Paul Grabein
In der Philister Land
Paul Grabein

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I.

Nun war Hellmrich schon sechs lange Wochen daheim in Berlin. Daheim, wirklich daheim? Ach nein, noch fühlte er sich fremd, wie ein Gast im Hause seiner Mutter, noch zog es seine Seele in geheimem, tiefem Sehnen zurück nach dort, wo sie sich so lange geborgen gefühlt hatte. Freilich äusserlich hatte er sich ja nun schon ganz eingelebt in die neuen, so gar anders ausschauenden Verhältnisse, er schreckte nicht mehr schmerzerfüllt oder verbittert bei jedem Druck der engen Schranken zurück, die ihn, den so lange Freien und völlig Unabhängigen, hier auf Schritt und Tritt einpferchten.

Ach, wie unerträglich war das in den ersten Tagen gewesen. Schon seine Ankunft! Als er aus der vertrauten Stille des lieben alten Nestes, das da draussen fern vom Weltgetriebe beschaulich einen Tag wie den andern sich vom Webstuhl der Zeit abspinnen sieht, wieder hineinkam in das brandende Gewoge des Grossstadtverkehrs, da erschien ihm dieses ruhelose Hasten und Treiben aufs höchste widerwärtig. Es war gerade um die Mittagsstunde, und die Droschke, die ihn und sein Gepäck der mütterlichen Wohnung zuführte, nahm ihren Weg zunächst durch die Hauptverkehrsader der Leipziger Strasse. Was gingen ihn diese Tausende von Menschen an, die sich da in dichtem Gewimmel die Trottoirs entlang schoben, ungeduldig, nervös, die Gesichter abgespannt von der Arbeit oder von der Hetzjagd nach dem Gewinn, nur begierig, rasch nach Hause oder ins Restaurant zu kommen, um nach einigen schnell hinuntergeschlungenen Bissen schleunigst wieder in die Tretmühle zu neuer Fron zurückzukehren. Was wussten alle diese Unglücklichen von der sonnigen, seligen Freiheit, die es da draussen gab, fern von hier im lieblichen Thüringerland? – Aber still doch! Das war ja vorbei. Er selbst musste ja nun das Abjagen nach dem kärglichen Bissen des täglichen Brots mitmachen. All diese Leute da zeigten ihm in ihrem stumpfsinnigen, maschinenhaften Treiben nur das Bild der eigenen Zukunft.

Mit einem Gefühl bitteren Ekels lehnte sich Hellmrich in den Wagen zurück und schloss die Augen. Er wollte von diesem widerwärtigen Bilde nichts mehr sehen. Der Weg, den die Droschke mit ihm zurücklegte, war lang; denn die geringen Mittel seiner Mutter hatten sie gezwungen, oben im nördlichen Stadtviertel eine billige Wohnung zu nehmen. Sie war schliesslich froh gewesen, als sie in der Kastanien-Allee ein Quartier von vier Zimmern im dritten Stockwerk gefunden hatte, wo sie von den zwei Vorderzimmern aus wenigstens etwas Grünes sah – die Bäume im Garten eines grossen Stifts, das gerade gegenüber lag. Karl Hellmrich hatte die Wohnung noch nicht gesehen. Als er das letzte Mal zu Weihnachten zu Haus gewesen war, da lebte seine Mutter noch in dem kleinen schlesischen Städtchen, wohin sie sich seit dem Tode ihres Gatten zu ihren Geschwistern zurückgezogen hatte. Damals war man allerdings schon halb im Umzug gewesen, denn Anfang Januar wollten die Seinen bereits in Berlin sein, wo seine Schwester Lisbeth in einen neu beginnenden Handelsunterrichts-Kursus eintreten sollte. So hatte er nur gehört, dass die Mutter die Wohnung hier gemietet hatte; aber damals ahnte er ja noch nicht, wie bald sie auch seine Wohnstätte sein sollte.

Nun fuhr er durch die Gegend, die sein Fuss noch nie betreten hatte. Als er in Berlin auf dem Gymnasium gewesen war, hatte er ja bei Simmerts gewohnt, und das vornehme Westviertel am Kurfürstendamm war ihm daher wohlvertraut geworden. Aber hierhin hatte ihn sein Weg noch nie geführt. Mit tiefem Befremden, innerlich heftig abgestossen, nahm er die Physiognomie des Stadtteils wahr, der nun seine engere Heimat werden sollte. Er war ja für seine Person gar nicht verwöhnt. Die bescheidenen Bauten und einfachen Lebensverhältnisse in dem schlesischen Landstädtchen und auch in Jena waren ihm nie unsympathisch gewesen; aber freilich, da half der Reiz der herrlichen Natur ringsum über vieles hinweg, und die anmutige Traulichkeit des Kleinstadtlebens verklärte selbst die Dürftigkeit noch mit einem Hauch beschaulicher, idyllischer Poesie. Aber hier?

Diese vier- und fünfstöckigen Mietskasernen in endlosen Strassenzeilen, grau und düster dreinschauend mit ihren einförmigen, schmucklosen Fassaden, vielfach verschmutzt, mit abgeplastertem Putz und Farbbelag; an jedem Haus ein Haufen Zettel, die Schlafstellen ausboten, und vor dem Tor überall eine Schar lärmender, elend aussehender Kinder, schlecht gepflegt und erzogen, die in ihren altklugen, scharfzügigen Gesichtern keine Spur echter kindlicher Freude mehr zeigten. Dazu die finster oder stumpfsinnig dreinblickenden Gesichter der Männer, die wieder zur Arbeit eilten, die abgehärmten, vorzeitig alt und hässlich gewordenen Frauen, an einem Arm den Esskorb für den Mann draussen in der Fabrik, auf dem anderen das jüngste Kind und meist schon wieder baldigen Familienzuwachs verratend – welch trostlose Sphäre! Darin lebten nun seine arme Mutter und seine Geschwister bald ein halbes Jahr, das sollte nun auch seine tägliche Umgebung werden! Der Gedanke allein schien ihm schon unerträglich – er meinte in dieser Atmosphäre der freudlosen, düsteren Werktätigkeit und abstossenden Dürftigkeit ersticken zu müssen.

Dann hatte der Wagen endlich gehalten. Gott sei Dank, das Haus, wo die Mutter wohnte, und auch die Nachbargrundstücke machten wenigstens einen etwas besseren, freundlicheren Eindruck, und das gegenüber im Grünen liegende Stift war für diese traurige Gegend eine wahre Oase.

Dann das Wiedersehen mit den Seinen! Auf sein Klingeln war Lisbeth angestürzt gekommen und hatte sich in heftiger Bewegung in dem dunklen, schmalen Korridor an ihn gepresst, die Arme fest um seinen Hals schlingend. Sie sagten beide kein Wort, aber sie fühlten jeder, was das Herz des andern sprach, und es tat ihnen im Innersten wohl, trotz allen Leids: Sie verstanden einander.

Hierauf war Hellmrich ins Wohnzimmer zu seiner Mutter getreten; aber er war tief erschrocken, als er sie wiedersah. Mein Gott, was war sie in diesem letzten halben Jahr gealtert! So abgefallen, einen solch bitteren Zug im Gesicht und ein so reizbares, nervöses Wesen. Das war ja seine liebe, gute Mutter gar nicht mehr – wie furchtbar musste sie sich inzwischen gequält haben! Mit unendlichem Mitleid und mit einem brennenden Schuldgefühl, dass er nicht längst schon hier zur Hilfe geeilt war, umarmte Hellmrich die Mutter. Er machte nicht viel Worte, aber der tief ergriffene Ton seiner Stimme zeigte ihr deutlich, dass es ihm heiliger Ernst war, als er ihr nun gelobte, fortab mit aller Energie nur noch für sein Examen und die Miterhaltung der Seinen arbeiten zu wollen. Da war sie, alle Vorwürfe vergessend, in heisse Tränen ausgebrochen, hatte den Sohn an sich gezogen und sich an seiner Brust von Herzen ausgeweint.

Und dann war endlich die ersehnte Stunde gekommen, wo Hellmrich in den für ihn bestimmten Raum geleitet wurde, um mit sich allein etwas zur Ruhe zu kommen. Die Schwester führte ihn hin. Es war ein kleines Hinterstübchen, in dem sie bisher selbst gehaust hatte. Doch nun hatte sie sich bei der Mutter vorn miteinquartiert. Das Gemach trug noch in seiner bescheidenen, aber freundlichen Einrichtung ganz den Charakter eines Mädchenstübchens; aber über dem alten, verschnörkelten, kleinen Schreibtisch am Fenster – einem Familienerbstück von der Grossmutter her – hing, umrahmt von alten Alemannen-Mützen und ‑Bändern, eine buntfarbige, grosse Photographie von Jena, ein Geschenk, das Karl einst im ersten Semester der Schwester gemacht hatte. Da hatte der Bruder das Mädchen in überquellender Rührung und Dankbarkeit in seine Arme geschlossen, und sie hatte eine heisse Träne auf ihrer Wange gefühlt. –

Die verständnisvolle Liebe der Schwester war es auch gewesen, die Hellmrich allmählich sein Los hatte erträglich finden lassen. Gleich am ersten Tage nach seiner Ankunft hatte er alle erdenklichen Schritte getan, um sich eine Einnahme zu schaffen. Er hatte ein paar Inserate in die Zeitungen gesetzt, dass er Privatunterricht geben wolle, und hatte sich auch deshalb an mehrere seiner alten Lehrer gewandt. Aber Wochen, zugleich voll angestrengtester Arbeit im Hause für das Examen, waren vergangen, ohne dass seine Bemühungen Erfolg gehabt hätten. Seine Mutter war über das Fehlschlagen seiner Versuche so mutlos und verzweifelt geworden, dass es schwer auf alle andern drückte. Es war ein hartes Stück für Hellmrich, ihr in dieser Zeit frohe Zuversicht zu heucheln und Mut einzusprechen, während er selbst bald an allem verzweifelte und sich obenein noch mit Selbstvorwürfen peinigte, dass er durch seine Schuld nun hier noch der armen Mutter auf der Tasche lag.

Aber da fand er eine segensreiche Hilfe an der Schwester. Das tapfere, hochherzige Mädchen sass an jedem Abend, noch spät, wenn die andern alle schon zur Ruhe gegangen, und nachdem sie, nach dem Tagesunterricht in der Handelsakademie, mit eisernem Fleiss noch stundenlang zu Hause geübt und studiert hatte, lange, bis in die Nacht hinein bei dem Bruder. Sie drang mit ihrem klaren, hoffnungsstarken Sinn, mit immer neuen Trostgründen herzhaft auf Hellmrich ein, bis auch er wieder frischen Mut bekam. Aber noch mehr, sie wusste ihn zu überzeugen, dass er mit seiner Stenographie, die er schon als Schüler gelernt und im Kolleg weiter geübt hatte, sich einen guten Nebenverdienst schaffen könnte, wenn er sich nur noch weiter darin vervollkommnete. So sassen sie denn beide eifrig über ihren Heften und diktierten abwechselnd einander, immer schneller werdend, Parlamentsreden aus der Zeitung, oder kaufmännische Briefe in die Feder. Wenn sie aber so genug der Arbeit getan, dann blieben sie oft noch ein Stündchen traulich plaudernd bei einander, und Hellmrich schwärmte, glänzenden Auges, die Wangen gerötet, von seinem lieben Jena und all den wackeren Kameraden, die er dort zurückgelassen hatte, wusste er doch, dass seine Liesel für alles, auch das Geringste, was ihm wert war, tiefinneres Interesse hatte. So linderte sich, im sanft-wehmütigen Ausklingen der frohen Burschenmelodie in seinem Herzen allmählich der Schmerz um den Abschied von Jena und seiner Freiheit. Im Aufgehen in der Vergangenheit hatte er der Schwester denn auch – es war das erste Mal, dass er zu einem Menschen davon sprach – eines Abends sein Herz aufgeschlossen und von seiner unerwiderten Liebe zu Lotti Gerting erzählt. Und seit der Stunde war's ihm leichter um's Herz geworden; hatte er doch nun eine treue Seele, zu der er von der trotz allem immer noch Geliebten reden und seinem Gram um ihren Verlust Luft machen konnte.

Endlich kam denn auch von aussen einmal etwas Gutes. Sein treuer alter Gönner Professor Pflog teilte ihm eines Tages mit, dass er um Beschaffung eines Nachhilfeunterrichts für einen seiner Primaner gebeten worden sei. Es handle sich um eine tägliche zweistündige Hilfe, für die ein Monatshonorar von hundert Mark ausgesetzt sei. Er habe sofort Hellmrich empfohlen und bäte ihn nun, sich unverzüglich vorzustellen. Eilends war Hellmrich zu dem Vater des Schülers gefahren und freudestrahlend kam er mittags nach Haus – die Stellung war ihm gegeben worden. Das war ein Freudentag für die ganze Familie, und der Mutter war nun eine Zentnerlast von der ewig bekümmerten Seele genommen worden.


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