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IV

Auch am Abend kam Raiskij mit Wera nicht weiter. Er redete, schwärmte, geriet in Glut, wenn er in ihre dunkelbraunen Samtaugen sah. Doch die Glut erlosch im nächsten Augenblick wieder, weil diese Augen gar so gleichgültig dreinschauten.

Er sah vor sich ein herrliches Geschöpf, das alles in sich zu vereinigen schien, was ein köstliches Glück voll Lust, voll Qual gewährleisten konnte – aber dieses Glück war ihm verschlossen. Er hatte sich selbst des Rechtes begeben, seine Sehnsucht nach diesem Glück zu äußern und sie, die dort vor ihm saß, anders als mit den Augen des Vetters anzuschauen. Sie mußte für ihn eine Fremde, eine Unbekannte bleiben.

Ja, das mußte nun schon so sein; er hatte sich selbst damit einverstanden erklärt. Er durfte keinen Versuch machen, sich Wera zu nähern. Wäre hier nur, wie bei Marfinka, die naive Mädchenunschuld, die unbewußte, kindliche Unbefangenheit in Frage gekommen, dann wäre es ihm weit leichter gefallen zu entsagen.

Doch bei Wera war von Unbewußtheit keine Rede. Aus ihrem Wesen, ihrem Benehmen sprach vielmehr, wenn nicht die Erfahrung – diese hielt er für ausgeschlossen –, wenn nicht das Wissen, so doch ein deutliches Vorgefühl der Erfahrung und des Wissens. Nicht ihre Unschuld, sondern ihr Stolz war es, der seinen zudringlichen Blick und sein Bestreben, ihr zu gefallen, in die Schranken wies. Sie wußte jedenfalls schon, was der leidenschaftliche Blick, was diese der Schönheit dargebrachten Huldigungen zu bedeuten hatten, wußte, wohin alles das führt, wann das Liebeswerben eines Mannes für ein Mädchen beleidigend ist, und weshalb es das ist.

Sie ahnte oder erriet die Tragweite der Gefühle und Leidenschaften und der Kämpfe, die sie mit sich bringen. Sie sah die Entwicklung dieser Leidenschaften voraus, die Katastrophen, die sich aus ihnen ergeben konnten, und sie ermaß, wie tief solche Katastrophen in das Leben des Weibes eingreifen.

Diese spürende, vorzeitig erratende Wachsamkeit war sicherlich keine Frucht der Erfahrung. Eine gewisse Voraussicht, ein Vorgefühl, ein Ahnungsvermögen findet sich vielfach bei Menschen mit scharf beobachtendem Verstand, namentlich bei Frauen, oft ohne jede Erfahrung, der bei fein empfindenden Naturen der Instinkt gleichsam die Wege ebnet. Er gibt ihnen Winke, die den naiven Naturen unverständlich bleiben, die aber dem scharfen Auge der Begabteren, das beim Leuchten des aus den Wolken niederfahrenden Blitzes momentan das Bild der Landschaft erfaßt, alles oder vieles sagen, was für das Verständnis der zukünftigen Erfahrung von Wert ist.

Und Wera hatte dieses rasch erfassende Auge. Sie brauchte in der Kirche oder auf der Straße nur einen Blick auf die Menge zu werfen, und sie fand sogleich den heraus, den sie gerade suchte. Ein rascher Blick auf die Wolga zeigte ihr alles, was das Bild belebte: das Schiff in der Ferne, das Boot am anderen Ufer, die weidenden Pferde auf der Insel, die Flößer auf der Barke, die Möwe in der Luft und den Rauch, der drüben im fernen Dörfchen aus dem Schornstein aufstieg. Und so rasch und sicher wie ihr Auge schien auch ihr Verstand alles zu erfassen.

Gewiß wußte Wera nicht alles, was sich auf das Spiel und den Kampf der Leidenschaften bezog, doch begriff sie, wie sich aus allem ergab, sehr wohl, daß im Herzensleben des Menschen sich eine ganze Welt von Freuden und Schmerzen birgt, daß Klugheit, Eitelkeit, Zärtlichkeit in diesem Wirbel eine wichtige Rolle spielen und die Seele des Menschen aufwühlen. Ihr lebhafter Instinkt eilte hier der Erfahrung offenbar weit voraus.

Das waren die »Themen«, über die Raiskij gern mit Wera gesprochen hätte – gar zu gern hätte er gewußt, woher ihr diese scheinbare Bekanntschaft mit der Welt der seelischen Erregungen kam, warum sie ihn als Verehrer so bewußt, so stolz und trotzig ablehnte.

Aber sie tat, als bemerke sie seine Bemühungen, ihr Geheimnis zu erraten, überhaupt nicht. Wenn er eine Anspielung machte, so schwieg sie, und wenn sie bei ihrer gemeinsamen Lektüre an eine Stelle kamen, die von diesen Fragen handelte, hörte sie ganz gleichgültig zu, so nachdrücklich auch Raiskij durch Betonung und Stimmfall auf die Stelle hinwies.

Diese immer wieder erneuerte Bemühung, hinter Weras Geheimnis zu kommen und sie zum »Leben« zu bekehren – eine Bemühung, die nach seiner Meinung durchaus nichts mit Liebe zu tun hatte –, versetzte seine Nerven in einen Zustand starker Gereiztheit und machte ihn boshaft und bitter. Seine heitere Stimmung verschwand wieder, die Arbeit fiel ihm lästig, und alle Zerstreuungen waren nicht imstande, seine Laune zu verbessern.

›Das ist schon kein Forschen und Studieren mehr, sondern eine Tortur!‹ dachte er an solchen düsteren Tagen und legte sich zaghaft die Frage vor, wohin eigentlich seine Taktik führen solle, und wie er überhaupt dazu komme, sie zu befolgen.

Wenn er zuweilen mit nüchternem Blick Umschau hielt, empfand er ein Gefühl der Beschämung, daß er vor einem jungen Mädchen, das sich über ihn lustig machte, ihn wie einen Schüler hofmeisterte und seine ehrliche Freundschaft mit kühlster Gleichgültigkeit vergalt, eine so klägliche Rolle spielte.

Er erwischte sich bald wieder dabei, wie er Wera mit argwöhnischem Blick musterte; zwei- oder dreimal hatte er Marina wieder gefragt, ob das gnädige Fräulein zu Hause sei, und als er einmal Wera nicht in ihrem Zimmer antraf, hatte er wohl einen halben Tag am Rande des Abhangs gesessen und auf sie gewartet. Als sie noch immer nicht kam, ging er nochmals nach ihrem Zimmer. Sie war längst zu Hause, und auf seine in möglichst gleichgültigem Ton hingeworfene Frage, wo sie gewesen, hatte sie noch gleichgültiger erwidert: »Ich war unten am Ufer, an der Wolga.«

Schon wollte er sagen, das sei nicht wahr, er habe wieder einmal auf Wache gestanden, doch hielt er an sich und maß sie nur mit einem erstaunten Blick, der ihr nicht entging. Sie blieb vollkommen gleichgültig und hielt es nicht einmal für notwendig zu erklären, auf welchem Wege sie vom Ufer heimgekommen, und wie der scheinbare Widerspruch zu erklären sei.

Sie schien wirklich dort gewesen zu sein, oder doch sonst einen größeren Weg gemacht zu haben, denn sie war ermüdet, hatte ihre Stiefeletten mit den Hausschuhen vertauscht, trug einen Morgenrock statt des Kleides und hatte ein wenig heiße Hände.

Er suchte sich zu ermannen und wieder Gewalt über sich zu gewinnen, um endlich zur Ruhe zu kommen. Er ritt wieder häufiger nach der Stadt, knüpfte Gespräche mit der Aufseherstochter an und konnte sich über ihre Antworten totlachen. Auch mit Marfinka gab er sich wieder mehr ab, suchte in ihr poetische Stimmungen hervorzurufen, probierte es bei ihr mit der Melancholie oder mit leidenschaftlicher Erregung – nicht, um dabei etwas für sich zu profitieren, sondern um einen »frischen, lebendigen Zug« in ihr Seelenleben zu bringen. Doch an ihrem klaren, reinen, stillen Naturell scheiterten alle seine Versuche. Zuweilen schien es ihm, als habe er ihr Gemüt ein wenig in Wallung gebracht, sie pflichtete ihm bei und hörte nachdenklich zu, wenn er ihr irgend etwas recht Kluges, recht Tiefsinniges vortrug, doch fünf Minuten später hörte er sie schon wieder oben in ihrem Stübchen singen:

»Du mein herziger Schatz,
Ach, wie liebe ich dich ...«

Oder sie saß vor ihrem Brett und zeichnete einen Blumenstrauß, eine Taubenfamilie, ein Porträt ihrer Katze, wenn sie nicht in irgendeiner Ecke eins ihrer Bücher »mit glücklichem Ausgang« las oder mit dem zu Besuch anwesenden Wikentjew schwatzte und disputierte.

Noch eine Woche verging, und bald war der Monat herum, den Mark bei seinem törichten Wettvorschlag als Frist gesetzt hatte. Raiskij fühlte sich noch immer frei von »Liebe«. Nein, er hielt sich nicht für verliebt, seine Erregtheit war lediglich ein Ausfluß seiner Phantasie, seiner Neugier.

Es kam vor, daß er einige Tage hintereinander überhaupt nichts von Erregtheit verspürte, daß er Wera mit denselben gleichgültigen Blicken ansah wie Marfinka. Die beiden Schwestern erschienen ihm dann wie zwei in den Ferien weilende reizende Schülerinnen aus einem Pensionat, die ihre besonderen Geheimnisse und Ideale, ihre Schwärmereien, ihre naiven, zusammengelesenen und zusammengeträumten Theorien und Anschauungen hatten, die der Sturm der Wirklichkeit, die Erfahrung bald auf den Kopf stellen wird.

Wera kam und ging, und er konnte ihr Tun und Treiben nun wieder beobachten, ohne jeden Augenblick zusammenzufahren, ohne sich zu erregen, ohne auf einen Blick, ein Wort von ihr zu lauern. Und eines Morgens, als er aufstand, fühlte er sich so sicher und fest, so gleichgültig und innerlich frei, daß er nicht nur auf die Erreichung irgendeiner Gunstbezeigung von seiten Weras, sondern auch auf ihre Freundschaft zu verzichten bereit war.

›Jetzt bin ich ganz kühl, ganz ruhig‹, sagte er sich, ›jetzt kann ich ihr, laut unserer Abmachung, endlich sagen, daß die Probe bestanden ist, daß ich nun imstande bin, ihr Freund zu sein, wie jeder andere auch. Und jetzt kann ich auch ruhig abreisen. Nur mit diesem Barrabas möchte ich noch einmal zusammenkommen, um ihm die letzten Hosen vom Leibe zu ziehen; warum läßt er sich auch auf Wetten ein!‹

Im Vorbeigehen sagte er zu Jegorka, er möchte den Koffer vom Boden holen und ihn zur Abreise bereithalten.

Er begab sich zu Leontij, um in Erfahrung zu bringen, wo sich Mark augenblicklich herumtreibe, und traf sie beide gerade beim Frühstück an.

»Wissen Sie«, sagte Mark, während er ihn aufmerksam musterte, »Sie haben eigentlich alle Anlage zu einem anständigen Kerl, nur etwas mehr Mut könnten Sie brauchen!«

»Mehr Mut – vielleicht, um jemandem in die Beine zu schießen oder zur Nachtzeit in Wirtshäuser einzubrechen?« versetzte Raiskij.

»Unsinn, was brauchen Sie in Wirtshäuser zu gehen – Sie haben ja bei Ihrem Tantchen daheim das schönste Wirtshaus! Nein – aber danken will ich Ihnen doch, daß Sie diesen alten Schuft, den Tytschkow, aus dem Hause geworfen haben. Sie sollen das gemeinsam besorgt haben, mit der Tante zusammen; das war brav von Ihnen!«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Die ganze Stadt spricht davon. Ausgezeichnet! Ich wollte schon zu Ihnen kommen, um Ihnen persönlich meine Anerkennung auszusprechen, doch da hörte ich, daß Sie sich mit dem Gouverneur zusammengetan haben, daß er Sie besucht, und daß Sie mitsamt der Tante vor ihm ›schön‹ machen. Das ist nun gar nicht schön von Ihnen! Ich hatte schon gedacht, Sie hätten auch ihn nur kommen lassen, um ihn die Treppe hinunterzuwerfen.«

»Das wäre nach Ihrer Meinung wohl ein Beweis bürgerlichen Mutes gewesen?« sagte Raiskij.

»Ich weiß nicht, was es gewesen wäre – doch will ich Ihnen durch ein Beispiel klarzumachen suchen, was ich etwa unter Mut verstehe. Seit einiger Zeit treibt sich der Polizeimeister etwas gar zu häufig hier vor unsern Gärten herum; es scheint, daß Seine Exzellenz sich ein wenig darüber beunruhigen, wie es mir geht, und womit ich mir die Zeit vertreibe, und schickt ihn her. Na, mir soll's recht sein. Ich habe mir aber ein paar Bulldoggen angeschafft, die ich mir abrichte. Noch keine acht Tage habe ich sie, und nicht eine Katze läßt sich mehr in den Gärten sehen! Jetzt habe ich sie in einen finsteren Schuppen gesperrt, und sowie der Polizeimeister oder jemand von seinem Gefolge sich wieder hier zeigt, stürzen meine Lieblinge hervor, ganz ohne Absicht natürlich ...«

»Nun – ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden«, unterbrach ihn Raiskij. »Ich reise ab.«

»Sie reisen?« fragte Mark ganz verblüfft.

»Ja. Warum?«

»Ich muß mit Ihnen noch über etwas reden ...« versetzte Mark leise, in ernstem Ton.

Raiskij sah ihn seinerseits erstaunt an.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« sagte er. »Brauchen Sie wieder Geld?«

»Auch das könnte ich brauchen – aber diesmal handelt es sich um etwas anderes. Ich kann jetzt nicht davon sprechen, ich komme zu Ihnen.«

Er winkte mit dem Kopf nach Koslows Frau hinüber, die in demselben Zimmer saß; offenbar wollte er in deren Gegenwart sein Anliegen nicht vorbringen.

Leontij war von seinem Sitz aufgefahren, als er hörte, daß Raiskij abreisen wolle, während seine Frau ein böses Gesicht machte.

»Was fällt Ihnen ein?« flüsterte sie. »Glauben Sie wirklich, daß man Sie fortlassen wird? Sie sind mir der Rechte: so denken Sie an Ihre Ulinka? Nicht ein einziges Mal waren Sie in Abwesenheit meines Mannes hier.«

Sie ergriff seine Hand und hielt sie lange fest, während ihr Blick, halb traurig und halb lächelnd, auf ihm ruhte.

»Haben Sie das Geld mitgebracht?« fragte ihn plötzlich Mark – »die dreihundert Rubel, die ich in der Wette gewonnen habe?«

Raiskij sah ihn ironisch an.

»Wo sind denn Ihre Hosen – wie?« sagte er.

»Nur her mit den dreihundert Rubeln, ich scherze nicht!«

»Wofür denn? Ich bin nicht verliebt, wie Sie sehen.«

»Ich sehe im Gegenteil, daß Sie bis über die Ohren verliebt sind!«

»Woran sehen Sie das?«

»An Ihrem Gesicht.«

»Sie sind sehr im Irrtum. Der Monat ist vorüber, was Sie prophezeiten, ist nicht eingetreten, und Ihre Hosen sind mein. Doch ich brauche sie nicht – ich schenke sie Ihnen als Zugabe zum Paletot.«

»Du willst also wirklich ... abreisen?« sagte Koslow schmerzlich bewegt. »Und die Bücher?«

»Was für Bücher?«

»Nun, deine Bücher – die hier in den Regalen stehen, wohlgeordnet, nach dem Katalog.«

»Ich habe sie dir doch geschenkt!«

»So laß doch die Scherze, sag, was soll mit ihnen werden?«

»Lebt nun wohl, ich habe keine Zeit. Laß mich in Ruhe mit den Büchern, sonst verbrenne ich sie«, sagte Raiskij.

»Nun, Sie weiser Mann, der Sie am Gesicht erkennen, ob jemand verliebt ist oder nicht – leben Sie wohl! Ich weiß nicht, ob wir uns je wieder begegnen.«

»Rücken Sie erst mit dem Geld heraus. Es ist nicht nobel, sich so um eine Schuld herumzudrücken«, sagte Mark. »Ich sehe Ihnen doch die Liebe an; sie ist wie die Masern, noch sieht man sie nicht, doch müssen sie jeden Augenblick herauskommen. Da, das Gesicht ist schon ganz rot! Wie dumm, daß ich einen Termin gesetzt habe! Durch meine eigene Schuld verliere ich nun dreihundert Rubel!«

»Leben Sie wohl!«

»Sie werden nicht abreisen«, sagte Mark.

»Ich besuche dich noch einmal, Koslow. In der nächsten Woche reise ich ab«, wandte sich Raiskij an Leontij.

»Und ich sage, Sie werden nicht abreisen!« wiederholte Mark.

»Wie steht es denn mit deinem Roman?« fragte Leontij, »du wolltest ihn doch hier beenden!«

»Ich bin schon an den letzten Kapiteln – nur muß ich noch alles richtig ordnen. Das soll dann in Petersburg geschehen.«

»Sie werden Ihren Roman nie zu Ende führen – weder den, den Sie selbst gern erleben möchten, noch den, den Sie schreiben!« bemerkte Mark.

Raiskij drehte sich lebhaft nach ihm um. Er wollte irgend etwas sagen, wandte sich aber unwillig ab und ging.

»Warum glaubst du, daß er seinen Roman nicht beenden wird?« fragte Leontij seinen Gast.

»Wie sollte er!« antwortete Mark mit höhnischem Lachen, »er ist doch ein Pechvogel!«


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