Bubenbank zu. Der Herr Stiftsprediger hat eine eigene Art, ihren Namen aufzurufen und sie anzusehen, wenn sie spricht. Sie ahmt auch nicht mehr den Schulton nach, sie hat immer noch ihre hohe Kinderstimme, aber es lacht keines mehr über sie, obgleich sie nach Ansicht der Mädchenbank zuweilen die seltsamsten Sachen sagt. Der Herr Stiftsprediger scheint es aber nie sonderbar zu finden, sondern er nickt ihr zu:

»Das ist also Ihre Auffassung, Rosmarie.«

Doktors Elisabeth, die das Lehrerinnenexamen machen will und einen brennenden Ehrgeiz hat, sagt zu der kleinen dicken Berta Schlicht neben ihr: »Die Rosmarie hat immer eine ›Auffassung‹. Das kommt, weil sie vom Schloß ist: wenn ich oder du etwas sagen, dann ist's keine Auffassung, dann ist's falsch.«

Aber die kleine Dicke schüttelt den Kopf: »So ist der Herr Stiftsprediger nicht. Das ist dem einerlei, ob sie auch vom Schloß ist, aber weil es der Rosmarie immer so arg ernst ist, deshalb heißt's eine Auffassung.«

Frau von Hardenstein schaut manchmal mit fragenden Augen nach dem Kinde, wenn es über seinen Büchern so versunken dasitzt.

Und nun sollen morgen schon Fürst und Fürstin wiederkommen. Sie wollen vor der Einsegnung noch einige Zeit da sein, obgleich es noch rauh ist und kaum die ersten Schlehenbüsche ihr weißes Kleid angezogen haben. Harros Abreise ist auch schon nah herbeigekommen ... Rosmarie hat noch so viel zu denken über den kommenden großen Tag, daß ihr die traurige Tatsache, daß Harro den ganzen schönen Sommer nicht da sein wird, etwas verdeckt ist. Aber je näher der Tag heranrückt, desto bedrückter und stiller wird Rosmarie.

Ist es Harros Abreise oder greift sie der Unterricht zu sehr an, denkt Frau von Hardenstein. Eines Abends, als sie noch neben Rosmaries Bett sitzt, fragt sie sanft:

»So sagen Sie mir doch, liebes Kind, was Sie bedrückt.«

In Rosmaries Augen steigen Tränen.

»O Frau von Hardenstein, ich habe Kummer.«

»Sprechen Sie sich aus, es wird Ihnen leichter.«

»Ich, – o, ich ... man kann mir nicht helfen ... ich möchte nicht konfirmiert werden.«

Frau von Hardenstein schaut in sprachlosem Staunen auf das bitterlich weinende Kind.

»Aber ich höre doch immer mit solcher Freude, wie Herr Stiftsprediger Ihre innige Anteilnahme an allem bemerkt, und nun wollen Sie nicht konfirmiert werden! Sind Ihnen denn böse Zweifel gekommen ...« »Ich muß Dinge versprechen ... und wollte so gern und kann's doch nicht.«

»Ihr Gelübde macht Ihnen Kummer. – Ich finde auch, man verlangt viel von den jungen Herzen ... Ich werde morgen mit Ihrem gütigen Lehrer sprechen. Er wird herkommen, er hat es mir schon angeboten, und allein mit Ihnen reden ... Sie können sich ihm anvertrauen.«

»Wie kann ich das, – ich kann ihm doch nichts sagen ... Ich will, aber ich kann nicht ...«

Bitterliches Weinen und Schluchzen.

»Warum wollen Sie und können nicht –«

»Oh, wegen Harro.«

»Was hat denn Harro dabei zu tun? Harro sagt manchmal Dinge, die leichtfertig klingen, aber er würde gewiß in nichts Ihren frommen Glauben antasten!«

»Nein, das nicht ... Aber er will nicht tun, was Herr Stiftsprediger denkt, daß alle frommen Männer tun. Er will ganz allein für sich leben, und von Jesus spricht er nie ein Wort. Und wenn er ihn sehr liebte, würde er doch von ihm reden. Er sagt immer: ›Ich verstehe das nicht,‹ und: ›Das mußt du den Herrn Stiftsprediger fragen.‹ – Und wenn er immer nicht will, so zerreißt doch das goldene Band, mit dem Gott sein Herz angebunden hat an seinen Thron.«

»Mein liebes Kind, ich sehe nicht ein, was das mit Ihrer Konfirmation zu tun hat. Das kann sich ja alles ändern, wenn Harro eine liebe fromme Frau hat.«

»Ja, sehen Sie denn nicht, wie ich immer weiter von ihm weggehe –, bis er ganz allein ist! Ich bin bei denen, die auf dem Himmelsweg gehen, und er ist allein draußen ... Und wenn die Himmelstüre zugeht und er ... – ganz allein ... in der Dunkelheit.« Rosmaries zarter Körper zittert vor Weinen und Schluchzen... »Sein goldenes Band zerrissen ... Ich kann es nicht: ich muß bei ihm bleiben.«

»Rosmarie, weinen Sie nicht mehr. Warten Sie bis morgen. Morgen kommt Herr Stiftsprediger zu Ihnen, und Sie reden mit ihm. Aber nicht wahr, ich kann mich darauf verlassen – von Harro reden Sie nichts!«

»Aber Frau von Hardenstein, das wäre ja, als wollte ich Harro verklagen.«

»Nun schlafen Sie, Rosmarie, und hoffen Sie auf morgen.«

Der Herr Stiftsprediger sitzt Rosmarie gegenüber an dem alten runden Tisch, auf dem ein Schlehdornzweig steht, der die Luft mit seinem bittersüßen Duft erfüllt. Auf den Steinplatten des Lindenstamms liegt goldener Sonnenschein. Drüben über den Waldhöhen jagen weiße Wolkenfetzen über einen blauen Himmel. Manchmal fällt auch ein Wolkenschatten herein, dann erlischt das Gold auf den Steinplatten und das hohe Gemach füllt plötzliche Dämmerung. Rosmarie schmiegt sich ängstlich und blaß in ihren Stuhl. Sie sieht fast jungfräulich aus in ihrem langen Kleide und den um den Kopf gelegten dicken Flechten. Das feine schneeweiße Hälschen steigt aus dem kleinen Ausschnitt ihres Kleides auf wie die Blüte der Herbstzeitlose aus dunklem Erdreich. Man sieht ihr immer noch an, daß sie gestern geweint hat, – scheu ist sie.

»Sie haben mir immer sehr viel Freude gemacht, Rosmarie,« beginnt der Herr Stiftsprediger. »Sie konnten nicht nur verstehen, was wir durchgenommen haben, sondern selbständig umdenken und mit Ihren eigenen Worten wiedergeben. Ich bin da manchmal überrascht gewesen. Namentlich auch darin, daß Sie, was bei Mädchen seltener vorkommt, keiner Schwierigkeit aus dem Wege gegangen sind, sondern diese immer noch ein Stück weiter verfolgt haben, als ich mit den andern Kindern schon tun konnte. In letzter Zeit habe ich bemerkt, daß Sie etwas bedrückt hat. Ich habe auch Ihrer gütigen Erzieherin, der Sie so viel verdanken, gesagt, daß ich gerne noch irgend welche Fragen Ihnen beantworten würde, wenn es in meiner Macht steht. Wir großen Leute haben auch nicht alle Fragen gelöst, Rosmarie.«

Er lächelte ein wenig und sah auf seine Hände herab und saß freundlich zuwartend da, ob Rosmarie nun Mut finden würde, ein Wort zu sagen. Aber sie schweigt. Da sagt er ohne aufzusehen: »Macht Ihnen Ihr Gelübde Schwierigkeiten?«

»O Herr Stiftsprediger, ich kann es nicht, ich kann es nicht ... ich bin still gewesen, wenn die andern Kinder es lernten.«

»Es sind alte Formen, Rosmarie. Es bekümmert mich oft selbst, daß unsere Kirche keine neuen Formen für diese so wichtige Sache findet oder gestattet. Es ist eine längst vergangene Zeit und keine der großen religiösen Zeiten unseres Volkes gewesen, die sie geschaffen hat. Ich habe Ihnen oft zu sagen versucht, wie jede Zeit ihre besondere Gotteserkenntnis hat, daß Formen immer viel länger leben als die mit ihnen verbundenen Anschauungen. Aber das ist es nicht, was Sie jetzt brauchen. Ich sehe, daß Sie dies alles sehr angreift, weinen Sie nicht, Rosmarie, wir wollen es so machen. Ich weiß, daß Sie Ihre Gedanken ganz gut schriftlich ausdrücken können. Schreiben Sie mir auf, was Sie selbst von Herzen glauben gelernt haben, in so wenig Worten wie möglich, Sie sollen ganz Freiheit haben. Schreiben Sie mir auf, was Sie auch vor Menschen bekennen würden, wenn Sie es müßten. Wollen Sie es gleich jetzt tun, so will ich warten, ich habe Zeit, und Sie können mich vielleicht doch noch um etwas fragen ... oder wollen Sie es mir schicken?«

»Ich will es lieber gleich jetzt schreiben, ich habe mich besonnen.«

Rosmarie stand auf und holte sich aus ihrer grünen Ledermappe einen Briefbogen, von den neuen, auf denen zum erstenmal eine Krone gedruckt war, und schrieb scheinbar ohne jedes Besinnen, als schreibe sie etwas ab. – Ach, sie hatte alles so oft bedacht in den letzten Tagen und Nächten und damit gerungen und sich abgequält. –

»Ich glaube an Gott, der die Welt geschaffen mit allen Erden, Sonnen, Sternen und Menschen. Ich möchte ihm danken, daß er die Erde so schön gemacht, grüne Wälder und das starke Himmelblau darauf, blanke Wasser und liebste Bäume und den Wind, der sie streichelt. Gott hat auch gemacht die feuerspeienden Berge, die wilden Stürme, den bittern Tod, die Einsamkeit, die Qual. – Damit wir ihm auch dafür danken können, hat er uns Jesus gesandt in die Welt und hat Jesus kennen lassen die Qual, die Einsamkeit, den bittern Tod. Ihm möchte ich dienen, so wie ich ihn liebe, und mein Herz ist nur traurig, weil ich ihn immer noch nicht genug liebe.«

Sie schaute zögernd auf, soll ich noch mehr schreiben? –

»Nein.«

Sie schiebt das Blatt ihrem Lehrer hin, der es nimmt und damit ans Fenster tritt. Der Wolkenschatten hat das Gemach wieder so verdüstert, oder er will nicht gesehen werden, wenn er es liest. Dann wendet er sich:

»Ich kenne ja Ihre Gedanken und sehe aufs neue, wie Sie darin leben. Sollte Ihnen wirklich die alte Form Schwierigkeit machen?«

»Es ist noch etwas dabei ... Ich will es aufschreiben, – oh, ich kann's nicht sagen.«

Sie nahm das Blatt wieder und schrieb darauf mit großen zitternden Buchstaben: »Ich will nicht in den Himmel kommen, ich will bei denen bleiben, die draußen sind in der Dunkelheit.«

Dann gab sie es wieder zurück und verbarg ihr Gesicht in ihre Hände und legte ihren jungen goldenen Kopf auf den Tisch mit seiner grünen Decke, und die zarten Schultern zuckten leise. Der Herr Stiftsprediger legte ihr sanft die Hand auf die Achsel: »Liebes Kind, trauen Sie sich selbst mehr Erbarmen zu als Gott? Wer sind die, die draußen stehen? – Meinen Sie, Gott verstünde nicht allerhand Gebräuche, Sprachen und Wesen der Menschen? Denken Sie denn, er schlösse seine Himmelstüre zu vor irgendeiner sehnenden Seele, oder verlangt irgendein Gelübde oder eine bestimmte Denkungsweise? Und kann ein Mensch vom andern seine tiefsten Geheimnisse wissen? Ist nicht, solange ein Mensch auf Erden geht, Hoffnung vorhanden, daß er sich eines Tages aufmacht und wie der verlorene Sohn zu seinem Vater zurückkehrt! Und selbst, wenn ein Mensch in unseren Augen verloren erscheint, was wissen wir, wie Gott ihn ansieht?«

Rosmarie hob ihr Antlitz auf, noch lagen Tränen auf ihren Wangen, aber ihre grauen Augen leuchteten in fast erschreckendem Glanze. Sie ergriff die Hand ihres Lehrers:

»Ich möchte konfirmiert werden! Ich lerne gewiß immer mehr lieben, und wenn Gott alles so gut versteht ... Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen!«

»Rosmarie, Gott wird Sie noch zum Segen machen für dieses Haus, wenn Sie treu bleiben.«

Und der Herr Stiftsprediger ging mit seinen langen, raschen Schritten zur Tür. Aber Rosmarie ging ihm nach.

»Oh, Sie wissen gar nicht, was für ein hartnäckiges Kind ich bin.«

»Und ich hoffe, daß Sie in einigen wichtigen Dingen auch hartnäckig bleiben werden.«

Und damit eilt er hinaus. Es eilte ihm aber durchaus nicht mehr, als er den langen Prinzessinnengang hinter sich hatte. Er blieb neben einer der Säulen stehen, die die steingehauenen Galerien tragen, die den Schloßhof umgehen. Er sah hinunter in den Turnierhof. Da sproßte zwischen der alten Pflasterung hie und da ein Grashalm, es jagten die Wolkenschatten darüber, daß die grauen Steine einmal goldig aufleuchteten, bald wieder düster und wettergrün blickten. Es war, als spräche er zu einer der grauen Säulen: »Hat es wohl hier schon einmal ein so schönes Herz gegeben, oder seid ihr darum immer noch eine liebe und geliebte Heimat, weil solche Herzen hier in Zeiten gewachsen sind?« – – –

Rosmarie begrüßt ihre Eltern errötend und glückselig unter dem Portal. Sogar Mama umarmt sie mit so viel Freude und Innigkeit, daß die Fürstin ganz erstaunt ist.

»Gott, wie zärtlich, Rosmarie, das bin ich ja gar nicht gewöhnt.« Und sie ist sehr gnädig und macht gar keine Einwendungen, als die Feier besprochen wird. Rosmarie darf jeder ihrer Mitkonfirmandinnen ein kleines goldenes Medaillon an goldener Kette schenken mit ihrem Namenszug. Zu dem Diner soll nur der Herr Stiftsprediger und der Thorsteiner eingeladen werden. Der Thorsteiner wird ja den ganzen Sommer abwesend sein, so ist das auch ein Abschied. Sie sind beim Essen, wie das beredet wird. Die Fürstin hatte eine Rose aus der vor ihr stehenden Kristallvase gezogen und hielt sie dann wie probend an den Ausschnitt ihres lachsfarbenen Kleides. Und nun schaut sie plötzlich auf Rosmaries blasses Gesicht und ihren zuckenden Mund, sie lächelt ein wenig und nestelt die Blume in ihren Spitzen fest.

»Der Ruinengraf in Paris! Ein unvollziehbarer Gedanke. Nun, ich mag es ihm gönnen nach seiner langen Waldmenschenzeit. Ich möchte ihn sehen, wie er sich in Paris amüsiert. Warum runzelst du die Stirne, Fried, oder wäre es wohl unpassend zu sehen, wie er sich amüsiert? Gott, es ist ihm zu gönnen. Er ist doch ein Künstler. Und hat so lange gelebt wie ein Säulenheiliger.«

Rosmaries Wangen werden wieder rot, irgend etwas in Mamas Worten macht sie zornig. Sie sagt:

»Harro geht nach Paris, weil er Modelle braucht und es so schöne Menschen bei uns nicht gibt.«

Die Fürstin lacht hell auf:

»Ach ja, daran wird es in Paris nicht fehlen.«

»Laß das,« ruft der Fürst, »du verwirrst das Kind. Erzähle mir doch von deiner Kirchenstube, Rosmarie! Hast du den Ofen nachlegen dürfen?«

»O nein, Papa, ich hätte es doch nur schlecht gemacht.«

Sie versucht zu erzählen, aber es klingt matt, und der Fürst hebt bald die Tafel auf, die schöne Stimmung ist doch irgendwie vergangen.

Wie schnell fliegen nun die Tage. Harro ist in letzter Zeit nicht dagewesen, er ist kein Freund vom Abschiednehmen. Die Einladung des Fürsten hat er angenommen, und Frau von Hardenstein hat einen Brief von ihm erhalten:

»Ich werde sogar in die Kirche kommen, was ich mir hoch anzurechnen bitte, denn die ganze Situation ist mir sehr fatal. Für andere Kinder mag ja dieses öffentliche Hersagen und Versprechen einer Sache, die sie nicht zu halten gedenken – gar nicht halten können, denn sie sind zu jung, um über sich zu entscheiden, – recht sein. Nun, die hohe Geistlichkeit mag es verantworten. – Aber das Seelchen. – Es denkt ja leider viel zu viel, und das Denken ist allemal ein Unglück. Und dann das Maschinenmäßige der ganzen Sache! So eins ums andere! Ich habe die schrecklichste Erinnerung an meine Konfirmation. Es gab ein Festmahl, und an jedem Bissen mußte ich würgen. Ich hatte zum ersten Male lange Hosen an und ein blaues, scheußliches Röckchen, und mein freigeborener Hals war in einen steifen Kragen eingezwängt. Ich schämte mich entsetzlich, aber schließlich mußte ich mich in das leere Kastenzimmer flüchten, wo allerhand Tortenreste und halbgeleerte Flaschen, die sich irgendein dienstbarer Geist daher geflüchtet haben mochte, ein anmutiges Stilleben bildeten. Dort saß ich auf einem von Vaters alten Helmkoffern und heulte wie ein junger Hund, trotz meiner langen Hosen. Also, liebste Frau Mutter, wenn es eine Quälerei gibt, so reiße ich aus, das kann ich bei dem Seelchen nicht mit ansehen. Und bitte noch eins. Bereiten Sie Rosmarie darauf vor, daß ich am Montag abreise und mich jedenfalls am Sonntag von ihr verabschiede. Wie Sie es machen wollen, Frau Mutter, ob Sie es das Seelchen am Ende gar nicht wissen lassen, und ich ohne letzte Szene in die Versenkung verschwinde, oder nicht, das überlasse ich Ihrer gütigen Weisheit. Was Sie aber beschließen, lassen Sie mich bitte wissen.«

»Nein, das geht nicht, Harro... So leicht machen wir es Ihnen nicht ...« flüstert Frau von Hardenstein vor sich hin. »Das würde das Kind nie verzeihen. Arme Rosmarie ... Er hat recht. Er muß gehen.« –


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