Paul Grabein
In der Philister Land
Paul Grabein

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IX.

Die Hofrätin Gerling war in ernster Sorge um ihre Tochter. Charlotte litt schwer unter der Vernachlässigung durch ihren Verlobten. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie jetzt einen ernsten, tiefen Schmerz kennen gelernt, der um so heisser brannte, als er eine der Hauptwurzeln ihres Wesens, ihren Stolz, auf's empfindlichste getroffen hatte. Sie, die Umschwärmte, von allen Verzogene, wurde jetzt auf's rücksichtsloseste beiseite geschoben und missachtet von dem, der ihr doch gerade die allergrösseste, zarteste Rücksichtnahme schuldig war, dem zu Liebe sie sich selbst einst so weit gedemütigt hatte, dass sie – obwohl im Vollgefühl ihres guten Rechts – seine Mutter um Verzeihung gebeten hatte. Das war es, was am meisten an ihr frass. Hinter diesem brennenden Gefühl trat selbst die Furcht zurück, dass sie seine Liebe verlieren könne.

Wäre die Hofrätin eine weitsichtigere Natur gewesen, so hätte ihr diese Tatsache Anlass zum Denken gegeben und hätte sie vielleicht dazu bestimmt, den jetzt schwebenden Konflikt zwischen den Verlobten durch energisches Eingreifen zu einem Ende dieses Bündnisses zu führen, dem offensichtlich auf beiden Seiten die erste und wichtigste Grundlage zum Glück, eine echte, wahre, tiefe Liebe fehlte.

Aber Frau Gerting, die schwache, allzu zärtliche Mutter, betrachtete die Sache mit ganz anderen Augen. Sie sah nur die Leiden ihres Herzenskindes, und ihr ganzes Trachten ging nur darauf, irgendwie eine Möglichkeit zu finden, die Ursache dieser Leiden zu beseitigen und Rolf Simmert wieder zu einem liebevolleren Benehmen gegen seine Braut zurückzuführen. Lange hatte so die Hofrätin mit sich gekämpft, was sie tun sollte. Immer mehr aber erschien ihr der Ausweg als der beste, dass sie einmal an Simmerts Mutter schrieb, ihr den Kummer ihres Kindes vorstellte und sie in zarter Weise bat, doch ihren mütterlichen Einfluss bei Rolf aufzuwenden, um ihn zur Einsicht zu bringen, wie bitter Unrecht er seiner Braut tue.

Dieser Gedanke wurde schliesslich bei Frau Gerting zum festen Entschluss. Nur den bevorstehenden Sonntag wollte sie noch abwarten. Sollte auch der wieder keinen Brief, kein Zeichen einer Sinnesänderung von Rolf bringen, dann wollte sie sich sofort hinsetzen und an seine Mutter schreiben.

Es war am Sonnabend nachmittag. Lotti war, dem Drängen zweier Freundinnen folgend, bei dem schönen Sonnenschein mit auf's Eis gegangen. Der Winter hatte diesmal seinen Einzug früh gehalten und sofort ein hartes Regiment geführt. So starrte denn schon jetzt, in der zweiten Novemberhälfte, die Saale im festen, blanken Eispanzer, und Hunderte vergnügter junger Schlittschuhläufer tummelten sich auf ihr in den Anlagen des »Paradieses«, wo am Ufer die Alten, in Pelze gemummelt, behaglich dem frohen Treiben der Jugend zuschauten.

Lotti sah in ihrem feschen Eiskostüm, mit den frisch geröteten Wangen reizend wie immer aus, aber doch fehlte ihren Augen heute der sprühende Glanz, das sonnige Lachen, und sie war wenig gesprächig. Ihre Freundinnen neckten sie weidlich damit. Natürlich, so 'ne verliebte, kleine Braut! Sie starb ja förmlich vor Sehnsucht nach dem fernen Liebsten. Gewiss hätte er heute bloss mal vier Seiten statt zwölf geschrieben. Das wäre ja allerdings zum Verzweifeln! – Harmlose Neckereien, die aber Lotte wie Stiche ins Herz trafen. Wenn ihre Freundinnen wüssten, wie es in Wahrheit stand!

Sie war daher ordentlich froh, als ein paar Vandalen sich in eleganten Kurven heranschlängelten und die ihnen bekannten Damen zum Laufen engagierten. So wurde sie die lästigen Neckerinnen doch wenigstens los. Aber bald merkte sie, dass sie sich damit nicht verbessert hatte. Jeder der jungen Leute, mit denen sie nun abwechselnd lief, hielt es für seine Pflicht, sich bei der Braut des Korpsbruders interessiert nach dem Befinden Simmerts zu erkundigen: Wie es ihm denn gehe? Er lasse ja das Korps gar nichts mehr von sich hören – alle tausend Jahre mal bloss eine Bierkarte mit seinem Namen! – Aber gnädiges Fräulein bekämen doch gewiss alle paar Tage langen Heimats-Bericht. Gnädiges Fräulein möchten doch aber den »Grafen« auch mal freundlichst daran erinnern, dass neben Fräulein Braut doch auch noch die Vandalia gewisse bescheidene Rechte an ihn habe. Man würde sich diebisch freuen, mal ausführlich von ihm zu hören.

Charlotte war in der tödlichsten Verlegenheit. Sie wusste ja selbst seit Wochen nicht mehr als seine Korpsbrüder von ihrem Verlobten. Sie hätte losweinen mögen in Scham und in Verzweiflung. Und doch musste sie lachen, scherzen und so reden, als ob sie um jede Stunde seines Lebens Bescheid wüsste. Diese Überanspannung ihrer Selbstbeherrschung griff ihre ohnehin gereizten Nerven so an, dass es wirklich keine Lüge war, als sie schon nach einer Stunde erklärte, sie wolle heim, sie habe so fürchterliche Kopfschmerzen, sie könne es nicht länger aushalten. Sie habe sich gewiss tüchtig erkältet.

Unter allgemeinem Bedauern verabschiedete man sich von ihr, recht baldige, gute Besserung wünschend. Und eine ihrer Freundinnen meinte, ihr gewiss noch eine ganz besondere Tröstung zu spenden, indem sie ihr lächelnd ins Ohr tuschelte: »Na, nun leg' Dich man heute früh ins Bett, und morgen, wenn Du aufstehst, ist gewiss das Rölfchen schon da – dann sind alle Kopfschmerzen sicher mit einemmal weg. Gelt, Lotti?«

Charlotte biss tapfer die Zähne zusammen, zwang sich zu einem lächelnden Kopfnicken und eilte dann schleunigst von der Bahn heim. Ohne um sich zu blicken, mit feucht umflorten Augen stürmte sie auf wenig begangenen, schneebedeckten Nebenwegen durch die Anlagen des »Paradieses« heim. Ihr war zum Sterben traurig zu Mute. Mein Gott, warum musste sie dies alles tragen? Wie konnte er – dem sie doch nichts, nichts zugefügt, dem zu Liebe sie im Gegenteil alles tat, was er wollte – wie konnte er so grausam, so kaltherzig sein? Und diese Menschen, die sie mit ihren taktlosen Fragen und Scherzen bis auf's Blut quälten! Nein, nein, sie wollte von nichts mehr hören und sehen! Nur nach Haus und sich mal ungestört ausweinen, so recht von Herzensgrund. Das war's, wonach sie's jetzt allein verlangte.

So kam das Mädchen ganz verstört zu Hause an. Sie wollte gleich auf ihr Zimmerchen gehen, aber wie sie am Wohnzimmer vorüberhuschte, da drangen plötzlich beängstigende Laute wie ein heftiges Schluchzen an ihr Ohr. Trotz ihrer eigenen verzweifelten Seelenverfassung blieb sie doch unwillkürlich stehen und lauschte: Halt! Was war das? Das konnte doch nur Mama sein? Und richtig, jetzt vernahm sie deutlich von drinnen das krampfhafte Aufweinen ihrer Mutter. Von kindlicher Sorge getrieben, eilte sie, des eigenen Leids im Augenblick vergessend, in's Zimmer. Da fand sie die Mutter an ihrem Arbeitsplatz am Fenster sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben, und vor ihr auf dem Nähtisch lag ein Brief.

»Mama, um Himmelswillen! Was ist geschehen?« Mit einem Angstschrei stürzte sie zur Mutter hin.

Diese fuhr aufgeschreckt in die Höhe und wandte ihr tränenüberströmtes Gesicht der Tochter zu. Aber im nächsten Moment zuckte sie, wie in plötzlichem Selbstbesinnen, zusammen und wollte rasch nach dem Brief vor sich greifen. Von einem dunklen Ahnen getrieben, fuhr aber Lottes Hand nach dem Schreiben und riss es an sich, ehe noch die Mutter es ergriffen hatte.

»Mama!« schrie sie auf. »Was ist mit Rolf passiert?«

Die Mutter war aufgesprungen und presste nun das Mädchen an sich. »Mein Kind, mein armes, unglückliches Kind!« schluchzte sie, in heisse Tränen ausbrechend: »Ich hätte es Dir ja so gern erspart.«

»Was ist denn nur? Foltere mich doch nicht so!« stiess Charlotte aus und entrang sich der Umarmung. »Ist Rolf – ein Unglück zugestossen?«

Ein bitteres Auflachen der Hofrätin folgte: »O nein, er lebt – es geht ihm sogar ausgezeichnet. Aber lies nur. Mal musstest Du es ja schliesslich doch erfahren.«

Und sie liess sich, von einer plötzlichen körperlichen Schwäche nach all der Aufregung befallen, auf ihren Stuhl niedersinken, das Taschentuch zu den Augen führend, während ihre Tochter in höchster, zitternder Erwartung den Brief, am Fenster stehend, überflog.

Es war ein Brief von Frau Hellmrich, worin diese ihrer alten Freundin in schonender Weise, aber doch in völliger Klarheit über das unwürdige Verhältnis Rudolf Simmerts zu der Kellnerin berichtete.

Mit immer stierer, grösser werdenden Augen starrte Lotte, totenblass geworden, auf das Schreiben. Das Blut schoss ihr zum Herzen, dass sie in seinem angstvollen Zusammenkrampfen meinte, ersticken zu müssen. Nun schrillte plötzlich ein gellender Schrei durch das Zimmer, und ihre Gestalt begann zu wanken.

»Meine Lotte, mein Kind!« In höchster Angst sprang die Mutter zu ihr. Aber sie konnte die Zusammenbrechende nicht mehr halten; unter ihren Armen sank das Mädchen lautlos zu Boden, von einer Ohnmacht befallen. – – –

Charlotte Gerting war wieder zu sich gekommen, und der erste wilde Anprall des Schmerzes war vorüber gerauscht. Auf dem Sofa liegend, das Haupt an die Brust der Mutter gebettet, so hatte sich Lotte ausgeweint, bis ihre Seele wieder zum klaren Denken fähig geworden war. Nun begann sie die Sachlage kritisch zu übersehen und ihre Folgen zu ziehen.

Charlotte war in der Obhut des mütterlichen Hauses, in der Stille des solid-bürgerlichen Kleinstadtlebens aufgewachsen, ohne dass sie von den Versuchungen der Weltstadt und den etwas freien Lebensgewohnheiten der meisten jungen Leute dort je eine Ahnung gehabt hätte. Dass ein junger Mann flott war, trank, die Nacht durchschwärmte, auch mal dumme, übermütige Streiche machte, das alles war ja ihr – der in Jena Aufgewachsenen – nur allzu geläufig, ja für einen rechten Kerl einfach selbstverständlich. Aber von »Weibergeschichten« hatte sie in ihrer mädchenhaften Weltunkenntnis kaum dem Namen nach gehört.

Nun war plötzlich mit grellem Aufblitzen ihr ein hässlicher, dunkler Abgrund in den Tiefen der Mannesnatur, in der ganzen Weltordnung, erleuchtet worden, in den sie mit jungfräulichem Erschaudern einen Augenblick lang hineingesehen hatte. Wohl hatte sie in ihrer Herzensreinheit und Unerfahrenheit auch jetzt noch keine klare Vorstellung von dem vollen Umfange und von der wahren Bedeutung dessen, was sie gesehen, aber das instinktive Gefühl des im Leid in diesem Augenblick in ihr geborenen Weibes liess sie doch ahnen, was das bedeutete.

Klar stand nur eine Vorstellung vor ihrer Seele, und die genügte, um die Lage hinreichend zu erhellen: Sie sah Rolf, ihren bis vor kurzem abgöttisch verehrten, glänzenden, ritterlichen Rolf, dem sie sich zu eigen geschenkt, mit dessen Besitz sie sich stolz vor allen gerühmt hatte, sie sah ihn im Arm einer anderen, einer Unwürdigen – Liebesworte, Küsse tauschend mit derselben sinneberückenden, süssen Zärtlichkeit, die ihre heimliche und höchste Wonne gewesen war. Nun war alles aus! Ihr Götterbild war vom Altar gestürzt, das Heiligtum ihrer Liebe entweiht – nun kam das Nichts, die ewige Nacht der Verzweiflung und der Schande!

Ja, der Schande – auch für sie, die Unschuldige! Denn das wusste sie ja nur allzu gut aus Beobachtungen in ihrem Lebenskreise: An der Entlobten, selbst wenn kein Schatten einer Fehle sie traf, hing ein Makel, den sie nicht abwaschen konnte. Da wurde allenthalben über sie geraunt und gezischelt, und selbst die »besten Freundinnen« flüsterten es sich insgeheim zu: Na, so ganz ohne jede Schuld wird sie wohl auch nicht sein! Wer weiss, was von ihrer Seite voraufgegangen ist, ehe er sich so weit vergessen hat!

So würde es nun auch ihr gehen. Und zu all dem Furchtbaren, das sie fortab tragen musste, zu dem Verzicht auf Glück und Liebe, kam also noch die zu Boden drückende Last des geschädigten Rufs. Aber wenn sie vielleicht auch alles ertragen konnte, dem hielt sie nicht stand – diesem heimlichen Zischeln und spöttischen Lächeln aus allen Ecken und Winkeln! Und sie konnte sich doch hier nicht im Hause verschliessen, sich nicht lebendig einmauern. Aber auch nicht hinauslaufen in die Welt, mutterseelenallein – sie hatte ja da draussen keinen Menschen, zu dem sie sich hätte flüchten können. O Gott, o Gott, wie sollte das werden?!

Aber ganz gleich, was dann nachher geschehen würde, jetzt hiess es erst ein Ende machen mit dem Bündnis, das eine Lüge, das eine unerträgliche Schmach für sie geworden war. Und hiervon konnte sie nichts abbringen. Vergeblich beschwor die Mutter sie, doch nicht sich in der ersten Aufregung zu überstürzen, erst ruhiger zu werden. Lotte machte sich mit Gewalt von der Hofrätin los und schleppte sich zum Schreibtisch, wo sie mühsam, mit fast versagender Hand, ein paar Zeilen in zitteriger Schrift aufs Papier warf – nur ein paar Worte an Rolf: Nach dem, was er getan, könne natürlich keine Gemeinschaft mehr zwischen ihr und ihm bestehen. Sie sende ihm anbei daher seinen Ring zurück. Und sie streifte sich wirklich den Goldreif vom Finger und legte ihn in das Couvert. Noch fand sie die Kraft, nach dem Mädchen zu rufen, sie sofort mit dem Brief zur Post zu schicken, dann aber brach sie nochmals kraftlos zusammen.

Die Mutter brachte sie zu Bett. Ihr Puls flog, und Gluthitze strömte aus ihren fiebernden Schläfen. Der Arzt, der am Abend noch auf den Wunsch der schwer geängstigten Hofrätin kam, gab indessen eine beruhigende Erklärung: Nur eine starke Erkältung und überreizte Nerven; darüber würde die junge, kräftige Natur schon bald wieder hinwegkommen.



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