Paul Grabein
In der Philister Land
Paul Grabein

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XVIII.

»Na, guten Abend, meine Herren!« Der Herr Major sprach es und erhob sich, mit einer freundlichen Verneigung vom Stammtisch Abschied nehmend – die Uhr von der nahen Stadtkirche hatte eben acht geschlagen – und mit ihm erhob sich, wie gewohnt, augenblicklich auch der Herr Oberbürgermeister, auf dass die Parität zwischen der obersten Zivil- und Militär-Person der Stadt offensichtlich wäre. Damit aber ja kein Zweifel in dieser Hinsicht aufkommen konnte, pflegten die beiden Herren nach einem stillschweigenden Übereinkommen jeden Abend abwechselnd dieses Aufheben der Tafel zu besorgen. Das war denn jedesmal das Zeichen für alle verheirateten Herren am Stammtisch, sich gleichfalls zu erheben und ehrbarlich zu ihren Gattinnen und dem wohlgedeckten Abendtisch nach Haus zu wandeln. Nur die unbeweibten jüngeren Mitglieder der Tafelrunde des »Rautenkranzes« genossen das traurige Vorrecht, sich noch weiter beim Schoppen über die Misere ihres Junggesellendaseins gemeinschaftlich hinwegzuhelfen. So geschah es auch heute.

»Na, Herrschaft, woll'n wir denn nicht wenigstens auf ein Glas Löwenbräu in den Englischen Hof geh'n?« regte Leutnant Eckenbrecher die zurückbleibenden und nun am Tisch zusammenrückenden Genossen des »inoffiziellen« Abendschoppens an.

»Pscht!« warnte Oberleutnant Röhling den Sprecher und zwinkte mit den Augen nach dem Kommerzienrat Truckenbrodt hinüber, der, seinen Paletot überziehend, noch in der Nähe des Tisches stand und plötzlich höchst verwundert, ja schier entrüstet, seine grossen runden Augen auf den Sprecher richtete.

Erstaunt blickte dieser den älteren Kameraden an: »Aber warum in aller Welt soll man denn nicht –?«

Doch lächelnd flüsterte ihm Rohling ins Ohr: »Mensch, wollen Sie sich denn mit Gewalt unmöglich machen? Der Kommerzienrat ist doch der Hauptaktionär der hiesigen Vereinsbrauerei und jeder gut gesinnte Bürger muss ihm doch also selbstverständlich seine Dividende hochsäufen helfen – wie wir alle hier im ›Rautenkranz‹«. Er sog an seinem Schoppen. »Das Sauzeug ist übrigens heut mal wieder unter aller Kanone! – Wer in den Englischen Hof exkneipen geht, den betrachtet Truckenbrodt daher als einen persönlichen Feind! Verstehen Sie nun, Sie Unglücksmensch?«

»Ja, nu' versteh' ich!« seufzte gottergeben der Leutnant und versank in melancholische Träumereien. Er gedachte mit Wehmut der so oft verspotteten »Grossstadt« Rudolstadt, von der er seit drei Tagen hierher zum dritten Bataillon versetzt war. Weiss der Teufel, das war ja in der Tat noch die reine Grossstadt gegen dieses gottverlassene Krähwinkel!

»Nanu, Doktor, Sie wollen doch nicht etwa auch schon ausreissen?« wandte sich Röhling an seinen Nachbar zur Rechten, der eben im Begriff war, sich von den andern Herren zu verabschieden.

»Allerdings! Ich muss heute abend noch arbeiten,« erwiderte Hellmrich, dem Frager die Hand hinstreckend. Aber der suchte ihn wieder auf seinen Platz niederzuziehen. »Machen Sie keine Geschichten, Doktor! Wollen Sie uns hier im Stumpfsinn umkommen lassen? Seitdem der Referendar übt und der ›kleine Würger‹« – so nannte man im Bataillon scherzhaft den jungen, zweiten Arzt der Stadt – »in die Verlobungsmaschine geraten ist, sind Sie ja noch der einzige Mensch, der uns retten kann!«

»Sehr schmeichelhaft, lieber Röhling!« lachte Hellmrich. »Aber ich muss heut' wirklich heim.«

»Auch gut! – aber dann kommen wir mit, und leisten Ihnen bei der Arbeit Gesellschaft. Wie wär's, wenn wir uns mal wieder in unserem Jardin-Garten ansetzten und 'ne Bowle brauten? Das haben wir doch schon lange nicht mehr getan!«

»Famose Idee! Röhling, Sie sollen leben!« jubelte die Corona Beifall. Hellmrich wohnte nämlich im selben Hause mit dem Oberleutnant, das einem Herrn Siller gehörte, und daher in der Bataillonssprache, in verführerischem Anklang an die bekannte Sekt-Marke, »Maison Sillery« hiess.

»Meine Herren, ich wäre von Herzen gern dabei – Sie wissen ja, ich bin sonst kein Spielverderber – aber heut' muss ich wirklich passen! Die Arbeit ist tatsächlich kein Vorwand. Also, guten Abend allerseits!« Und Hellmrich erhob sich vom Tisch, von lauten Rufen des Bedauerns und Verlockens noch bis an die Tür begleitet.

Hellmrich war wirklich allgemein in diesem kleinen Kreise beliebt. Als er vor dreiviertel Jahren als Lehrer an das bekannte Technikum der kleinen thüringer Stadt berufen war, hatte er als Akademiker am Stammtisch von vornherein eine geachtete Position eingenommen. Er verstand es bald, sich in die besonderen Verhältnisse einzuleben und mit all' den Honoratioren des Städtchens freundliche Beziehungen herzustellen, wozu es freilich bisweilen einer klugen Rücksichtnahme und gewissen Selbstverleugnung bedurfte, die er früher nicht an sich gekannt hatte. Ganz besonders aber war er bald von den jüngeren Herren der Tafelrunde, insbesondere den unverheirateten Offizieren geschätzt worden, denn endlich tauchte doch nun mal bei ihnen wieder ein »richtig gehender« Mitteleuropäer auf, der sie in der Abgeschiedenheit des »Dorfs«, wie sie das Städtchen benannten, von Dingen unterhalten konnte, die draussen in der Welt vor sich gingen. Den vertraulichen Umgang mit ihnen beförderte noch der Umstand, dass Hellmrich zufällig in der »Maison Sillery« sein Quartier genommen und hier mit dem Oberleutnant Röhling, einem schon ernsteren, für Kunst und Wissenschaft aussergewöhnlich interessierten Offizier, als Hausgenosse bald in einen sehr gemütlichen, fast freundschaftlichen Verkehr gekommen war. Hellmrich erwies sich aber nicht nur als anregendes Stammtischmitglied, sondern er hatte sich auch durch das Zustandebringen akademischer, liederfroher Fidelität und die Einführung des Bierramschs, des Quodlibets, und ähnlicher studentischer »Gesellschaftsspiele« als »Kulturträger« um die an tödlicher Langeweile krankenden Herren hoch verdient gemacht.

Hellmrich selber fühlte sich in diesem bescheidenen Lebenskreise zufrieden und glücklich bis auf den einen, immer noch ungestillten Wunsch im Inneren – nach einer trauten Häuslichkeit mit einem geliebten Weibe an seiner Seite. Die äusseren Bedingungen für die Gründung eines Hausstandes waren ja nun vorhanden, dank dem freundlichen Geschick, oder richtiger, dem grossen Wohlwollen seines früheren Chefs, des Professors Berndt, der ihm diese angenehme Position hier verschafft hatte. Es war an den Gelehrten von dem Direktor des Technikums, einem alten Studienfreund, die Bitte gerichtet worden, ihm eine besonders tüchtige Kraft für die wichtigen Fächer der Physik und Chemie zu empfehlen, der er eine gute Dotierung zusichern könne. Der Professor hatte sofort an Hellmrich gedacht und ihn, so ungern er den treuen Mitarbeiter an seinem grossen Werke verlor, aufs wärmste an den alten Freund empfohlen.

So war Hellmrich hierher gekommen und mit einem Schlage aller Sorgen um die Zukunft enthoben worden. Denn seine Einnahmen setzten ihn nun in den Stand, der Mutter ein paar hundert Thaler jährlich mit Bequemlichkeit für die Ausbildung der Brüder zu schicken. Er hatte diesen Beitrag an die Familie sogar verdoppeln wollen, um die Schwester der Notwendigkeit zu entheben, noch länger eine Stellung zu bekleiden. Aber Lisbeth und auch die Mutter hatten das energisch abgelehnt; Lisbeth hätte sich so an die Arbeit gewöhnt, dass sie sie nicht mehr entbehren möchte. Sie würde sich ohne solche Tätigkeit im Hause nur überflüssig und unglücklich fühlen. So sah sich denn Hellmrich in einer völlig sorgenfreien Position, die es ihm erlaubte, sich sein Leben recht behaglich einzurichten.

Seine Berufstätigkeit machte ihm Freude. Die Anstalt, an der er Lehrer war, war eine der ersten ihrer Art. Die Kollegen waren zumeist, gleich ihm, studierte Leute und angenehme Menschen, mit denen es sich auch gesellschaftlich gut verkehren liess, und das Technikum hatte als Zöglinge fast durchgehend gut vorgebildete junge Leute aus besseren Familien. Der sehr humane, weltgewandte Leiter der Anstalt verstand es, sein Institut, wie sich selbst sehr beliebt zu machen, indem er die Besucher der Anstalt mit gewissen studentischen Freiheiten ausstattete. So war denn auch der ganze Unterrichtston und der Verkehr mit den jungen Leuten ein mehr der Hochschule als der Schule verwandter, was Hellmrich ganz besonders angenehm empfand. Dazu kam ferner noch, dass ihm der Direktor, auf das dringende Verwenden seines Gönners Professor Berndt hin, in entgegenkommendster Weise Zeit und Gelegenheit gab, soviel wie möglich noch seinen privaten wissenschaftlichen Arbeiten zu leben. Hellmrich blieb auch in ständiger Fühlung mit seinem früheren Chef. Er arbeitete, so weit das hier möglich war, an dessen wichtigen Untersuchungen weiter mit und half ihm namentlich bei der redaktionellen Bearbeitung des umfangreichen Untersuchungsmaterials. So hatte ihm denn auch heute früh der Professor wieder einen Druckbogen der Schrift zugeschickt, dessen sorgfältige Korrektur er eben noch heute vornehmen musste.

Als Hellmrich in sein Wohnzimmer eintrat, empfing ihn traulicher Lichtschein; die sorgsame Wirtin hatte ihm, seines Winkes eingedenk, bereits alles zum Arbeiten bereit gestellt: Die Lampe auf der ausgezogenen Platte des Zylinderbureaus, daneben auf dem Bauerntischchen den Tabakskasten, seinen Bierkrug mit dem Alemannenwappen nebst zwei Flaschen Bier, seinem üblichen Abendtrunk, und am Stuhl lehnte die alte Jenenser Pfeife. Mit behaglich-zufriedener Miene musterte Hellmrich das Stilleben: So liebte er's; nichts war ihm anheimelnder, als so ein gemütliches Arbeiten im ungestörten Abendfrieden eines traulichen Gemaches, und freundlich grüssend flog sein Blick zu der Wand hinüber, wo über dem Sofa sein ganzer Jenenser Budenschmuck – Wappenschild, Fahnen, Bänder, Mützen, und darunter der Ehrensäbel – wieder stattlich prangte.

Während er sich langsam den Rock auszog und eine Hausjoppe antat, musste er so denken, wie zufrieden und glücklich er sich überhaupt hier fühlte. Gewiss, eng war der Kreis der Menschen und ihrer Interessen in der kleinen Stadt, aber doch fühlte er sich wohl unter ihnen. Das ungesunde Hasten der Grossstadt, das keine innere Vertiefung zuliess, hatte ihn von jeher angewidert, und hier fand er nun wieder die naive Freude auch am Kleinen und Bescheidenen, dem sich bei näherer Bekanntschaft auch noch manch liebenswerte Seite abgewinnen liess, ein menschliches Miteinanderhausen und vor allem ein intimes Leben in und mit der Natur, das ihm eine nie versagende Quelle innerer Erfrischung und Sammlung war. Wenn auch Hellmrich keineswegs blind war gegen die Schwächen der Kleinstadtmenschen, mit denen er nun freundnachbarlich leben musste, so lächelte und scherzte er doch nur gutmütig über sie; sie wurden ihm reichlich aufgewogen durch viele gute Herzenseigenschaften und eine gesunde Gesinnung.

So wäre denn alles schön und gut, dachte Hellmrich, indem er zu seinem Schreibtisch hinüberging, wenn nur eines noch gewesen wäre: Da neben ihm, auf dem alten Ledersessel in der gemütlichen Fensterecke – so einem rechten Hausfrauenwinkel – da hätte jetzt ein rosiges, anmutiges junges Weibchen sitzen müssen, das mäuschenstill mit seiner Handarbeit bei ihm im Zimmer weilte und nur von Zeit zu Zeit einen zärtlichen Blick nach dem fleissigen Gatten am Schreibtisch warf. Und wenn sich dann, bei einem Aufsehen von seiner Arbeit, ihre Augen einmal trafen in einem herzinnigen, süssen Gruss – ja, wer weiss, ob er dann doch nicht einmal aufgesprungen wäre, aller Wissenschaft zum Trotz, und sein geliebtes Frauchen in langer Umarmung an sich gerissen hätte!

Aber ach – alles leider nur schöne Träume! Mit einem leisen Seufzer trat Hellmrich an den Sekretär und liess sich auf dem Stuhl nieder. Da erst bemerkte er auf der Schreibunterlage einen Brief, den ihm seine Wirtin dort zurecht gelegt hatte. Angenehm überrascht, griff er darnach: Von seiner lieben Liesel! Und mit herzlichem Interesse vertiefte er sich in das Schreiben der Schwester, seiner getreuen Korrespondentin daheim.

Na, das waren ja mal extra gute Nachrichten heute! Mit freudiger Miene las er, wie Bruder Ernst, der Elektrotechniker, der nun seine praktische Lehrzeit bei Siemens & Halske beendet hatte, in Anerkennung seiner besonders tüchtigen Leistungen auf Kosten der Firma vier Semester auf die technische Hochschule geschickt werden sollte. Donnerwetter, ein Prachtjunge, der Ernst! Wie freute er sich für den Bruder, dass ihm nun doch noch ein Studium möglich gemacht worden war, und für die gute, alte Mutter daheim, dass sie nun nach all' den sorgenvollen Jahren diese Freude erleben durfte!

Dann berichtete Liesel weiter von Hellmuth, dem Jüngsten, einem begabten, hellen Kopf, aber der Schlingel wollte die Schulbank nicht länger mehr drücken. Nun hätte sich die Mutter – Karls Rat folgend – seinem Wunsch endlich gefügt. Zu Oktober, mit dem Primanerzeugnis in der Tasche, sollte er abgehen und bei einem grossen Exportgeschäft als Volontär eintreten. Die Stelle sei ihm schon zugesichert; er bekomme gleich im ersten Jahr dreissig Mark Monatsentschädigung, worüber Hellmuth natürlich ganz besonders glücklich sei. Im übrigen freue er sich aber auch sehr auf seine Berufsarbeit. Sowie er ausgelernt habe, wolle er eine Stellung in einem Hamburger Hause annehmen und nachher ins Ausland gehen. Die Welt kennen zu lernen, das sei sein Herzenswunsch ja schon von Jugend an gewesen!

Nun, auch gut! dachte Hellmrich. Wenn der Junge sonst nur tüchtig ist, kann er es ja auch hier zu etwas Ordentlichem bringen. Und ihn noch länger mit Gewalt in der Schule zu halten, wäre sicher sehr verkehrt. Es freute ihn, dass die Mutter das jetzt selber einsah.

Mit heller, freudiger Miene las er weiter, was die gute Liesel ihm sonst wohl noch zu berichten hätte. Aber nun wurde sein Antlitz ernst. Die Schwester ging da plötzlich auf ein Thema über, das ihm stets das heitere Lächeln verscheuchte: Sie schrieb von Charlotte Gerting. Es war das erste Mal, dass Lisbeth ihrer in ihren Briefen Erwähnung tat; sonst hatte dies nur dann und wann die Mutter beiläufig getan. Die Schwester hatte es dagegen stets geflissentlich vermieden, Karl an die einst Geliebte zu erinnern. Wohl hatte sich ihr früherer Groll gegen Charlotte gelegt, seitdem diese so hart vom Schicksal angefasst worden war, aber trotzdem sprach sie nicht gern von ihr. Wozu den Bruder erst an die traurigen Dinge erinnern, die doch nicht mehr zu ändern waren!

Hellmrich war daher sehr überrascht, dass Lisbeth heute auf einmal über Charlotte schrieb, ja ausführlich schrieb und obenein in einem warmen, fast herzlichen Ton. Allerdings war das, was sie von Lotte berichtete, auch darnach angetan, tiefes Mitleid wachzurufen. Das arme Mädchen war, teils infolge des stetig an ihr fressenden Grams, teils infolge starker Überarbeitung bei ihren Seminarstudien, so hochgradig nervös geworden, dass der Arzt ihr strengstens jede ernste Beschäftigung untersagt und sie zur Erholung auf ein halbes Jahr in den Thüringer Wald geschickt hatte. Das war ihr nun also auch noch auferlegt worden! Sie musste von ihrem so pflichteifrigen Streben ablassen, von ihrer trostspendenden Arbeit; wer wusste, ob es ihr jetzt überhaupt noch einmal beschieden war, das Ziel zu erreichen, von dem ja ihre ganze fernere Existenz abhing. Das arme, arme Mädchen könnte einem wirklich aufrichtig leid tun, so schrieb Lisbeth. Nun lebte sie schon seit vielen Wochen ganz still und einsam in einem Forsthaus in »Rainerts-Grund« – es müsse übrigens nach der Karte gar nicht weit von ihm sein – und suchte ihre Gesundheit wieder zu erlangen. Wenn es ihn vielleicht interessieren sollte, Näheres darüber zu hören – sie müsse nun den schon sehr lang geratenen Brief endlich schliessen – so lege sie für diesen Fall den kürzlich hier eingetroffenen Brief der Hofrätin an die Mutter bei, aus dem sie das alles selbst eben erst erfahren hätten.

Von innigster Teilnahme getrieben, faltete Hellmrich das Schreiben der Frau Gerting auseinander: Ein langer Brief, der in beredten Einzelheiten unter Klagen der verzweifelten Mutter den in der Tat tief beklagenswerten Zustand des armen Mädchens schilderte, das seit Monaten kaum noch Schlaf gefunden hatte und in seinem ganzen Organismus ernstlich erschüttert war. Schmerzbewegt las Hellmrich diese Schilderungen. Lotte, arme, arme Lotte! Was hatte das unbarmherzige Schicksal aus ihr gemacht! Aber halt, was war das? Er kam da zu einer Stelle des Briefes gegen den Schluss hin, die ihm plötzlich das Herz hochaufschlagen machte. Stand da wirklich, was ihm die vor den Augen tanzenden Buchstaben weismachen wollten? Die Hofrätin schrieb da an die alte Freundin:

»Ja, meine liebe Henriette, ich will Dir die eigenen Worte meines armen, unglücklichen Kindes mitteilen. Hier liegt der Brief vor mir, und ich gebe ihre Worte buchstäblich wieder. ›Und was mich mehr, ja hundertmal mehr schmerzt als der Gram um Rolfs Verrat – das, was in Wahrheit mich nie mehr zum Frieden gelangen und über mein Unglück hinwegkommen lässt, das, Mutter, ist das fürchterliche Bewusstsein, mein Glück selber von mir gestossen zu haben! Ach, nun, wo es zu spät ist, habe ich ja erst einsehen gelernt, welchen köstlichen Schatz ich mir in Karl Hellmrichs treuer, ernster Liebe hätte fürs Leben sichern können. Der hätte mir so etwas nicht antun können – der hätte mich auf Händen getragen, das sagt mir eine untrügliche Stimme in meinem Innern; leider jetzt zu spät, wo alles aus ist! Und dieses edle, warme Herz habe ich in meiner kindischen Eitelkeit und Verblendung kalt von mir gestossen, habe ich schwer gekränkt! Siehst Du, Mutter, das verzeihe ich mir nie, nie! Und oft genug quält mich in meinen verzweiflungsvollen Nächten der Gedanke, dass der Verrat Simmerts nur eine gerechte Strafe des Himmels für meinen Jugendhochmut ist. Ach, hätte mich doch damals ein kluger, alles voraussehender Mensch beraten, wie glücklich könnte ich heute mit solch einem treuen, goldenen Herzen sein! – Aber vorbei, vorbei! Mein Herz hat ja auch das törichte Wünschen und Hoffen aufgegeben. Eines möchte ich nur noch einmal in meinem Leben: Vor Karl Hellmrich hintreten und ihm das schwere Unrecht, den Kummer abbitten, den ich ihm einstmals angetan habe. Ich glaube, das würde mir das Herz schon sehr erleichtern. – Aber ich fürchte, er wird überhaupt nichts mehr von mir hören und sehen wollen, er wird mich längst vergessen haben!‹« – –

Lange sass Hellmrich, den Kopf in die Hand gestützt und starrte auf das Schreiben; immer und immer wieder las er diese Zeilen, bis er wohl jedes Wort auswendig wusste. Herrgott, war es denn möglich? So lebte denn auch in ihr noch jenes Gefühl, dessen Ahnen ihn einst in den Buchenwäldern Tautenburgs so selig gemacht hatte! So zeigte sich ihm also doch noch in freudig zitterndem Glühen am Horizont seines Lebens ein rosiger Morgenschein des Glücks, das er längst für immer versunken wähnte! Gott im Himmel, wie dankbar, wie seligfroh machtest Du ihn!

Und dann stand Hellmrich auf. Er holte sich aus dem Schrank eine Eisenkassette, die seine Dokumente enthielt. Mit eiligen Händen kramte er darin und endlich, ganz auf dem Boden, fand er, was er suchte: Ein verblasstes rosa Atlasschleifchen und darein gesteckt ein verdorrtes Tannenreislein – das Schleifchen, das Lotte damals beim Tanz in Tautenburg unbemerkt entfallen war, und das Reislein, mit dem sie beim Waldgang nachher seine Mütze lachend geschmückt hatte. Er hatte diese Reliquien eines seligen Jugendtraumes vom Glück treu durch Leid und Enttäuschungen der Jahre hindurch aufbewahrt und, treu wie sie, auch die Liebe, die damals in seinem jungen Herzen die ersten Wurzeln geschlagen hatte. Mit Rührung schaute er jetzt auf die verblassten Zeichen der Vergangenheit, die er so manchmal mit stillem Weh betrachtet hatte. Aber im Herzen drin quoll's ihm so warm, so hoffnungsfroh auf, wie einst dem Jüngling, und seine Lippen hauchten auf das blasse Schleifchen einen zarten, scheuen Kuss, wie auf etwas Heiliges.

Noch am selben Abend trug Hellmrichs Wirtin einen Brief zur Post an seine Schwester in Berlin. Der war nur kurz, aber beredt:

»Du einziges, liebes Schwesterherz!

Wie soll ich Dir nur danken! Ich verstehe alles – kleine, kluge Diplomatin! Du hast mir nun den Weg zu meinem Glück gezeigt! Du allein wusstest ja, dass es nur diesen einen gibt. Und ich werde ihn gehen, sobald der Sonntag kommt. Du hast recht, der Rainerts-Grund ist nicht allzu weit von hier. Ich hoffe, den Weg hinzufinden und mir das Glück heimzubringen.

Für heute aber nur noch – denn die Arbeit fordert trotz allem ihr Recht – einen herzinnigen Kuss!

In alter, treuer Bruderliebe jetzt und für alle Zukunft

Dein

Karl.«



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