Paul Grabein
In der Philister Land
Paul Grabein

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XX.

So, da wären ja schon die ersten Ausbauten von Jena! Alle Wetter, hatte sich die Stadt hier, nach dieser Richtung hin, ausgedehnt! Die letzten Häuser standen ja fast schon auf Löbstedter Gebiet.

Hellmrich blieb stehen, trocknete sich die Stirn – ihm war doch heiss geworden in der brennenden Julisonne auf der schattenlosen Landstrasse – und hielt Umschau. Er war schon in Station Zwätzen aus dem Zuge gestiegen, um dem feierlichen Empfang auf dem Bahnhof durch die Aktiven zu entgehen. Ganz allein und unbemerkt wollte er seinen Einzug in Jena halten, um ungestört all die Eindrücke des Wiedersehens in sich aufzunehmen – des Wiedersehens nach sieben langen Jahren! Ja, ja, eine hübsche Spanne Zeit, da ändert sich freilich manches!

Wie oft hatte er sich in dieser langen Zeit, in guten und bösen Tagen, den Moment ausgemalt, wo er einst wieder den alten Turm der Stadtkirche, das ehrwürdige Wahrzeichen Jenas, vor sich auftauchen sehen und dann wieder einziehen würde in die engen, winkligen Gassen, durch die er so manches liebe Mal als Bruder Studio hindurchgeschlendert war. Nun war es so weit! Freilich, lange Jahre hatte es gedauert – aber, was lange währt, wird gut – und so konnte er sich denn jetzt auch, zum Mann gereift, in gefestigter Lebensstellung, an der Stätte des Jugendfrohsinns in Ehren zeigen und vor die Alemannia hintreten, heute zu ihrem 37. Stiftungsfeste.

Leider, ganz so, wie er sich das in den letzten anderthalb Jahren immer gedacht – seitdem er seine Lotte heimgeführt – wurde es nun doch nicht. Zu seinem schmerzlichen Bedauern konnte er nicht, sein blühendes, schönes Frauchen am Arm, sein altes Jena wiedersehen; denn Frau Lotte hielten ernste, aber freudenvolle Pflichten zu Hause fest: Vor acht Wochen nämlich hatte ihm seine geliebte kleine Frau, um das Glück ihrer jungen Ehe zu krönen, ein Söhnchen geschenkt, und Jung-Werner brauchte die mütterliche Pflege. So hatte er denn allein sich aufmachen müssen zu der Festfahrt. Aber wenn er seine Lotte auch leider nicht in Person den Alemannen vorführen konnte, so doch wenigstens im Bilde: Hier, in der Brusttasche barg er die wohlgeratene grosse Photographie, die die glückstrahlende junge Mutter, mit dem spitzenumhüllten Baby im Arm, in ihrer neuen, stolzen Würde getreulich zeigte.

Mit freudig-eiligem Schritt trat Hellmrich nun in das Bahnhofsviertel ein: Lauter neue, stattliche Bauten – hm! aber fast allzu schön für Alt-Jena! Das machte ja einen ganz uncharakteristischen, modernen Eindruck. Und Rrrr! Klingling! kam die elektrische Strassenbahn um die Ecke gerasselt! Hilf Himmel, was wollte die denn hier? Welch' Anachronismus! Jena, das nach seiner und sicher aller Studenten Auffassung immer noch so auf einem Kulturstandpunkt von etwa 1600 oder 1700 stehen geblieben war – das war ja gerade das Köstlichste an ihm! – und dieses grossstädtische Vehikel? Welch Widersinn! Wie abscheulich, da ging ja alle Poesie zum Teufel! Hellmrich war im ersten Augenblick ordentlich entrüstet: Mein Gott, war denn kein Winkel in der Welt mehr sicher vor diesem nichtswürdigen Siegeszug der modernen Technik, des modernen Verkehrs!

Grollend und stark ernüchtert schritt Hellmrich seines Wegs weiter. Ja, ja – man findet eben nie etwas so wieder, wie man's verlassen hat. Auch hier, die Rodigastei, das alte Haus mit dem Schlächterladen, wo früher immer seit Menschengedenken Alemannen gehaust hatten, war umgebaut und modernisiert worden. Tempi passati! Mit einer gewissen Bangigkeit, fast zögernd, ging er weiter: Wenn's nur nicht gar zu viel der Enttäuschungen geben wollte! Ihm war ordentlich Angst geworden. Wenn das altvertraute, liebgewordene Bild der Erinnerung ihm nun grausam zerstört werden würde!

Mit gesenktem Blick, ganz ernst geworden, ging Hellmrich weiter. Aber halt – was war das? War da nicht eben plötzlich irgendwo etwas Grün-weiss-schwarzes, ungewiss flatternd, vor seinem Auge aufgetaucht? Scharf blickte er die Gasse hinunter: Ha, richtig! Dort drüben am Eckhaus wehte es lustig aus dem Fenster im ersten Stock – die Haus-Fahne eines dort wohnenden Alemannen, der heute nach altem, gutem jen'schen Brauch zur Feier des Stiftungsfestes geflaggt hatte. Mit hellleuchtenden Blicken grüsste Hellmrich hinauf, zu seinen stolzen, unentweihten Farben, die ihn hier wieder in ihrem Reich willkommen hiessen. Hei, nun war jede melancholische Regung verflogen! Noch war Jena das alte, liebe – noch galt ja hier wie ehedem die stolze Losung: Alemannia sei's Panier!

Schnell schritt er vorwärts; nun drängte es ihn, hinzukommen zu den Seinen. Wie mochte das jetzige, junge Geschlecht ausschauen, das nun die Farben hochhielt? Wie viele der alten Gefährten würde er heute wohl wiedersehen, und wie würde er sie finden?

Jetzt war er an der Stadtkirche beim »Kreuz« angelangt; mit liebevollem Blick streifte er im Vorübergehen den ehrwürdigen, altersgrauen Bau mit dem schön gemeisselten Portal, da hörte er plötzlich seinen Namen nennen: »I nu, das is ja doch der Herr Doktor Hellmrich!«

Freudig überrascht fuhr der Angerufene herum. Da stand vor seinem Laden, wie er's schon vor Jahren so manchmal in einer müssigen Minute getan, Meister Sperling, der wackere Drechsler, bei dem er immer seinen Bedarf an Pfeifen und Spazierstöcken gedeckt hatte.

»Ah, grüss' Gott, mein lieber Herr Sperling!« Und mit kräftigem Druck schüttelte Hellmrich dem Biederen die Hand. Das war doch eine Freude, dass man ihn noch kannte und gern ansprach! Er war also doch noch nicht vergessen worden im lieben Jena. Nach einem kurzen Zwiegespräch, in dem auch Meister Sperling seine Freude an dem Wiedersehen deutlich kund tat, eilte aber Hellmrich weiter. Noch drei, vier Minuten, und dann stand er vor dem »Herzog August«. In neuem, hellgrauem Anstrich prangte das alte Haus stattlich im Festkleid, und von seinem Giebel wehte stolz das mächtige, flatternde Banner Alemannias!

Daheim! Wieder angelangt an der Stätte froher Jugendlust, in dem trauten Haus, das ihm so viele köstliche Stunden beschert hatte!

Mit erwartungsvoll klopfendem, freudigem Herzen sprang Hellmrich die Stufen zum ersten Stock empor, zu den Kneipräumen, aus denen ihm schon hier ein lustiges Stimmengeschwirr entgegenscholl. Er legte hastig auf dem geräumigen Treppenflur, der zur Garderobe eingerichtet war, Hut und Mantel ab und nahm aus dem mitgebrachten Täschchen Band und Mütze. Aber gerade, wie er sich das Band über die Schulter ziehen wollte, ging die Tür vom Vorzimmer auf, und Apel erschien. Einen Augenblick stand der Alte, heute festlich geschmückt mit Couleurfrack und ‑Mütze, verdutzt da, dann zog aber eine helle Röte der Freude über sein rundes, faltenreiches Antlitz, und, seine Bierseidel schleunigst aus der Hand setzend, kam er mit seinen kurzen Beinchen auf den Ankömmling zugelaufen.

»Nee nu, das is aber – nee, wie mir das freit, Herr Doktor! Ich sage Sie –« und, Tränen in den Augen, drückte der Wackere Hellmrichs Rechte mit beiden Händen. Dieser war selbst ganz gerührt von des Alten ehrlicher Freude und klopfte ihm die feiste Schulter.

»Ja, mein Alterchen, da wären wir mal wieder! Na, Ihnen ist's ja gut gegangen, wie ich sehe! – Immer noch frisch und munter und fidel wie früher. Apelchen, was, wir werden nie alt?«

Der Alte lachte vergnügt: »Nu, das wäre Sie ja noch scheener, Herr Doktor! Dadazu ham'm mir gar keene Zeit nich, hier in Jäne.«

»So ist's recht!« lobte Hellmrich mit vergnügtem Kopfnicken. »Von Ihnen kann man lernen! Na, nu aber mal 'rein ins Festvergnügen! – Sind wohl schon viel heute angekommen?« Und er klinkte leise die Tür auf.

Nun fiel sein Blick in das grosse Kneipzimmer, wo man schon beim Willkommentrunk sass, und hoher Stolz, helle Freude schwellten seine Brust: Gott sei Dank! noch ganz das alte Bild! An der langen Kneiptafel wohl an die zwanzig junge Leute, stramme, hübsche Kerle, und zwischen ihnen fast ebenso viele Alte Herren, lauter liebe, bekannte Gesichter – da der »dicke« Hess mit seinem martialischen Schnauzbart in Uniform als Oberleutnant, er übte gerade wieder einmal; da der alte Walcker, mit seinem ewig fidelen Gesicht, hier der kleine Doktor, hier Freund Bertram (weiss Gott, mit einem mächtigen Vollbart!), da Fliedner und Birkner und alle, alle die lieben, guten Kerle von damals!

Nun hatte man aber auch ihn im Türrahmen bemerkt, und plötzlich ein brausendes Hallo! Viele sprangen vor Freude von den Stühlen auf und eilten ihm mit strahlenden Gesichtern entgegen: »Ah – Hurra! Unser alter Verstand!«

*

Am Abend war's, auf der Wilhelmshöhe, da sassen sie wieder einmal alle beisammen, Junge und Alte, auf der wohlvertrauten Stätte, von der sie einstmals so oft beim frischen Trunk froh ins Tal hinabgeschaut hatten. Noch grösser war die Zahl der Festteilnehmer inzwischen geworden. Wohl an fünfzig schwarze Mützen zählte man und dazwischen viel blühende junge Frauen und Mädchen, Couleurschwestern, die zur Feier mit hergekommen waren. Ein Gefühl der Trauer überschlich Hellmrich. Wie jammerschade, dass seine liebe Lotte hier fehlte; wie dann und wann ihr glücklich hätte zunicken und wenn sie Zeugin seiner Herzensfreude hätte sein dürfen!

Hellmrich sass an dem langen Mitteltisch, zum grössten Teil mit Altersgenossen von sich zusammen, und hin und her flog die Rede, nicht immer nur lustig und leicht, denn, wie sich alle so gegenseitig ihre Schicksale erzählten und von denen der anderen sprachen, die nicht zum Fest gekommen waren, da klang auch manch ernster Ton in die heitere Festsymphonie.

»Pahlmann – ja Kinder, warum ist eigentlich Pahlmann nicht gekommen?« fragte einer.

»Ach, der hat anderes zu tun!« lachte Bertram, jetzt wohlbestallter Pfarrer in Markt-Waldkirchen bei Naumburg. Er hauste so nicht allzu weit von Erfurt, wo Pahlmann als Hilfsprediger wirkte. »Der ist ja ein Asket geworden, dass es nicht mehr schön ist! Denkt Euch doch bloss: Als wir neulich zur Landeskonferenz in Erfurt zusammen waren und ich ihn nach der Sitzung draussen im Korridor anspreche und sage: ›Guten Tag, lieber Couleurbruder, na, wie geht's Dir denn?‹ da antwortet mir dieser Mensch doch ganz ernsthaft, in streng verweisendem Ton: ›Hier gibt es keine Couleurbrüder, sondern nur Amtsbrüder, lieber Bertram!!‹«

»Was?« – »Ist's möglich?« – »So ein Schluhssohr!« dröhnte der kleine Doktor Mantz mit seinem Bass grimmig hinternach.

»Ja, ja, so ist's – leider!« bestätigte Hellmrich und holte einen Brief aus der Brusttasche. »Ich hatte an Pahlmann noch persönlich geschrieben und ihn gebeten, doch auch jetzt nach Jena zu kommen. Darauf bekam ich folgenden Brief. Wenn's Euch interessiert, lese ich ihn Euch vor.«

»Ja, bitte!« – »Natürlich!« schallte es ihm entgegen, und Hellmrich las:

»Lieber Hellmrich!

Habe vielen Dank für Dein freundliches Schreiben. Es hat mich sehr gefreut, wieder einmal von Dir zu hören, und zwar so Gutes. Von ganzem Herzen wünsche ich Dir und Deiner lieben Frau zu dem reichen Segen Glück, den Euch der Herr ins Haus gesandt hat! – Was nun Jena anbetrifft, so würde auch ich ja gewiss gern einmal dort mit Dir und mit einigen anderen mir sympathischen Alten Leuten zusammen sein und uns die Erinnerung an das wirklich Schöne und Erinnerungswerte, das wir dort gemeinsam erlebt, wieder wach rufen. Aber solch Stiftungsfesttrubel ist mir, geradezu gesagt, zuwider. Das läuft doch im Grunde nur auf eine endlose Reihe von Trinkereien und sonstigen lärmenden und unmässigen Lustbarkeiten hinaus, von denen keiner wirklich etwas innerlich Bleibendes und Wertvolles mit fortnimmt. Jedenfalls ist das für mich sowohl mit meinen persönlichen Neigungen wie mit meinen Standesrücksichten nicht vereinbar. Ich bitte Dich daher, nicht auf mein Erscheinen rechnen zu wollen. Hoffentlich bietet sich für uns in nicht allzu ferner Zeit einmal die Gelegenheit zu einem ruhigen, schönen Beisammensein, wenn auch nicht in Jena, so doch sonst wo hier in der Nähe, da Du ja nun auch im Thüringischen ansässig bist. Ich hätte Dir manches von meinen persönlichen Angelegenheiten zu berichten – und wie ich mit Gottes Hilfe wohl erhoffen darf – Gutes. Du ahnst vielleicht, was ich meine. – Nun, leb' wohl, lieber Hellmrich, und empfiehl mich Deiner lieben Frau bestens. Möchten sie und Dein Söhnlein Dir stets in bester Gesundheit erhalten bleiben.

In alter Freundschaft

Dein

Pahlmann.«

»I wo – der Mansch ist ja wohl totaliter verrückt!« entschied mit seinem bekannten, imposanten Entrüstungsblick der würdevolle Hess und trank einen gewaltigen Schluck, wie in stummem Protest gegen Pahlmanns asketische Weltanschauung.

»Ja, es ist wirklich schade um ihn,« meinte Bertram. »Herrgott, Kinder, man kann doch auch Pastor sein und sein Amt mit Ernst und Eifer versehen, ohne dass man absolut ein Weltflüchtling und Mucker wird! Eine gesunde, vernünftige Lebensfreude wird ja wohl auch dem Ansehen des Talars keinen Abbruch tun, und seine schöne Jugendzeit braucht man doch deshalb wirklich nicht zu verleugnen!«

»Bravo, Bertram! Mir ganz aus dem Herzen gesprochen. Prost, auf Dein ganz Spezielles!« rief Hellmrich, dem gutmütig dreinschauenden alten Kameraden im Vollbart freudig zutrinkend. Aber Hess fragte:

»Weeiss denn eeiner eeijentlich, was aus dem andern des würdijen Jespanns, aus dem Simmäärt, jeworden ist?«

»Ein sehr vornehmer Herr natürlich!« gab Hellmrich lächelnd Auskunft. Er konnte jetzt ja beim Nennen dieses Namens ruhig lächeln. Sein war ja der Schatz, den jener ihm einst geraubt, und im übrigen liessen ihn dessen weitere Schicksale ganz kalt. »Er ist Regierungsreferendar, jetzt vielleicht schon Assessor, und mit der Tochter eines Ministerialdirektors oder sonst so eines hohen Tiers verlobt. Wird also zweifellos bald einer unserer vielversprechenden jungen Staatsbeamten sein.«

»Na, in Gottes Namen! Da passt er ja auch hin!« meinte Walcker, der gerade kein Freund der Regierungsmaschine war.

Aber am Nebentisch, wo das junge Volk fröhlich schwatzend und bechernd sass, war schon zu lange geredet worden, und man verlangte nach einem Liede. Und so wurde denn hier plötzlich der Jenenser Sang angestimmt, in dessen wehmütig-ernste Weise bald auch die Alten Herren einfielen:

»Auf den Bergen die Burgen,
Im Tale die Saale,
Die Mädchen im Städtchen,
Einst alles wie heut'.
Ihr werten Gefährten,
Wo seid Ihr zur Zeit mir,
Ihr Lieben, geblieben?
Ach, alle zerstreut;
Ach, alle zerstreut!«

Ernst wurden die Gesichter der älteren Sänger, und manche Stirn faltete sich, als nun der zweite Vers stieg:

»Die einen, sie weinen;
Die andern, sie wandern;
Die dritten noch mitten
Im Wechsel der Zeit.
Auch viele am Ziele,
Zu den Toten entboten,
Verdorben, gestorben
In Lust und in Leid,
In Lust und in Leid.«

Hellmrich verstummte. Er vermochte die Strophe nicht mitzusingen. Sein umflorter Blick flog hinaus in die Ferne, wo so manch einer weilte von denen, die einst hier froh mit den anderen gesungen, ahnungslos, dass dieses Lied gar sobald auch für ihn gelten würde: Heinz Rittner, der da irgendwo über dem grossen Wasser mit dem Leben kämpfte, ein Geächteter und Verschollener; Wehrhahn, der Ärmste, den – wie er da vorhin erst mit tiefer Trauer vernommen – mitten im Glück seines Lebens die fürchterlichste aller Krankheiten angefallen, die bald an seinem Riesenleib so schnell ihr Vernichtungswerk getan hatte, dass er jetzt im sonnigen Land der Pharaonen, fern von Weib und Kind, ein todsiecher Mann, seine letzte Zuflucht gesucht hatte; der biedere Ranitz, den ein Herzschlag aus vollster Jugendkraft und Lust unvorbereitet hinweggeführt, und Buttmann, der Unvergessliche, der vor wenigen Monaten, gerade als ein neues Blühen und Hoffen durch die ganze Natur ging, zusammengebrochen war im Kampf mit dem Geschick, der Starke, dessen verwegenem Mut und gewaltiger Kraft einst nichts unüberwindlich gewesen war – einsam, von keiner lieben Hand gepflegt, von niemandem betrauert, war er zwischen fremden, stumpfherzigen Menschen aus dem Leben geschieden. Und so noch manch andrer mehr.

Wie viele, wie schrecklich viele aus dem kleinen Kreis, den er vor sieben Jahren noch lückenlos, prangend in Kraft und Jugend, um sich gesehen hatte! Nun am Ziele, oder dicht davor, an der Schwelle zu dem grossen Dunkel.

Trüb war Hellmrichs Blick geworden, während er so in Treue über das Grab hinaus der fehlenden Gesellen von ehedem gedachte. Es brauchte längere Zeit, bis wieder der frohe Festton der andern ihm nicht mehr im Innersten wie ein Missklang wehe tat.

Aber dann siegte doch auch wieder bei ihm die Freude an der Vergangenheit, an der holden Gegenwart und einer hoffnungsvollen, schaffensreichen, frohen Zukunft. Wie herrlich, hier wieder beisammenzusitzen mit den alten Gefährten, traulich, als hätte man sich gestern erst das letzte Mal gesehen! Wie grüssten einander froh und glücklich die Blicke, wie freute sich ein jeder, wenn er den anderen so stattlich herangereift sah, und wie freute er sich des Selbsterreichten, der eigenen Tüchtigkeit und Würde. Und wem dankten sie dieses schöne Beisammensein? Wer hatte ihnen die Fülle dieser gemeinsamen Erinnerungen, das feste Band verliehen, das sie so traulich zusammenhielt? Wer hatte sie auch heute alle wieder hierher gelockt? Ihre liebe Alemannia, und in letzter Linie, Jena – ihr altes, liebes Jena! Und so klang denn aus tiefstem Herzen einem jeden der Sang, den sie nun schmetternd hinausjubelten:

»Zwischen Bergen an der Saale Strand,
Von des Waldes Arm umschlungen,
Liegt im tiefen, tiefen Tal,
Fern der Eb'ne Staub und Qual:
Du mein Jena, Du mein Jena,
Hold und viel besungen!

Weit gekommen bin ich durch das Reich,
Bin durch manche Stadt gezogen:
Herrlich war viel, was ich sah,
Schön ist's hier und schön ist's da;
Doch nach Jena, doch nach Jena
Ist mein Herz geflogen!

An der Ostsee weilt' ich, war im Schweizerland,
Tat beim Wein am Rheine scherzen;
Schöner perlt der Wein am Rhein,
Doch ich trank ihn ganz allein;
Nur in Jena, nur in Jena
Fand ich treue Herzen!

Als ich wieder in die Heimat kam,
Wollte mir's auch nicht behagen,
Und ich dacht' der Liebsten mein –
Ach, wer sollt' der Bote sein,
Wer nach Jena, wer nach Jena
Meine Grüsse tragen?

Wenn die Linden und die Rosen blüh'n,
Sing' ich frohe Wanderlieder,
Von den Bergen allzumal,
Schau' ich in das tiefe Tal,
Seh' mein Jena, seh' mein Jena
Und mein Schätzel wieder!«

Und während sie also sangen, liessen sie ihre Blicke freudig fliegen über Berg und Tal, Strom und Stadt, während im letzten Sonnenglanz das grüne Paradies ihrer Burschenherrlichkeit, in all' seiner unversieglichen, ewig-jungen Schönheit prangend, ihnen zu Füssen lag und neue, selige Jugend auch ihnen in die Seelen hineinzauberte, dass sie noch lange, lange darnach – wieder im Alltagsstaub des Lebens – dankbar davon zehrten.

 


 


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