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III

Nil Andrejitsch mußte beinahe aus dem Wagen gehoben werden, als er zu Hause ankam. Seine Haushälterin rieb ihm die Schläfen mit Essig, legte ihm ein Senfpflaster auf den Leib und schimpfte ganz gehörig über Tatjana Markowna.

Doch die Hausmittel erwiesen sich als zu schwach, um dem Alten seine Ruhe vollständig wiederzugeben. Er erwartete, daß am nächsten Tage der Gouverneur bei ihm erscheinen würde, um sich nach dem Hergang der Sache zu erkundigen und ihm sein Beileid auszudrücken. Er wollte ihm dann empfehlen, Raiskij als einen unruhigen Menschen aus der Stadt zu verweisen und der Bereshkowa die schriftliche Versicherung abzunehmen, daß sie nie wieder Wolochow ihr Haus betreten lassen würde.

Doch es vergingen drei Tage, ohne daß der Gouverneur oder der Vizegouverneur oder auch nur einer der Räte sich bei ihm sehen ließen. Selbst mit einer Beschwerde vorzugehen, all die alten Geschichten aufzuwühlen – das hielt er aus irgendwelchen Gründen nicht für geraten.

Der frühere Gouverneur, der alte Pafnutjew, der so gefürchtet war, daß sich nicht einmal die Damen vor ihm bei Tische niederzusetzen wagten, hätte die Schuldigen schon wegen der Respektsverletzung gegenüber einem Manne von Rang und Würden zur Rechenschaft gezogen. Der gegenwärtige Gouverneur jedoch verhielt sich in dieser Beziehung völlig gleichgültig. Er achtete nicht einmal darauf, wie seine Beamten sich kleideten, ging selbst in einem abgeschabten, alten Rock umher und war nur darauf bedacht, daß aus seinem Amtsbereich keine bösen Nachrichten nach Petersburg gelangten.

Nil Andrejewitsch Tytschkow hatte auch erwartet, daß irgendeiner seiner früheren Untergebenen, der jungen Beamten, sich bei ihm einfinden würde; er hätte dann vielleicht etwas aus dem feindlichen Lager erfahren können. Doch die jungen Herrchen ließen sich nicht sehen.

Er ließ sich schließlich dazu herab, wie von ungefähr, beim Spazierengehen, in zwei oder drei ihm bekannten Häusern vorzusprechen, doch wurde er nicht empfangen, und die Bedienten musterten ihn mit seltsam neugieriger Miene.

›Die Dinge stehen schlecht für mich‹, dachte er und blieb nun ganz zu Hause.

Am nächsten Sonntag schickte er nach dem Arzt, der auch beim Gouverneur und in Malinowka behandelte.

Der Doktor war sichtlich bemüht, ihm nicht ins Gesicht zu sehen, und wenn er es tat, so geschah es mit demselben Ausdruck der Neugier, der Nil Andrejitsch auch bei den Lakaien aufgefallen war. Er hatte es eilig, und als Tytschkow ihn zum Frühstück einlud, sagte er, er sei bereits bei der Bereshkowa eingeladen, wo auch der Gouverneur und alle andern sein würden. Er habe gesehen, daß der Bischof sogleich nach dem Gottesdienst zu ihr gefahren sei, und er müsse zusehen, daß er sich nicht verspäte. Er empfahl sich, nachdem er Nil Andrejewitsch Ruhe und strenge Diät verordnet hatte.

»Alles geht verkehrt!« sagte Tytschkow, stieß einen tief aus dem Innern kommenden Seufzer aus und ließ den Kopf hängen.

Er begriff, daß seine Autorität nun für immer untergraben, daß er der ›letzte Mohikaner‹, der letzte ›General Tytschkow‹ sei.

Auch die jungen Beamten, die noch ganz kürzlich sich die Lippen beleckt hatten, wenn Nil Andrejitsch ihnen ein Wort des Lobes spendete, waren plötzlich sehend geworden, hatten die in Raiskijs tapferem Verhalten liegende ›Wahrheit‹ erkannt und schämten sich, daß sie so lange vor einem falschen Götzen auf den Knien gelegen hatten. Sie alle hatten Raiskij ihre Visite gemacht.

Dieser hatte in einer kurzen Skizze die Erscheinung Tytschkows für den Plan seines Romans festgehalten – weshalb, wußte er eigentlich selbst nicht, da er sich nicht recht klar war, welche Rolle ein Nil Andrejitsch in seinem Werk spielen könnte.

›Er ist mir so unter die Feder gekommen, wie Openkin‹, sagte er sich, als er die letzte Zeile seiner Skizze niedergeschrieben hatte.

Drei Tage lang hatte Raiskij ganz unter dem Banne des Ereignisses vom Sonntag gestanden. Er war tief beeindruckt von Tatjana Markowna, der gutherzigen Tante, der gastfreien Hausfrau, die sich plötzlich in eine mutige Löwin verwandelt hatte.

Diese blitzenden Augen, diese stolze Haltung, der ehrliche, gerade, gesunde Sinn, der plötzlich, allen Vorurteilen und trägen Gewohnheiten zum Trotz, in ihr zum Durchbruch gekommen war, gingen ihm nicht aus dem Kopf.

Er hatte seine Leinwand aufgespannt und ihre Gestalt in einer wohlgelungenen Skizze festgehalten, in der Absicht, später sorgfältig das Ganze auszuarbeiten, ihre stolze Haltung, ihren Zorn, ihre überlegene Größe zum Ausdruck zu bringen und seinem Gemälde einen Platz unter den Familienporträts anzuweisen.

Die Liebe und Zuneigung, die er für sie empfand, war, wenn dies überhaupt möglich war, noch gewachsen. Auch sie sah ihn jetzt mit freundlicheren Augen an als früher, obschon sie es sich nicht verhehlen konnte, daß ihr ›Ausfall‹, wie sie sich ausdrückte, sie doch innerlich noch beunruhigte und sie nicht wenig Mühe hatte, den ›Widerspruch mit. sich selbst‹, in dem sie sich nach Raiskijs Worten befand, schweigend in sich auszugleichen. Da hatte sie nun einen Menschen vierzig Jahre lang respektiert, hatte ihn stets vor allen Leuten als einen ernsten, ehrenhaften Mann gerühmt, hatte sich vor seinem Urteil gefürchtet und andere damit geschreckt – und nun hatte sie plötzlich diesen selben Mann zum Hause hinausgeworfen! Sie bereute nicht, was sie getan, sie fand ihr Verhalten vollkommen gerechtfertigt, aber sie machte sich doch ihre Gedanken darüber, daß sie vierzig Jahre lang freiwillig diese Lüge ertragen und daß ihr Großneffe im Handumdrehen das Richtige getroffen hatte.

Nie würde sie ihm sagen, daß er recht hatte – nein, niemals. Dazu war er doch noch zu jung, wie leicht könnte er sich überheben! Doch konnte sie ihm ja ihre Anerkennung auf eine solche Weise zu erkennen geben, daß sie selbst dabei in kein Dilemma kam und er seinen Triumph nicht zu hoch anschlug.

Das war der Grund, weshalb sie jetzt für ihn so freundliche Blicke hatte und ihn im stillen höher einschätzte als früher.

Immer noch blieb ihr indes dieses unbehagliche Gefühl, das nicht sowohl in dem Kampfe mit dem inneren Widerspruch seinen Grund hatte, als ganz einfach in der Tatsache, daß der Skandal in ihrem Hause passiert war, daß sie einem alten Mann, einem ehrenhaften ... oder nein, einem ernsthaften ... oder nein, einem ordengeschmückten alten Mann die Tür gewiesen hatte.

Sie seufzte nun zwar über das, was geschehen, hatte jedoch nicht den Wunsch, es ungeschehen zu machen – wohl aber, es als etwas längst Vergangenes zu betrachten, es durch irgendein Wunder um zehn Jahre zurückliegend und gänzlich vergessen zu wissen.

Was nun Raiskij betraf, so hatte Weras Kuß seine Seele in Aufruhr versetzt. Er war vor lauter Rührung den Tränen nahe gewesen und hatte von diesem Kuß neue, kühne Hoffnungen abgeleitet. Dieses schlichte Ereignis, diese unvorbereitete Szene, bei der er sich so ehrenhaft und wacker benommen, würden, so glaubte er, schließlich zu dem Ziele einer Annäherung an sie führen, die er bisher unter solchen Mühen und mit so geringem Erfolge angestrebt hatte.

Er befand sich jedoch im Irrtum – dieser Kuß führte durchaus keine Annäherung herbei. Er war nichts weiter als ein plötzliches Auflodern der Sympathie, die Wera für sein Verhalten empfand, war ebenso unvorbereitet und spontan wie sein eigenes Eingreifen, ein Blitz, der aufzuckte und verschwand.

Wohl hatte sein tapferes Verhalten diesen Blitz der Sympathie hervorgerufen, aber sie hatte ja auch niemals an seinem Charakter gezweifelt, sie wollte nur nichts von jener engeren Freundschaft wissen, die er erstrebte, wollte ihm nur in ganz beschränktem Maße die Rechte des Freundes einräumen.

Er hatte sein Wort ihr gegenüber gehalten; er besuchte sie nicht mehr, sah sie nur bei Tisch und verfolgte sie nicht.

›Noch zwei, drei Gespräche mit ihr – und sie ist für mich abgetan, wie es die Belowodowa, wie es Marfinka schließlich war‹, sagte er sich. ›Der Zauber wird, wie immer bei mir, seine Wirkung verlieren – und ich kann getrost abreisen.‹

»Jegor!« rief er, »hol doch einmal meinen Reisekoffer vom Boden herunter! Sieh nach, ob Schloß und Riemen in Ordnung sind, ich bleibe nicht mehr lange hier.«

Im Hause war es still, seit der Wette mit Mark waren bereits vierzehn Tage vergangen, und Boris Pawlytsch war noch immer nicht verliebt, beging noch immer keine Torheiten und Tollheiten. Tagsüber dachte er gar nicht mehr an Wera, nur am Abend und Morgen erschien ihr Bild, als wenn er es riefe, vor seiner Seele.

Er suchte sich ihr gegenüber so zu geben, als ob er gar nicht mehr an sie denke, und das gelang ihm in der Tat. Gar zu gern hätte er in ihr auch die Erinnerung an sein früheres törichtes Benehmen getilgt.

›So weit wäre ich ja glücklich gekommen; ich schäme mich, daß ich mich habe hinreißen lassen – also ist der Sieg nicht mehr fern!‹ frohlockte er insgeheim, obschon er sich doch, nicht ohne strengen Selbstvorwurf, sagen mußte, daß ihm keine noch so geringe Einzelheit entging, die Wera betraf, daß er, ohne hinzusehen, ihren Eintritt gleichsam fühlte, wenn sie ins Zimmer trat, daß er genau wußte, welche Miene sie machte, was sie jedesmal sagen würde, warum sie schwieg.

›Das alles ist doch nur Schein, nur Schein‹, sagte er sich, seine Empfindungen analysierend, ›ein wirkliches Gefühl ist gar nicht vorhanden.‹

Er malte an dem Porträt Tatjana Markownas und schrieb an dem Entwurf zu seinem Roman, der sich immer mehr auswuchs. Er schilderte seine erste Begegnung mit Wera und den Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte; als Beiwerk fügte er die Charakteristiken der sie umgebenden Personen, eine Schilderung der Wolgalandschaft, eine Beschreibung seines Landgutes hinzu und wurde nach und nach bei der Arbeit lebendig. Der Schein, das ›Phantom‹ nahm allmählich greifbare Gestalt an. Das Geheimnis geistigen Schaffens ging seinem Verständnis auf.

Er war heiter und vergnügt, ging ein paarmal sogar mit Wera wie mit der ersten besten, liebenswürdig plaudernden Dame spazieren und ließ ganz absichtslos, ohne irgendeinen besonderen Eindruck auf sie machen zu wollen, sein ganzes Raketenfeuer von Geist, Witz und Anekdoten vor ihr spielen. Er schwelgte in seinen Phantasien, erging sich in harmlosen Scherzen, entwickelte in tiefsinnigen Auseinandersetzungen seine Weltanschauung – mit einem Wort, er führte ein ruhiges, angenehmes Leben, ohne irgendeine Zumutung an sie zu stellen.

Mit Vergnügen stellte er fest, daß sie keine Furcht mehr vor ihm hatte, daß sie ihm vertraute, ihr Zimmer nicht mehr vor ihm verschloß, nicht mehr im Garten einer Begegnung mit ihm auszuweichen suchte, da sie ja nun wußte, daß er nach einer kurzen Begrüßung von selbst gehen würde; sie bat sich ohne große Umstände Bücher von ihm aus, ja, sie holte sich sogar selbst welche bei ihm, und er gab sie ihr, ohne sie zurückzuhalten, ohne sich ihr als geistiger Mentor aufzudrängen. Er fragte sie auch nicht über das Gelesene aus, dagegen schilderte sie selbst ihm zuweilen die Eindrücke, die sie bei der Lektüre gewonnen. Sie saßen öfters nach dem Mittagessen zu zweien im Zimmer der Großtante, und Wera empfand durchaus keine Langeweile, wenn sie ihm zuhörte, ja sie lächelte sogar öfters über seine Scherze. Mitunter geschah es dann, daß sie plötzlich mitten im Gespräch, oder bevor noch eine Seite zu Ende gelesen war, sich erhob und unter irgendeinem unauffälligen Vorwand sich entfernte. Niemand wußte, wohin sie ging. Nach einer, nach zwei Stunden kehrte sie zurück, blieb auch wohl ganz weg – aber was sie auch tun mochte, Raiskij fragte und forschte nicht danach.

Außer seiner Arbeit nahmen ihn auch einige Bekanntschaften in Anspruch, die er in der Stadt gemacht hatte. Er war öfters beim Gouverneur zu Tisch und hatte auch mit Marfinka und Wera zusammen ein Sommerfest bei dem Steuerpächter mitgemacht, doch hatte dessen Tochter, zum großen Leidwesen Tatjana Markownas, keinen besonders tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und als die Großtante ihn hierüber ausfragte, meinte er trocken, sie sei ›ein Mädchen wie viele andere‹.

Wera war ihm gegenüber von einem unerschütterlichen Gleichmut. Das war eine Tatsache, über die er sich nicht mehr täuschen konnte, der er sich notwendig beugen mußte. Obschon er in ihrem Vertrauen und ihrer Freundschaft Fortschritte machte, blieb diese Freundschaft doch noch immer sozusagen negativ, und ihr Vertrauen bestand lediglich darin, daß sie von seiner Seite kein unanständiges Spionieren mehr befürchtete. Ein Lächeln zitterte um ihr Kinn, als er sich mit einem Tollhäusler verglich, den man als geheilt entlassen, den man wieder allein zu lassen wagt, in dessen Zimmer man wieder die Fenster öffnet, dem man bei Tisch Messer und Gabel gibt und sogar gestattet, sich selbst zu rasieren – dessen Tobsuchtsanfälle jedoch noch in aller Gedächtnis sind, so daß niemand die Garantie dafür übernehmen mag, daß er nicht eines schönen Tages doch noch aus dem Fenster springt oder sich die Kehle durchschneidet.

Ihre Freundschaft war noch nicht so weit gediehen, daß sie ihn, als den Älteren, Erfahreneren, in irgendwelchen Dingen um Rat gefragt oder ihm anvertraut hätte, wofür oder für wen sie sich interessierte. Noch weniger natürlich gab sie ihm ihre Geheimnisse preis.

Der einzige Wunsch, den sie ihm gegenüber kategorisch zum Ausdruck gebracht hatte, war, daß sie in ihrer Freiheit auf keine Weise beschränkt zu sein wünsche, daß sie sich selbst überlassen bleiben wolle, daß man sie überhaupt nicht bemerken und von ihrer Existenz keine Notiz nehmen solle.

›Nun, diese Bedingungen wären ja erfüllt – was soll aber jetzt werden?‹ sprach er bei sich selbst. ›Ist damit alles abgetan? Ich muß doch zusehen, ob ich nicht weiter gelange – mit aller Vorsicht natürlich.‹

Er setzte es durch, daß sie ihn ›Vetter‹ nannte, zu dem traulichen ›Du‹ jedoch wollte sie sich nicht verstehen. Sie meinte, daß dieses Wort schon an sich zu mancher Vertraulichkeit Anlaß gebe, die der einen oder andern Seite doch unerwünscht sein könnte und den Schein einer Freundschaft erzeuge, die vielleicht nicht auf beiden Seiten vorhanden sei.

»Nun, bist du mit mir zufrieden?« sagte er einmal nach dem Tee zu ihr, als sie allein geblieben waren.

»In welcher Hinsicht?« fragte sie, ihn neugierig ansehend.

»Wie kannst du nur so fragen – in welcher Hinsicht!« wiederholte er erstaunt. »Mit der Wandlung, die ich in mir vollzogen habe?«

»Mit welcher Wandlung?«

»Aber ich bitte dich; ich habe an mir gearbeitet, habe alle meine Ansichten und Wünsche ganz dir angepaßt, habe geschwiegen, dich nicht bemerkt – welche Mühe hat mich das gekostet! Und sie hat von alledem nichts gemerkt! Ich lege mir alle diese Prüfungen auf, und sie ... das also ist mein Lohn!«

»Ich denke, Sie haben das alles schon vergessen?« sagte sie gleichgültig.

»Hast du es denn schon vergessen?«

»Ja – und das ist eben Ihr Lohn.«

Er sah sie verwundert an.

»Ein schöner Lohn; sie hat alles vergessen!«

»Allerdings – ich habe vergessen, wie lästig Sie mir fielen, und ich finde, daß Sie sich jetzt so benehmen, wie Sie sich von Anfang an hätten benehmen sollen.«

»Weiter nichts?«

»Was verlangen Sie denn noch mehr?«

»Und unsere Freundschaft?«

»Das ist doch Freundschaft! Ich bin mit Ihnen sehr befreundet.«

›Das habe ich verkehrt angefangen‹, sagte er sich im stillen und tadelte sich selbst darum, daß er sich von Wera gleichsam ein Trinkgeld für sein Wohlverhalten erbitte.

»Eine schöne Freundschaft; ich höre nicht das Geringste von dir, nichts erzählst du mir, nichts vertraust du mir an – ganz wie eine Fremde bist du ...« versetzte er.

»Ich vertraue keinem Menschen etwas an, weder Tantchen noch Marfinka ...«

»Das ist allerdings richtig. Doch Tantchen und Marfinka sind wohl zwei recht liebe, gute Seelen, zwischen ihnen und dir aber gähnt ein ganzer Abgrund ... während zwischen dir und mir recht viel Gemeinsames besteht.«

»Ach ja, ich habe ganz vergessen, daß ich nach Ihrer Meinung ›weise‹ bin«, sagte sie mit leichtem Spott.

»Du bist geistig rege, bist klug, und wenn dein Herz noch nicht seine Sprache gefunden hat, so bebt es doch schon voll Erwartung. Ich sehe das.«

»Was sehen Sie?«

»Daß du dich versteckst und irgend etwas verbirgst. Gott mag wissen, was!«

»So mag doch Gott allein um mein Geheimnis wissen!«

»Du bist ein Charakter, Wera!«

»Ist das ein Fehler?«

»Im Gegenteil, es ist ein großer Vorzug – vorausgesetzt, daß der Charakter echt und nicht bloß vorgespiegelt ist.«

Sie zuckte die Achseln, als halte sie eine Antwort für überflüssig.

»Fühlst du wirklich nicht das Bedürfnis, dich jemand anzuvertrauen, deine Gedanken mit ihm zu teilen? Möchtest du nicht zuweilen das, was dir im Leben dunkel und rätselhaft ist, mit Hilfe fremden Verstandes, fremder Erfahrung aufgeklärt sehen? Es gibt doch so vielerlei, was für dich neu ist.«

»Nein, Vetter, bisher verspüre ich nichts von diesem Bedürfnis. Falls es sich einstellen sollte, werde ich mich vielleicht an Sie wenden.«

»Vergiß nicht, Wera, daß du einen Bruder, einen Freund besitzest, der bereit ist, alles für dich zu tun und selbst Opfer zu bringen.«

»Warum wollen Sie denn Opfer bringen?«

»Darum, weil du so ...« – ›schön bist‹, hatte er fortfahren wollen, doch ein strenger Blick aus ihrem Auge schnitt ihm das Wort im Munde ab. »Darum, weil du so ... verständig, so originell bist ... und weil ich eben Opfer bringen will!« schloß er den Satz.

»Und wenn ich Ihre Opfer nicht annehmen mag?«

»Nun, dann ist eben von Freundschaft zwischen uns keine Rede.«

»Ist denn die Freundschaft ein so selbstsüchtiges Gefühl, und ist ein Freund nur danach zu beurteilen, ob er dies oder jenes für einen getan hat? Können sich zwei Menschen einander nicht auch ohne das gern haben, um des Charakters, des Geistes willen? Wenn ich jemanden liebte, würde ich es sogar um jeden Preis vermeiden, ihn mir oder mich ihm zu verpflichten.«

»Warum?«

»Ich habe den Grund schon einmal genannt: weil ich mir die Freundschaft nicht verderben will. Es würde dann keine Gleichberechtigung mehr vorhanden sein, die beiden Freunde würden nicht durch das reine Gefühl, sondern durch Dienstleistungen miteinander verknüpft sein, und das würde ihr Verhältnis trüben; der eine würde höher, der andere niedriger stehen – wo bliebe da die Freiheit?«

»Du bist wirklich drollig, Wera, mit deiner Freiheitsschwärmerei! Wer hat dir das nur eingeflüstert? Das war sicherlich nur ein Dilettant der Freiheit! Nach dieser Theorie dürfte man ja niemanden mehr um eine Zigarre bitten, dürfte das Taschentuch nicht aufheben, das du fallengelassen hast, ohne daß gleich ein Leibeigenschaftsverhältnis begründet würde! Merk dir's, von der Freiheit zur Sklaverei ist nur ein Schritt, wie vom Erhabenen zum Lächerlichen. Wer hat dir nur diese Ideen beigebracht?«

»Niemand«, sagte sie und erhob sich mit einem leichten Gähnen von ihrem Platz.

»Es ist dir doch nicht unangenehm, was ich da sage, Wera?« fragte er hastig. »Glaube nicht etwa, daß ich dich ausforschen, dich verhören will, leg nicht gleich jedes Wort auf die Goldwaage! Ich wollte nur ein wenig mit dir plaudern.«

»Ich bin ›weise‹ genug, Vetter, um Schwarz und Weiß unterscheiden zu können, und ich plaudere gern mit Ihnen. Kommen Sie doch heute abend wieder zu mir, oder hierher in den Garten – wir wollen dann weiterplaudern, wenn es Sie nicht langweilt.«

Er wäre am liebsten aufgesprungen vor Freude.

»Meine liebe Wera!« sagte er.

»Ich fürchte nur, daß es für Sie nicht sehr interessant ist, mit mir zusammen zu sein. Ich bin immer so schweigsam, Sie müssen die Kosten der Unterhaltung fast allein tragen.«

»Nein, nein – bleib ganz so, wie du bist, sei, wie du sein willst.«

»Wirklich? Darf ich wirklich so sein?«

»Lach mich nicht aus, Wera – ich scherze nicht, bei Gott!«

»Nun kommen Sie schon mit Beteuerungen, wie Wikentjew ... da muß ich Ihnen wohl glauben. Heute abend also, nicht wahr?«


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