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XXIII

Es war niemand anders als Mark Wolochow, der Paria, der Zyniker, der das Leben eines Landstreichers, eines Zigeuners führte, der alle Welt anborgte, auf harmlose Menschen schoß, der Gesellschaft als ein »zweiter Karl Moor«, wie Raiskij sich ausgedrückt hatte, den Krieg erklärte, mit einem Wort ... der Verstoßene und Schächer Barrabas, der als Staatsfeind unter Polizeiaufsicht stand.

Und diesem Menschen gab Wera, dieses in dem behaglichen, trauten Nest unter den Fittichen der Großtante aufgewachsene reizende Geschöpf, diese bewunderte Schönheit, zu der die vornehmsten Freier der Gegend nur schüchtern den Blick zu erheben sich trauten, der die kecksten Männer nicht mit einem unbescheidenen Blick, einer Schmeichelei, einem Kompliment sich zu nahen wagten, dieselbe Wera, vor der selbst eine Despotin wie die Großtante sich beugte, nun mit einemmal heimliche Rendezvous! Wo hat sie ihn getroffen, wo ihn kennengelernt, da ihm doch der Zutritt zu allen guten Häusern verwehrt war?

Es war auf höchst einfache, zufällige Weise geschehen. Im Spätsommer des vorigen Jahres, als die Äpfel eben reif waren und gepflückt werden sollten, saß Wera eines Tages in der kleinen Akazienlaube, die in der Nähe des alten Hauses dicht am Zaun stand, und schaute gleichgültig auf das Feld, die Wolga und die Berge hinaus. Plötzlich bemerkte sie, daß nur wenige Schritte von ihr entfernt im Obstgarten die Zweige eines Apfelbaumes sich über den Zaun neigten.

Sie beugte sich vor und sah einen Menschen ruhig auf dem Zaune sitzen, der ein paar Äpfel in der Hand hielt und eben vom Zaun hinabspringen wollte. Es war weder ein Schuljunge noch ein Diener oder sonst einer der gewöhnlichen Obstdiebe.

»Was machen Sie hier?« fragte sie ihn plötzlich.

Er sah sie ein Weilchen an.

»Sie sehen, ich delektiere mich«, sagte er dann und biß in einen Apfel. »Wollen Sie nicht auch einen kosten?« meinte er, rückte auf dem Zaun näher zu ihr heran und bot ihr gleichfalls einen Apfel an.

Sie trat einen Schritt vom Zaun zurück und betrachtete ihn mit Neugier, ohne eine Spur von Furcht.

»Wer sind Sie?« sagte sie streng, »und warum klettern Sie auf fremde Zäune?«

»Wer ich bin, geht Sie nichts an. Und warum ich auf die Zäune klettere? Ich sagte es Ihnen doch schon, ich hole mir Äpfel von den Bäumen.«

»Und Sie schämen sich nicht? Sie sind doch, wie es scheint, kein Schuljunge mehr!«

»Warum soll ich mich schämen?«

Er lachte.

»Heimlich fremde Apfelbäume zu plündern!« sagte sie vorwurfsvoll.

»Fremde Apfelbäume? Die Äpfel gehören mir – Sie haben sie mir gestohlen!«

Sie schwieg und fuhr fort, ihn mit Neugier zu betrachten.

»Sie haben jedenfalls Proudhon nicht gelesen«, sagte er und sah sie durchdringend an. »Das heißt, Sie sind wirklich eine Schönheit!« fügte er gleichsam in Parenthese hinzu. »Sie wissen natürlich nicht, was Proudhon sagt?«

»La propriété c'est le vol Eigentum ist Diebstahl «, sagte sie.

»Ei, Sie haben ihn gelesen?« sagte er ganz erstaunt und sah sie mit großen Augen an.

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Nun ja, diese göttliche Weisheit macht ja jetzt die Runde durch die ganze Welt. Soll ich Ihnen den Proudhon bringen? Ich besitze ihn.«

»Sie stehlen Äpfel und glauben, das sei kein Diebstahl, weil Herr Proudhon sagte ...«

Er warf ihr einen raschen Blick zu.

»Und Sie glauben das, was man Ihnen in der Pension oder im Töchterinstitut gesagt hat ... oder was ... Aber sagen Sie, wer sind Sie? Dieser Garten gehört doch der Bereshkowa – Sie sind wohl ihre Großnichte? Sie soll zwei schöne Nichten im Hause haben.«

»Was geht es Sie an, wer ich bin? Warum wollen Sie das wissen?«

»Nun, Sie glauben doch nur an das, was Ihre Großtante Ihnen als Wahrheit bezeichnet.«

»Ich glaube an das, was mich überzeugt.«

Er zog die Mütze und verneigte sich.

»Genauso wie ich! Sie halten es also für ein Verbrechen, daß ich diese Äpfel hier pflücke?«

»Ich halte es für unanständig.«

»Ist das Ihre Überzeugung?«

»Ja.«

»Nun – ich bin noch nicht zu dieser Überzeugung bekehrt, aber ich will Ihnen eine Konzession machen: Nehmen Sie die vier Äpfel, die ich noch habe, zurück!« sagte er und reichte ihr die Äpfel.

»Ich schenke sie Ihnen.«

Er zog wieder die Mütze, verneigte sich ironisch und biß in einen zweiten Apfel.

»Sie sind in der Tat eine Schönheit«, wiederholte er dann, »und zwar eine Schönheit in doppeltem Sinne: Sie besitzen auch Geist. Schade, daß Sie dazu bestimmt sind, das Leben irgendeines Idioten zu verschönern. Man wird Sie weggeben, Sie Ärmste ...«

»Bitte, kein Mitleid! Man wird mich nicht weggeben – denn ich bin kein Apfel!«

»Weil Sie gerade von Äpfeln reden, zum Dank für Ihr Geschenk will ich Ihnen Bücher bringen. Lesen Sie gern?«

»Den Proudhon?«

»Ja, und was es sonst dergleichen gibt. Ich bekomme immer die neuesten Sachen. Aber zeigen Sie Ihrer Großtante oder Ihren stumpfsinnigen Gästen nichts davon. Ich kenne Sie zwar nicht, doch glaube ich, daß Sie nicht von dem gleichen Schlage sind.«

»Woraus schließen Sie das? Sie kennen mich doch erst seit fünf Minuten.«

»Man merkt's an der Kralle, zu welcher Art ein Vogel gehört. Es ist ein freier Schwung in Ihrem Denken – Sie gehören zu den Lebenden, nicht zu den Toten, und das ist heute die Hauptsache. Alles andere kommt dann von selbst, nur der Anstoß ist nötig. Wollen Sie, daß ich ...«

»Gar nichts will ich! Sie reden vom freien Schwung in meinem Denken – und wollen mir dabei schon Fesseln anlegen! Wer sind Sie, und wie kommen Sie denn dazu, mich belehren zu wollen, sich zu meinem Lehrmeister aufzuwerfen?«

Er sah sie höchst verwundert an.

»Bringen Sie mir keine Bücher, und kommen Sie auch selbst nicht mehr hierher«, sagte sie und trat weiter vom Zaun zurück. »Es ist ein Wächter hier im Garten – wenn der Sie zu fassen bekommt, geht es Ihnen schlecht!«

»Jetzt riechen Ihre Worte wieder nach der Großtante, nach dem Städtchen, nach Fastenöl! Und ich dachte schon, Sie liebten die weiten Fluren und die Freiheit! Fürchten Sie sich vor mir? Wer bin ich wohl nach Ihrer Meinung?«

»Ich weiß nicht – wahrscheinlich irgendein Seminarist«, sagte sie obenhin.

Er lachte laut.

»Woraus schließen Sie das?«

»Die sind immer hungrig, unsauber und ärmlich angezogen. Kommen Sie in die Küche, ich will Ihnen etwas vorsetzen lassen!«

»Ich danke Ihnen bestens. Weiter haben Sie also an dem Seminaristen nichts bemerkt?«

»Ich habe noch nie einen näher kennengelernt und nur wenige gesehen. Sie sind so ungehobelt, führen eine so lächerliche Sprache.«

»Das sind unsere wahren Missionare – ob ihre Sprache Ihnen noch so lächerlich klingen mag. Diese Hungrigen, Ausgemergelten sind es, die vor allem heran müssen! Sie gehen mit Eifer ins Feuer, marschieren blind darauf los.«

»Auf was denn?«

»Auf das Licht, auf die neue Wissenschaft, das neue Leben. Wissen Sie denn von nichts, haben Sie von alledem nichts gehört? Wie naiv Sie doch sind.«

»Was ist also mit diesen Seminaristen?«

»Man hält sie im Dunkeln, füttert ihre Seelen mit totem Aas und prügelt sie obendrein unbarmherzig. Und die ganz besonders heißblütig sind, bekommen nicht einmal Aas zu fressen, sondern einfach nur Prügel. Was Wunder, daß sie aus ihrer Finsternis ans Leben streben, daß sie sich begierig auf alles Neue stürzen. Es ist gesundes, frisches junges Volk, das nach Luft und Geistesnahrung hungert, und gerade diese Art brauchen wir.«

»Wen verstehen Sie unter ›wir‹?«

»Soll ich's Ihnen sagen? Ich verstehe darunter die neue, kommende Macht.«

»Die neue, kommende Macht – die also sind Sie!« sagte sie und sah ihn zugleich neugierig und spöttisch an. »Doch wer sind Sie denn sonst? Oder ist Ihr Name ein Geheimnis?«

»Mein Name? Werden Sie nicht erschrecken?«

»Ich weiß nicht – vielleicht. Aber nennen Sie ihn nur!«

»Ich bin Mark Wolochow. Das ist hier in diesem muffigen Erdenwinkel etwa gleichbedeutend mit Pugatschow oder Stenjka Rasin.«

Sie blickte ihn immer wieder voll Neugierde an.

» Der sind Sie also!« sagte sie. »Sie scheinen nicht wenig stolz zu sein auf Ihren großen Namen! Ich habe von Ihnen schon gehört – Sie haben auf Nil Andrejitsch geschossen und Ihren Hund auf eine Dame gehetzt. Und das ist die neue Macht? Gehen Sie – und kommen Sie nicht wieder her.«

»Sie sagen es wohl sonst der Großtante?«

»Unbedingt. Leben Sie wohl!«

Sie entfernte sich, während er ihr mit heißen, gierigen Augen folgte.

»Wenn man diesen Apfel so stehlen könnte!« murmelte er für sich, während er vom Zaun herabsprang.

Sie hörte seine letzten Worte nicht. Der Großtante sagte sie nicht ein Wort von ihrer Begegnung – nur ihrer Freundin Natalja Iwanowna erzählte sie von dem Abenteuer, verpflichtete sie jedoch, niemandem etwas davon zu sagen.

 


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