Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II

Am Sonntag traf Raiskij in Tatjana Markownas Empfangszimmer eine große Gesellschaft. Alles glänzte und strahlte: Von den karmesinroten Polstermöbeln waren die Überzüge weggenommen, der Fußboden war frisch gewachst, und die Familienporträts waren von Jakow mit einem feuchten Lappen gesäubert worden, so daß sie nun noch einmal so ernst und streng dreinschauten als sonst.

Jakow trug einen schwarzen Frack und eine weiße Halsbinde, während Jegorka, Petruschka und der eben erst frisch vom Dorf unter die Lakaien aufgenommene Stjopka, der das Geradestehen noch nicht gelernt hatte, mit alten, entweder zu großen oder zu kleinen Livreeröcken ausstaffiert waren, von denen ein dumpfer Modergeruch ausging. Gegen Mittag waren im Saal und im Empfangszimmer Räucherkerzen angezündet worden, deren Duft an irgendeine süßliche Brühe erinnerte.

Tatjana Markowna saß in einem seidenen Kleid, die Haube im Nacken und den Schal um die Schultern, auf dem Sofa. Um sie herum hatten im Halbkreis die Gäste ihrem Range nach auf Sesseln Platz genommen.

Auf dem ersten Platz saß Nil Andrejewitsch Tytschkow, im Frack, mit dem Ordensstern, ein würdevoller Greis mit zusammengewachsenen Augenbrauen, einem großen, verschwommenen Gesicht und einem Kinn, das tief in die Halsbinde hinabreichte. Er hatte eine sehr herablassende Art zu sprechen und war von einem tiefen Bewußtsein seiner Würde durchdrungen, das in jeder seiner Bewegungen zum Ausdruck kam.

Dann folgte als nächster im Rang der bescheidene und höfliche Tit Nikonytsch, gleichfalls im Frack, allen zulächelnd und die Tante mit anbetungsvollem Blicke betrachtend; neben ihm der Geistliche im seidenen Priesterrock, mit breitem, gesticktem Gürtel, dann ein paar Gerichtsräte, der Oberst der Garnison, ein dicker, kurzgeratener Herr mit rotem Gesicht und blutunterlaufenen Augen, die jeden Augenblick fürchten ließen, daß ihn ein Schlaganfall trifft. Weiterhin zwei, drei Damen aus der Stadt, ein paar flüsternd in der Ecke stehende junge Beamte und einige Freundinnen Marfinkas, schüchterne, noch nicht ausgewachsene junge Dinger, die sich vor lauter Verlegenheit immer wieder die Hände drückten und jeden Augenblick erröteten.

Endlich war da noch ein in der Nähe der Stadt begüterter Landedelmann mit seinen drei unerwachsenen Söhnen, der eigens nach der Stadt gekommen war, um Visiten abzustatten. Diese Söhne waren der Stolz und das Glück ihres Vaters; sie erinnerten an schlecht erzogene junge Hunde von großer Rasse, deren Köpfe und Pfoten schon ausgewachsen sind, während der übrige Körper noch in der Ausbildung begriffen ist, die Ohren weit vom Schädel abstehen und der Schwanz kaum seine halbe Länge erreicht hat. Sie springen überall täppisch umher, wissen nicht, was sie mit ihren unförmlich langen Pfoten anfangen sollen, können Bekannte und Fremde nicht unterscheiden, bellen ihren Vater an und sind imstande, einen Bastwisch aufzufressen oder den eigenen Bruder ins Ohr zu beißen, wenn er ihnen zufällig zwischen die Zähne kommt.

Der Vater stellte diese hoffnungsvollen Sprößlinge, von denen der älteste vierzehn Jahre zählte, allen Anwesenden insgesamt und jedem einzelnen im besonderen vor, gab seinen Hoffnungen für ihre Zukunft beredten Ausdruck, berichtete alle möglichen Einzelheiten über ihre Geburt und ihre Erziehung, schilderte ihre Fähigkeiten, ihren Witz und ihre Schelmenstreiche und bat, ihre Kenntnisse, namentlich ihre Fertigkeit im Französischen, zu prüfen.

Da sie noch nicht erwachsen waren, hatte man ihnen ihre Plätze in einer bescheidenen Ecke angewiesen. Dort saßen sie nun mit ihren jugendlichen, dummen Gesichtern und blickten mit halbgeöffnetem Mund auf die übrigen Gäste, jungen Raben vergleichbar, die, die gelben Schnäbel weit aufgerissen, im Nest sitzen und gefüttert sein wollen.

Ihre langen Beine fanden unter den Stühlen keinen Platz, sondern reichten bis in die Mitte des Zimmers hinein, wo sie durcheinandergerieten und die übrigen Gäste am Gehen hinderten. Der Vater hatte ihnen ans Herz gelegt, hübsch leise zu sprechen; aber so redlich die armen Kerlchen sich auch abmühten, statt des anempfohlenen Flüsterns entrang sich der vierzehnjährigen Brust ein dröhnender Baß. Und wenn der Vater ihnen sagte, sie sollten artig dasitzen und die Händchen hübsch am Leibe halten, so hinderte das nicht, daß diese Händchen, die sich bereits zu großen, knochigen Fäusten ausgewachsen hatten, die ganze Zeit über nicht wußten, wo sie bleiben sollten. Die armen Burschen hatten eine wahre Folter zu erdulden. Sie keuchten und schwitzten förmlich, bis endlich Tatjana Markowna – teils aus Mitleid, teils weil sie im Zimmer zuviel Platz wegnahmen und, wie sie Marfinka leise zuflüsterte, »nach Stockfisch rochen« – ihnen gestattete, in den Garten zu gehen, wo sie sogleich im Vollgenuß der Freiheit und in froher Erwartung des Frühstücks wild umherzutoben begannen, daß die Gerten nur so von den Sträuchern flogen.

Raiskij kam als letzter zu der Gesellschaft, nach der Pastete, als eben irgendeine süße Speise gereicht wurde. Er befand sich etwa in der Stimmung eines berühmten Schauspielers, der zum erstenmal auf einer Provinzbühne auftreten soll, nachdem allerhand Nachrichten und Gerüchte über ihn seinem Auftreten vorausgegangen sind. Alle verstummten plötzlich bei seinem Eintritt, hielten im Kauen inne und sahen ihn mit gespannter Aufmerksamkeit an.

»Mein Großneffe, der Sohn meiner verstorbenen Nichte Sonitschka!« stellte Tatjana Markowna vor, obschon alle Anwesenden ihn sehr gut kannten.

Der eine und andere der Gäste stand auf und verneigte sich. Nil Andrejitsch sah ihn nur herablassend an und erwartete offenbar, daß er zu ihm kommen würde. Die Damen nahmen eine gezierte Haltung an und schielten verstohlen nach dem Spiegel.

Die jungen Beamten in der Ecke, die ihr Frühstück stehend, mit dem Teller in der Hand, einnahmen, begannen auf ihren Plätzen hin und her zu trippeln; die Mädchen wurden über und über rot und hielten sich, wie im Augenblick einer großen Gefahr, gegenseitig krampfhaft fest; die vierzehnjährigen Jünglinge aber, die, dem Fortgang der Fütterung entgegensehend, ein wenig ruhiger geworden waren, streckten für einen Moment die langgeratenen Gliedmaßen von sich, zogen sie gleich wieder an den Leib und ließen dabei ihre Mützen fallen.

Raiskij machte eine leichte Verbeugung, die für die ganze Gesellschaft berechnet war, und setzte sich dann ohne weiteres neben die Großtante auf das Sofa. Eine allgemeine Bewegung entstand.

»Da, wie er sich hingepatzt hat!« flüsterte einer der jungen Beamten seinem Nachbar zu. »Und wie ihn Seine Exzellenz angucken!«

»Da ist Nil Andrejitsch«, sagte die Großtante, »er wünscht dich schon lange kennenzulernen. Vergiß nicht, daß er Exzellenz ist!« fügte sie flüsternd hinzu.

»Wer ist denn die junge Dame dort?« fragte Raiskij leise die Großtante. »Was für prächtige Zähne sie hat, und was für einen üppigen Busen.«

»Pfui, schäme dich, Boris Pawlytsch! Du bringst mich in Verlegenheit!« flüsterte Tatjana Markowna. »Mein Neffe wollte längst Ihre Bekanntschaft machen, Nil Andrejitsch«, wandte sie sich dann an diesen.

Raiskij öffnete den Mund, um irgend etwas einzuwenden, doch Tatjana Markowna trat ihm auf den Fuß.

»Warum haben Sie mir altem Manne noch nicht das Vergnügen Ihres Besuches gemacht?« versetzte Nil Andrejitsch gutmütig. »Ich freue mich immer, wenn brave Menschen mich besuchen, 's ist freilich langweilig, mit uns Alten zu verkehren, das junge Volk von heute liebt uns nicht, was? Sie sind wohl auch so einer von den Neuen, sagen Sie's nur offen!«

»Ich teile die Menschen nicht in alte und neue ein«, sagte Raiskij, während er sich ein Stück Pastete auf den Teller legte.

»So warte doch mit dem Essen, sprich erst mit ihm!« flüsterte die Großtante.

»Ich kann doch sprechen und dabei essen«, antwortete Raiskij laut.

Die Großtante wurde verlegen und wandte sich ärgerlich von ihm ab.

»Stören Sie ihn nicht, Mütterchen«, sagte Nil Andrejewitsch, »die Jugend soll ihr Recht haben! Wie beurteilen Sie also die Menschen, lieber Freund?« wandte er sich an Raiskij. »Ich bin wirklich neugierig!«

»Ich beurteile sie nach dem Eindruck, den sie auf mich machen.«

»Sehr lobenswert! Diese Aufrichtigkeit gefällt mir. Nun, welchen Eindruck mache ich beispielsweise auf Sie?«

»Vor Ihnen fürchte ich mich.«

Nil Andrejewitsch lächelte zufrieden.

»Warum denn, wenn ich fragen darf? Sprechen Sie sich ganz offen aus!« sagte er.

»Warum ich mich fürchte? Ja, sehen Sie ...«

»Nenne ihn doch Exzellenz!« raunte die Großtante ihm zu. Doch Raiskij hörte nicht auf sie.

»Man sagt, daß Sie gern allen Leuten den Text lesen«, versetzte er. »So sollen Sie einem jungen Mann gehörig den Kopf gewaschen haben, weil er nicht in der Sonntagsmesse war – die Großtante hat mir's erzählt.«

Tatjana Markowna war außer sich. Sie nahm sogar ihre Haube ab und legte sie neben sich, so heiß war ihr plötzlich geworden.

»Was redest du da, Boris Pawlytsch? Warum ziehst du mich hinein?« fiel sie ihm ins Wort.

»Lassen Sie ihn nur, Mütterchen, mag er ruhig sprechen! Ganz recht, daß Sie es ihm gesagt haben, ich liebe es, wenn man von mir die Wahrheit spricht!« bemerkte Nil Andrejitsch.

Doch die Großtante war nicht so leicht zu beruhigen, sie bedauerte es schon, die Gäste eingeladen zu haben.

»Das stimmt schon, daß ich den Leuten gern den Text lese – erinnerst du dich noch?« sagte Nil Andrejitsch, nach der Richtung hingewandt, in der die jungen Beamten sich zusammendrängten.

»Freilich erinnere ich mich, Exzellenz!« gab rasch der eine von ihnen zur Antwort, während er seinen Fuß vorstellte und die Hände auf den Rücken legte. »Ich hab auch mal mein Teil abbekommen.«

»Hm – und wofür?«

»Weil ich mich zu bunt kleidete.«

»Ganz recht! Eines Sonntags nach der Messe machte er bei mir einen Besuch, was ich ja sehr schön fand; aber statt des Fracks hatte er solch ein abstehendes Röckchen an.«

»Wohl so eins, wie ich es trage?« fragte Raiskij.

»Ja, beinahe so, und dazu gewürfelte Pantalons und eine gestreifte Weste – der reine Hansnarr!«

»Und du – hast du auch mal was von mir zu hören bekommen?« wandte er sich an einen zweiten jungen Mann.

»Auch ich bekam meine Strafpredigt, Exzellenz«, antwortete dieser, sich bescheiden verneigend und mit der Hand seinen Scheitel glättend.

»Warum hab ich dich getadelt?«

»Wegen meines Papas damals.«

»Sehr richtig! Er ließ sich nämlich beikommen, über seinen eignen Vater herzuziehen. Der Alte hat einen kleinen Fehler, er trinkt. Und der Herr Sohn nimmt sich heraus, ihm, seinem Vater, deshalb Vorwürfe zu machen und ihm das Geld wegzunehmen! Da hab ich ihn mir ganz gehörig vorgenommen! Na, und fragen Sie die jungen Leute einmal, ob sie mir dafür nicht dankbar sind!?«

Die Beamten waren von dieser Belobigung ganz entzückt und leckten sich danach die Lippen.

»Ich frage euch: Hat's euch gut getan oder nicht? Da hört man immer solche Redensarten, wie zum Beispiel: ›Das Alte taugt nichts, und die alten Kerle sind dumm, und es ist Zeit, ihnen den Mund zu stopfen‹«, fuhr Tytschkow fort. »Wenn man diesen Herrchen den Willen ließe, würden sie uns am liebsten bei lebendigem Leibe begraben und sich selbst auf unsern Platz setzen. Das ist der Zug der Zeit! Es gibt da ein französisches Sprichwort, wie heißt es doch gleich, Natalja Iwanowna?« wandte er sich an eine der Damen.

»Ôte-toi de là, pour que je m'y mette Mach den Platz frei, hier will ich sitzen«, sagte diese.

»Na ja – also: das ist's, was sie gern möchten, diese schlauen Leute in den kurzen Röckchen! Wie heißen doch diese Röckchen auf französisch, Natalja Iwanowna?« fragte er abermals die Dame, während er Raiskijs Jackett musterte.

»Ich weiß es nicht«, lautete die verschämte Antwort.

»Oh, du weißt es schon, Mütterchen«, versetzte Nil Andrejitsch und drohte ihr schalkhaft mit dem Finger, »aber du willst es hier nicht so vor allen Leuten sagen, weil's nicht ganz anständig klingt. Nun, dafür lobe ich dich!« Und zu Raiskij gewandt, fuhr er fort: »Sehen Sie also, wenn ich an einem jungen Menschen so etwas bemerke, wenn ich Redensarten höre, wie zum Beispiel: ›Ich bin selbst schlau genug, ich brauche niemand um Rat zu fragen‹ – dann nehme ich mir den Betreffenden eben ganz gründlich vor und wasche ihm den Kopf, ob's ihm gefällt oder nicht!«

»Es führt auch zu nichts Gutem, dieses neue Wesen«, bemerkte der Gutsbesitzer. »Da ist zum Beispiel der ungarische und der polnische Aufstand: was soll der? Das kommt alles von diesen neuen Grundsätzen!«

»Meinen Sie?« fragte Raiskij.

»Ja, ich bin dieser Meinung – doch möchte ich gern hören, wie Sie darüber denken«, versetzte der Gutsbesitzer, während er näher an Raiskij heranrückte. »Unsereins sitzt sein Leben lang im Dorf und weiß nicht, was in der Welt vorgeht, um so mehr freut man sich, einmal einen gebildeten Menschen zu hören.«

Raiskij machte ihm eine ironische Verbeugung.

»Da liest man in der Zeitung, wie gestern zum Beispiel, daß der König von Schweden die Stadt Christiania besucht hat – ja, aus welchem Grunde denn? Davon erfährt man nichts!«

»Interessiert Sie denn das so sehr?«

»Warum schreibt man erst in der Zeitung darüber, wenn der König keinen besonderen Grund hatte, Christiania zu besuchen.«

»Ist nicht vielleicht in der Stadt eine große Feuersbrunst gewesen? Steht davon nichts drin?« fragte Raiskij.

Iwan Petrowitsch, der Gutsbesitzer, machte große Augen.

»Nein, von einer Feuersbrunst wurde nichts geschrieben. Es stand da nur, daß Seine Majestät die Volksversammlung besucht haben.«

Tit Nikonytsch und der eine der Gerichtsräte sahen einander lächelnd an, verhielten sich jedoch schweigend.

»Noch eins wollte ich fragen«, begann der Gutsbesitzer von neuem. »Jetzt ist doch in Frankreich wieder ein Napoleon Kaiser geworden.«

»Ganz recht – und was weiter?«

»Na, der hat sich doch mit Gewalt des Kaiserthrones bemächtigt.«

»Wieso mit Gewalt? Man hat ihn doch zum Kaiser gewählt.«

»Was waren das aber für Wahlen! Es heißt doch, man habe Soldaten geschickt, die die Wähler mit Gewalt heranschleppten, man habe die Stimmen gekauft. Ich bitte Sie, was für Wahlen sind denn das? Da lachen ja die Hühner!«

»Und wenn auch ein bißchen Gewalt dabei war – was soll man schließlich mit ihm machen?« fragte Raiskij, den dieser Dorfpolitiker interessierte, neugierig.

»Wie können denn das die andern Fürsten dulden? Warum jagen sie ihn nicht mit Waffengewalt fort?«

»Versuch's doch mal!« fiel ihm Nil Andrejitsch ins Wort. »Wie sollen sie denn das anfangen?«

»Sie sollen eine Armee aufstellen, aus jedem Staat ein paar Regimenter, und sollen gegen ihn ziehen, wie gegen den verstorbenen Bonaparte. Damals bestand die Heilige Alliance.«

»Sie sollten einen Feldzugsplan entwerfen«, bemerkte Raiskij, »vielleicht würde man ihn annehmen.«

»Gott bewahre mich!« versetzte der Gast bescheiden. »Ich rede nur so, aus Wißbegierde. Dann wollte ich Sie noch eins fragen«, fuhr er, zu Raiskij gewandt, fort.

»Warum gerade mich?«

»Nun, Sie haben doch in der Residenz gelebt, dort waren Sie sozusagen an der Quelle, nicht so, wie wir hier auf dem Lande. Ich wollte also fragen: die Türken haben doch von jeher die Christen unterdrückt, haben sie mit Feuer und Schwert ausgerottet, haben ihre Frauen ...«

»He, du, Iwan Petrowitsch, hüte deine Zunge, daß du nicht etwas Unpassendes sagst! Sieh nur, wie Nastasja Petrowna errötet ist«, mischte sich Nil Andrejitsch ins Gespräch.

»Was reden Exzellenz nur wieder! Warum sollte ich denn erröten? Ich habe nicht einmal gehört, wovon gesprochen wurde«, versetzte die eine der Damen in keckem Ton, während sie kokett ihren Schal zurechtzupfte.

»Kleine Schelmin!« sagte Nil Andrejitsch und drohte ihr mit dem Finger, worauf er sich an den Geistlichen wandte: »Hat sie sich nicht in der Beichte beklagt, Väterchen, daß ihr Mann ...«

»Ach, was reden Sie nur alles zusammen, Exzellenz!« unterbrach die Dame ihn hastig.

»Bah, schon gut, schon gut! Also, mein lieber Iwan Petrowitsch, was haben die Türken den Christenfrauen angetan? Was hast du darüber gelesen? Nastasja Petrowna möchte es gar zu gern wissen. Sieh dich nur vor, Nastasja Petrowna, daß du nicht schließlich selbst in die Türkei ausrückst!«

Iwan Petrowitsch hatte mit Ungeduld gewartet, daß Nil Andrejitsch endlich mit den Späßen aufhören möchte, und wandte sich nun wieder an Raiskij, dem er seine Fragen jedesmal wie eine Pistole auf die Brust setzte.

»Ich wollte Sie also fragen, warum man eigentlich die Türken nicht zur Vernunft bringt?«

»Weil die Weiber auf Seiten der Türken sind«, fuhr Nil Andrejitsch fort zu scherzen. »Diese da zum Beispiel ist die erste ...«

Er zeigte nach derselben Dame, die er vorher bereits einer Anrede gewürdigt hatte.

»Ach, Tatjana Markowna, warum haben Seine Exzellenz es heute gerade auf mich abgesehen?«

Sie tat, als sei sie im höchsten Maße verlegen.

»Ich wollte Sie also fragen, warum eigentlich nicht alle Mächte sich aufraffen und gegen die Türken ziehen«, wandte sich Iwan Petrowitsch in seiner hartnäckigen Weise an Raiskij, »warum sie zum Beispiel nicht das Grab des Heilands ihrer Gewalt entreißen?«

»Ich habe, offen gestanden, nicht tiefer darüber nachgedacht«, sagte Raiskij, »doch will ich der Sache jetzt meine besondere Aufmerksamkeit zuwenden, und wenn Sie mich darüber genauer informieren wollten, wäre ich nicht abgeneigt, mich an der Lösung der orientalischen Frage zu beteiligen.«

»Ja, sagen Sie«, fiel der Gast ihm lebhaft ins Wort, »Sie sagten soeben: ›orientalische Frage‹, und ich lese das Wort so häufig in der Zeitung. Was versteht man eigentlich unter dieser orientalischen Frage?«

»Das, was Sie soeben von den Türken sagten – weiter nichts.«

»So, so ...«, sagte der Gutsbesitzer nachdenklich. »Aber das ist doch eigentlich gar keine Frage!«

»Jetzt gibt es alle möglichen Fragen«, bemerkte der vollblütige Oberst mit heiserer Stimme. »So habe ich neulich aus Petersburg von unserem Regimentsadjutanten einen Brief erhalten, in dem er schreibt, daß man sich jetzt sehr lebhaft mit der ›Frage‹ der Uniformänderung in der Armee beschäftige.«

Die Gäste schwiegen.

»Da ist zum Beispiel Irland!« unternahm Iwan Petrowitsch einen neuen Anlauf, nachdem er in der kurzen Redepause frische Kräfte gesammelt hatte. »Es heißt, es sei ein armes Land, die Einwohner hätten keine andere Nahrung als Kartoffeln, und auch die mißrieten nicht selten.«

»Nun, also was?«

»Na, Irland ist doch unter der Botmäßigkeit Englands, und England ist doch ein reiches Land. Solche Gutsbesitzer, wie dort, gibt es sonst nirgends in der Welt. Warum nimmt man nun nicht aus England, sagen wir, die Hälfte allen Getreides und allen Viehes, um damit Irland zu unterstützen?«

»Was fällt dir ein, mein Lieber, du predigst ja den Aufstand!« rief Nil Andrejitsch plötzlich dazwischen.

»Was für einen Aufstand, Exzellenz? Ich frage doch nur aus Wißbegierde!«

»Was würdest du sagen, wenn in Wjatka und Perm Hungersnot ausbräche und du die Hälfte deines Getreides dorthin abgeben solltest – hä?«

»Das ist doch ausgeschlossen! Bei uns liegen doch die Dinge ganz anders.«

»Wenn deine Bauern dich hörten, was wäre die Folge?« fuhr Nil Andrejitsch in ernsthaftem Ton fort.

»Davor möge mich Gott bewahren!« sagte der Gutsbesitzer.

»Um des Himmels willen!« sprach auch Tatjana Markowna.

»Schon jetzt spitzen sie die Ohren, obgleich sie noch nichts wissen«, fuhr Nil Andrejitsch fort.

»Was denn? Was ist denn passiert?« fragte die Bereshkowa ganz erschrocken.

»Na, von der Aufhebung der Leibeigenschaft reden sie. Man hat dem Gouverneur gemeldet, daß auf Mamyschtschews Gut Unruhen ausgebrochen seien.«

»Gott beschütze uns!« riefen abermals sowohl der Gutsbesitzer wie Tatjana Markowna.

»Exzellenz haben vollkommen recht!« bemerkte der Gutsbesitzer. »Man soll's nur versuchen, ihnen die Freiheit zu geben – dann geht's gleich in die Schenke und zur Balalaika, sie trinken sich voll und drängen sich an einem vorbei, ohne auch nur die Mütze vom Kopf zu ziehen.«

»Die Sache geht übrigens gar nicht von den Bauern aus«, versetzte Nil Andrejitsch mit einem Seitenblick auf Raiskij. »Das Übel ist vielmehr überall verbreitet, wie eine Epidemie. Zuerst hört solch ein Bürschchen auf, den Abendgottesdienst zu besuchen. Das ist so langweilig, sagt er; dann findet er es überflüssig, dem Vorgesetzten am Feiertag seine Aufwartung zu machen, er sei kein Bedienter, sagt er; dann erscheint er in einem unpassenden Anzug zum Dienst und läßt sich den Bart wachsen« – wiederum folgte ein Seitenblick auf Raiskij – »und so weiter, und so weiter, und schließlich erklärt er, wenn man ihn gewähren läßt, es gebe keinen Gott im Himmel, und es habe keinen Zweck zu beten!«

Eine allgemeine Bewegung ging durch die Gesellschaft.

»Jaja, so ist's! Da hatte mein Gutsnachbar einen Hauslehrer, der kam sogar direkt vom Priesterseminar!« erzählte der Gutsbesitzer, zu dem Geistlichen gewandt. »Anfangs ging alles ganz still und friedlich zu. Dann hat er den älteren Kindern alles mögliche zugeflüstert – bis eines Tages das eine Mädchen sich vor der Mutter verplapperte: ›Es gibt keinen Gott, Nikita Sergejitsch hat es von jemand gehört.‹ Man nahm ihn sogleich ins Gebet: Was soll das heißen – es gibt keinen Gott? Der Vater der Kinder fuhr zum Bischof, es gab eine große Untersuchung im Seminar ...«

»Ja, ich erinnere mich«, sagte der Geistliche. »Man fand verbotene Bücher ...«

»Nun, sehen Sie!«

»Sagen Sie doch, bitte«, wandte sich Iwan Petrowitsch wieder an Raiskij, »wie kommt es nur, daß die Völker sich empören?«

»Welche Völker?«

»Na, zum Beispiel die Indianer! Das sind doch lauter heidnische Schufte, gar keine Christen: Lumpenpack, das nackt herumläuft, und unverbesserliche Säufer! Und dabei soll das Land reich sein, die Ananasse wachsen dort so massenhaft wie bei uns die Gurken. Was wollen Sie noch mehr?«

Raiskij schwieg. Schwermut und Langeweile befielen ihn.

›Was für ein abscheuliches Laster ist sie doch in Wahrheit, diese vielgerühmte slavische Tugend der Gastfreiheit!‹ dachte er. ›Was für Mißgeburten hat sich die gute Großtante hier auf den Hals geladen!‹

Auch die übrigen schwiegen, das reichliche Frühstück hemmte ihre Sprechlust. Iwan Petrowitsch trug ganz allein die Kosten der Unterhaltung.

»Jetzt hat man den Chinesen den Amur weggenommen«, begann er von neuem; »auch ein reiches Land! Wir werden jetzt unsern eigenen Tee haben, brauchen keinen mehr vom Ausland zu kaufen, das ist sehr angenehm und vorteilhaft!«

»Du kümmerst dich auch um alles mögliche, Iwan Petrowitsch!« sagte Tytschkow mit leichtem Tadel.

»Ich rede doch nur aus Wißbegierde, weil eben der Herr in der Residenz gelebt hat. Neulich las ich auch in der Zeitung, daß der Papst ...«

In diesem Augenblick stürzte vom Saal her Polina Karpowna geräuschvoll ins Zimmer, in einem Musselinkleid, mit weiten Ärmeln, die ihre vollen weißen Arme fast bis an die Schultern hinauf sehen ließen. Hinter ihr her schritt Michel, der Kadett.

»Eine entsetzliche Hitze! Bonjour, bonjour!« sagte sie, sich nach allen Seiten hin verneigend, und setzte sich neben Raiskij auf das Sofa.

»Es wird uns hier etwas eng werden«, meinte Raiskij und nahm auf einem Stuhl nebenan Platz.

»Non, non, ne vous dérangez pas Nein, nein, lassen Sie sich nicht stören«, sprach sie, während sie ihn festzuhalten suchte. »Wie langweilig!« fuhr sie dann flüsternd fort. »Sie haben das Haus voll Gäste, und ich möchte Sie so gern unter vier Augen sprechen!«

»Warum?« fragte er laut. »Haben Sie irgendein Anliegen?«

»Allerdings!« entgegnete sie, immer noch flüsternd, mit einem geheimnisvollen Lächeln.

»Was ist's denn?«

»Nun, das Porträt ...«

»Das Porträt? Was für ein Porträt?«

»Mein Porträt! Sie haben doch versprochen, mich zu malen. Wissen Sie das nicht mehr? Undankbarer!«

»Ah, Dalila Karpowna!« rief Nil Andrejitsch gedehnt, »seien Sie willkommen! Wie geht's Ihnen?«

»Ich danke«, sagte sie trocken, ohne ihn anzusehen.

»Warum beglücken Sie mich nicht mit einem holden Blick? Wenden Sie sich doch zu mir herum, lassen Sie mich Ihren Schwanenhals bewundern.«

In der Gruppe an der Tür ließ sich ein Lachen vernehmen, und auch die Damen lächelten.

»Der Grobian: er wird gleich irgendeine Gemeinheit vorbringen!« flüsterte Polina Karpowna Raiskij zu.

»Denk nicht gering von dem Alten, er könnte darauf verfallen, dir einen Heiratsantrag zu machen! Oder gefällt er dir nicht, ist er dir nicht mehr jung genug? Er kann dich zur Generalin machen!«

»Ich sehne mich nicht nach dieser Ehre«, entgegnete sie, ohne ihn anzusehen. »Bonjour, Natalja Iwanowna, wo haben Sie Ihr reizendes Hütchen gekauft, bei Madame Pichet?«

»Mein Mann hat es aus Moskau kommen lassen«, sagte Natalja Iwanowna mit einem schüchternen Blick auf Raiskij, »es sollte eine Überraschung sein.«

»Sehr, sehr niedlich!«

»Aber so sehen Sie mich doch endlich an. Ich habe wirklich die Absicht, mich um Ihre Hand zu bewerben!« setzte Nil Andrejitsch ihr von neuem zu. »Ich brauche eine Frau im Hause, ein bescheidenes Frauchen, das nicht kokett ist, nicht verwöhnt, nicht putzsüchtig, das keinen andern Mann ansieht als nur mich allein. Nun, und in dieser Hinsicht stehen Sie doch in unserer Stadt als ein Muster da.«

Polina Karpowna tat, als höre sie ihn nicht; sie bewegte ihren Fächer hin und her und suchte Raiskij in eine Unterhaltung zu ziehen.

»Sie geben doch allen unsern Müttern und Töchtern ein gutes Beispiel«, fuhr Nil Andrejitsch unbarmherzig fort. »Sie knien so fromm in der Kirche, verwenden keinen Blick von den Heiligenbildern, sehen sich nicht um, haben keine Augen für die jungen Leute ...«

Das Lachen an der Tür wurde lauter, und die Damen verzogen ihre Gesichter, um ihr Lächeln zu verbergen.

Tatjana Markowna suchte die Attacke des Alten von ihrem Gast abzulenken.

»Essen Sie doch von der Pastete, Polina Karpowna. Ich werde Ihnen etwas auftun«, sagte sie.

»Merci, merci, ich muß danken. Ich habe soeben erst gefrühstückt!«

Auch das half nicht. Nil Andrejitsch erneuerte immer wieder den Angriff auf sein Opfer.

»Sie kleiden sich wie eine Nonne, Schultern und Arme hüllen Sie hübsch ein. Überhaupt betragen Sie sich ganz so, wie es Ihrem ehrwürdigen Alter geziemt«, sagte er.

»Warum setzen Sie mir denn heute so zu?« sprach Polina Karpowna. »Est-il bête, grossier? Ist er nicht blöd und grob?« fügte sie, zu Raiskij gewandt, hinzu.

»Jaja, parlez-vous francais ...«, unterbrach sie Tytschkow.

»Ich will Sie heiraten, meine Gnädige, darum setze ich Ihnen so zu; wir beide passen doch prächtig zueinander!«

»Ich verzichte auf die Ehre, zu Ihnen zu passen!« versetzte die Krizkaja, ohne ihn anzusehen.

»Gewiß passen Sie zu mir, erlauben Sie einmal: ich war noch Kollegienassessor, als Sie den verstorbenen Iwan Jegorytsch heirateten. Das sind jetzt ... Wieviel Jahre sind's doch gleich?«

»Wie heiß es ist – on étouffe ici: allons au jardin! man erstickt hier ja, gehen wir in den Garten! Reichen Sie mir die Mantille, Michel!« wandte sie sich an den Kadetten.

In diesem Augenblick trat Wera ins Zimmer.

Alle erhoben sich und umringten sie, und das Gespräch nahm eine andere Wendung. Raiskij war aller dieser Menschen, zumal nach den letzten Szenen, bereits überdrüssig geworden und wollte sich schon entfernen, doch bei Weras Eintritt loderte plötzlich das Gefühl der ›Freundschaft‹ für sie so heftig in ihm auf, daß er wie festgenagelt auf seinem Stuhl sitzenblieb.

Wera überschaute mit flüchtigem Blick die Gesellschaft, wechselte mit dem einen und andern der Anwesenden ein paar Worte, drückte den jungen Mädchen, die ihr Kleid und ihre Frisur mit Aufmerksamkeit musterten, die Hand, lächelte den Damen mit gleichgültiger Freundlichkeit zu und nahm dann auf einem Stuhl neben dem Kamin Platz.

Die jungen Beamten zupften an ihren Röcken herum, Nil Andrejitsch schmatzte wohlgefällig mit den Lippen, und die jungen Mädchen verwandten kein Auge von Wera.

Marfinka kam gar nicht zum Sitzen: bald schenkte sie jemandem ein Glas Wein ein, bald bot sie Erfrischungen an oder bemühte sich, ihre Freundinnen zu unterhalten.

»Wera Wassiljewna!« begann Nil Andrejitsch, »nehmen Sie sich meiner an, mein schönes Kind!«

»Hat man Sie gekränkt?«

»Gewiß hat man das! Dalila ... oder vielmehr Pelageja Karpowna hat mich gekränkt.«

»Impertinent!« flüsterte die Krizkaja empört, erhob sich vom Platz und ging der Tür zu.

»Wohin, Polina Karpowna? Wollen Sie denn gar nicht von der Pastete kosten? Marfinka, halt sie doch zurück! Polina Karpowna!« rief Tatjana Markowna.

»Nein, nein, Tatjana Markowna, ich bin immer gern zu Ihnen gekommen, und ich bin Ihnen so dankbar«, sagte die Krizkaja bereits vom Saal aus, »doch mit diesem Grobian will ich nicht zusammen sein, weder bei Ihnen noch sonstwo. Wenn mein Mann noch lebte, würde er es nicht gewagt haben.«

»Seien Sie dem Alten nicht böse, er meint es nicht schlimm, er ist sonst ein so ehrenwerter Mensch.«

»Nein, nein, lassen Sie mich, bitte. Ich komme ein andermal, wenn er nicht da ist.«

Tiefgekränkt, mit Tränen in den Augen, fuhr sie davon. Die andern blieben in heiterer Stimmung zurück, und Nil Andrejitsch konnte aus ihrem Lachen mit Genugtuung den Schluß ziehen, daß man sein Verhalten billigte. Nur Raiskij und Wera lachten nicht. Einen so komischen Eindruck auch Polina Karpowna auf Raiskij machte, die groben Sitten dieser Leute und zumal der Ausfall des Alten empörten ihn. Er saß in düsterem Schweigen da und bewegte nervös die Fußspitze.

»Na, ist sie fort? Sie hat sich wohl beleidigt gefühlt?« begann Tytschkow, als Tatjana Markowna, offenbar erregt über das Vorgefallene, zurückkam und sich wieder schweigend auf ihren Platz begab.

»Tut nichts, mag sie's herunterschlucken!« fuhr der Alte fort. »Was braucht sie hier halb nackt vor aller Welt herumzulaufen, hier ist doch keine Badeanstalt!«

Die Damen senkten die Augen, und die jungen Mädchen erröteten heftig und drückten sich gegenseitig die Hände.

»Was braucht sie in der Kirche sich nach allen Seiten umzusehen und die jungen Leute an sich zu ziehen? Auch du, Iwan Iwanytsch, kamst ja kaum noch von ihr fort. Wie steht's denn: gehst du immer noch hin?« fragte er einen der jungen Leute in strengem Ton.

»Ich hab's längst aufgegeben, Exzellenz. Es paßte mir nicht, ihr ewig Komplimente zu machen.«

»So, so – du hast es aufgegeben! Was für ein schlechtes Beispiel ist das für unsere jungen Frauen und Mädchen! Sie ist längst über Vierzig und geht noch immer in Rosa gekleidet, mit lauter Bändchen und Schleifen. Wie soll man ihr da nicht den Text lesen? Sie sehen«, wandte er sich an Raiskij, »ich bin nur dem Laster furchtbar, und dabei sagten Sie, Sie fürchteten sich vor mir! Man muß Ihnen ja wahre Mordgeschichten von mir erzählt haben. Wer war's denn, der mich Ihnen so schilderte?«

»Wer es war? Mark war es«, sagte Raiskij.

Eine allgemeine Bewegung entstand, einige der Anwesenden befiel sogar ein Zittern.

»Was für ein Mark?« fragte Tytschkow, die Brauen runzelnd.

»Mark Wolochow, der hier unter Polizeiaufsicht lebt.«

»Dieser Räuber? Sind Sie denn mit ihm bekannt?«

»Wir sind Freunde.«

»Freunde?« rief der Alte ganz verblüfft und ließ einen Pfiff hören. »Tatjana Markowna, was muß ich da vernehmen?«

»Glauben Sie ihm nicht, Nil Andrejitsch, er weiß selbst nicht, was er spricht!« versetzte die Großtante. »Wie kannst du den Menschen nur deinen Freund nennen?«

»Wie denn, Tantchen? Hat er nicht bei mir zu Abend gegessen und übernachtet? Haben Sie nicht selbst angeordnet, man solle ihm ein recht weiches Lager zurechtmachen? ...«

»Boris Pawlytsch, erbarme dich, schweig!« flüsterte die Großtante zornig.

Doch es war schon zu spät: Tytschkow sah Tatjana Markowna mit entrüsteten Augen an. Die Damen betrachteten sie mit Mitleid, die Herren standen mit offenem Munde da, und die jungen Mädchen drängten sich ganz dicht zusammen.

Um Weras Kinn aber zuckte und zitterte ein Lächeln. Sie musterte mit sichtlichem Vergnügen die ganze Gesellschaft und warf Raiskij einen freundschaftlich-dankbaren Blick zu, als Entgelt für diesen Genuß, den er ihr ganz unverhofft bereitete. Marfinka versteckte sich, so gut es ging, hinter der Großtante.

»Was muß ich hören!« rief Nil Andrejitsch mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens. »Sie haben wirklich diesem Barrabas den Zutritt zu Ihrem Hause gewährt?«

»Nicht ich habe es getan, Nil Andrejitsch, sondern Borjuschka hat ihn zur Nachtzeit hierher mitgebracht. Ich wußte gar nicht, wen er in seinem Zimmer beherbergte.«

»Sie treiben sich also zur Nachtzeit mit ihm herum?« wandte Tytschkow sich nun an Raiskij. »Wissen Sie denn auch, daß er ein höchst gefährlicher Mensch ist, ein Feind der Regierung, ein Abtrünniger, der von Kirche und Gesellschaft nichts wissen will?«

»Entsetzlich!« riefen einige der Damen.

»Und der hat Ihnen also meine Person geschildert?« fragte Nil Andrejewitsch.

»Allerdings.«

»Er hat Ihnen wohl erzählt, ich sei ein wildes Tier, ein Ungeheuer, das die Menschen frißt?«

»Das nicht gerade; aber das sich aus irgendeinem Grunde herausnimmt, sie zu beleidigen.«

»Und Sie haben ihm geglaubt?«

»Bis zum heutigen Tage nicht.«

»Und heute?«

»Heute glaube ich's.«

Staunen und Schreck bemächtigten sich der Anwesenden. Einige der Beamten schlichen sich leise in den Saal und horchten von dorther, was weiter geschehen würde.

»Ei, sieh doch!« sprach Tytschkow, verblüfft und hochfahrend zugleich, und zog die Brauen zusammen. »Und warum glauben Sie es?«

»Weil ich soeben selbst Zeuge war, wie Sie eine Frau beleidigt haben.«

»Hören Sie, was er sagt, Tatjana Markowna?«

»Borjuschka! Boris Pawlytsch!« suchte die Großtante Raiskij zu beschwichtigen.

»Diese alte Kokette, diese Verführerin, diese windige Person!« fuhr es Nil Andrejitsch heraus.

»Was geht sie Sie an? Wer gibt Ihnen ein Recht, sich zum Richter über fremde Schwächen aufzuwerfen?«

»Und woher nehmen Sie, junger Mann, das Recht, mir Vorhaltungen zu machen? Wissen Sie auch, daß ich fünfzig Jahre lang gedient habe und nicht ein einziger Minister mir auch nur die geringste Rüge erteilt hat?«

»Woher ich das Recht dazu nehme? Daher, daß Sie in meinem Hause eine Frau beleidigt haben. Ich wäre ja ein ganz erbärmlicher Wicht, wenn ich das zuließe! Sie scheinen das nicht zu begreifen – nun, um so schlimmer für Sie!«

»Wenn Sie in Ihrem Hanse eine Frau empfangen, von der die ganze Stadt weiß, daß sie ein leichtfertiges, windiges Flittchen ist, daß sie sich für ihre Jahre viel zu jugendlich kleidet, daß sie ihre häuslichen Pflichten vernachlässigt ...«

»Nun, was weiter?«

»Dann verdienen Sie, ebenso wie Tatjana Markowna, daß ich Ihnen beiden ganz gehörig den Text lese! Jaja, ich trug mich längst mit dieser Absicht, Mütterchen. Sie dulden es, daß diese Person hierherkommt ...«

»Nun, ihre Leichtfertigkeit, ihr windiges Wesen, ihre Koketterie sind doch weiter keine großen Verbrechen«, sagte Raiskij, »von Ihnen dagegen weiß die ganze Stadt, daß Sie Bestechungsgelder genommen und sich damit ein Vermögen gemacht haben, daß Sie Ihre eigne Nichte ausgeplündert und ins Irrenhaus gebracht haben, und doch hat meine Großtante, habe auch ich Ihnen dieses Haus geöffnet, obwohl das, was Sie auf dem Gewissen haben, weit schlimmer ist als ein bißchen Koketterie! Dafür sollten Sie uns einmal den Text lesen!«

Eine unbeschreibliche Szene des Schreckens spielte sich nun ab. Die Damen sprangen auf und drängten sich in dichtem Haufen nach dem Saal, ohne von der Gastgeberin Abschied zu nehmen. Und hinter ihnen her flüchteten, gleich jungen Lämmern, die Mädchen. Alles brach auf. Die Großtante gab Marfinka und Wera einen Wink, sie möchten sich entfernen. Marfinka gehorchte, Wera aber blieb.

Nil Andrejewitsch war ganz bleich geworden.

»Wer ... wer hat dir diese Gerüchte mitgeteilt? Sprich! Auch dieser Räuber, der Mark? Ich fahre sofort zum Gouverneur! Tatjana Markowna, entweder ist's aus mit unserer Bekanntschaft, oder dieser Bursche da« – er wies auf Raiskij – »darf nie mehr Ihr Haus betreten! Sonst sorge ich dafür, daß er sowohl wie das ganze Haus, und auch Sie selbst, innerhalb vierundzwanzig Stunden abgeführt werden, dahin, wo der Pfeffer wächst.«

Tytschkow rang nach Atem und wußte in seinem Zorn selbst nicht, was er sprach.

»Wer ... wer hat ihm das gesagt? Ich will es wissen! Wer? ... Gesteh es!« kam es röchelnd aus seiner Kehle.

Tatjana Markowna hatte sich plötzlich von ihrem Platz erhoben.

»Schwatz keinen Unsinn, Nil Andrejitsch! Sieh, wie dir das Blut ins Gesicht geschossen ist. Ehe du dich versiehst, kriegst du vor lauter Bosheit einen Schlaganfall. Trink einen Schluck Wasser! Als ob's Gott weiß was für ein Geheimnis wäre, was er da gesagt hat! Nun denn, wenn du es durchaus wissen willst: ich hab's ihm erzählt! Und es ist die Wahrheit, was ich ihm erzählt habe!« fügte sie hinzu. »Die ganze Stadt weiß es!«

»Wie dürfen Sie, Tatjana Markowna!« brüllte Nil Andrejitsch.

»Seit fünfundsechzig Jahren heiße ich so, ganz recht. Nun, und was darf ich oder darf ich nicht? Dir geschieht nur, was du verdient hast! Immer mußt du auf alle Welt losbelfern! Du hast in einem fremden Hause eine Frau beleidigt, hast dich nicht so benommen, wie es sich für einen Edelmann schickt. Wenn dir der Hausherr deshalb die Wahrheit sagt, so ist das nur in der Ordnung.«

»Wie dürfen Sie es wagen, mir so zu begegnen!« brüllte Tytschkow von neuem.

Raiskij war vorgestürzt, um sich auf Tytschkow zu werfen. Doch die Großtante hielt ihn mit einer so gebieterischen Geste zurück, daß er wie versteinert stehenblieb und wartete, was nun weiter folgen würde.

Sie richtete sich plötzlich hoch auf, setzte ihre Haube auf, wickelte sich fester in den Schal und trat dicht an Nil Andrejitsch heran. Voll Erstaunen blickte Raiskij auf die Großtante. Sie war es, nicht Nil Andrejitsch, die seine Aufmerksamkeit fesselte. Sie war plötzlich zu so überlegener Größe emporgewachsen, daß er selbst sich ihr gegenüber klein vorkam.

»Wer bist du denn?« sagte sie – »ein ganz erbärmlicher Kanzlist, ein Parvenü! Und du wagst es, eine Frau von altem Adel anzuschreien? Du vergißt dich, mein Lieber, du mußt eine Lehre haben! Ich will sie dir ein für allemal erteilen, daß du daran denken sollst! Du hast, vergessen, daß du einstmals, als junger Mann, wenn du meinem Vater die Akten vom Gericht brachtest, dich in meiner Gegenwart nicht einmal zu setzen wagtest und so manches Mal von mir ein Trinkgeld in die Hand gedrückt bekamst. Wenn du ein ehrlicher Mensch wärest, würde dir niemand solche Dinge vorhalten; aber du hast Geld zusammengestohlen, mein Neffe hat nur die reine Wahrheit gesagt! Und wenn man dich hier gelitten hat, so geschah es nur aus Schwäche, und darum solltest du schweigen und jetzt, kurz vor deinem Ende, Buße tun für dein schwarzes Sünderleben. Doch du kennst kein Maß, du platzt ja vor lauter Hochmut, und Hochmut ist ein Laster, das den Menschen betrunken macht, so daß er sich selbst vergißt. Wohlan, ernüchtere dich wieder, steh auf und verneige dich, vor dir steht Tatjana Markowna Bereshkowa!! Und hier steht mein Großneffe, Boris Pawlytsch Raiskij! Siehst du: hätte ich ihn nicht zurückgehalten, er hätte dich die Treppe hinuntergeworfen; aber ich will nicht, daß er sich die Hände an dir beschmutzt, um dich aus dem Hause zu befördern, dazu genügt ein Lakai! Ich habe jemanden, der für mich eintritt. Geh, such du dir erst einen Fürsprecher! Heda, Leute!« rief sie laut, klatschte in die Hände, reckte sich in ihrer ganzen Größe empor und sah mit blitzenden Augen um sich. Wie sie so dastand, glich sie Zug um Zug einer der vornehmen Frauen ihres Geschlechtes, deren Bildnis da mitten unter den übrigen Porträts an der Wand hing.

Tytschkow stand da und schaute mit blöden Augen um sich.

»Ich werde nach Petersburg schreiben ..., die Stadt ist in Gefahr ...«, sprach er hastig, mit dumpfer Stimme. Dann ging er, von ihren blitzenden Augen gefolgt, mit gebücktem Nacken zur Tür hinaus und wagte nicht einmal zurückzuschauen.

Er hatte das Haus verlassen. Tatjana Markowna stand noch eine ganze Weile hoch aufgerichtet, mit zornig blitzenden Augen da und zog in der Aufregung ihren Schal hin und her. Raiskij war aus seinem Staunen erwacht und trat schüchtern auf sie zu. Es war, als erkenne er sie nicht wieder, als sehe er in ihr nicht sein gutes, liebes Tantchen, sondern eine andere Frau, die er bisher nicht gekannt hatte.

»Wie konnten Sie von diesem Tölpel erwarten, daß er Ihre Größe erkennen und sich vor ihr beugen würde!« sagte er. »Nehmen Sie dafür meine Huldigung entgegen: nicht als Tante vom Neffen, sondern als Frau vom Manne! Ich spreche Tatjana Markowna, der Besten der Frauen, meine Bewunderung aus, und ich verneige mich vor ihrer Frauenwürde!«

Er küßte ihr die Hand.

»Ich nehme deine Anerkennung gern entgegen, Boris Pawlytsch, und betrachte sie als große Ehre. Nicht umsonst wird mir deine Anerkennung zuteil: ich habe sie verdient. Für dein tapferes Eintreten aber danke ich dir mit diesem Kuß, den ich dir nicht als deine Tante gebe, sondern als Frau.«

Sie küßte ihn auf die Wange. Und in demselben Augenblick fühlte er auch auf der andern Wange einen Kuß.

»Und das ist der Dank von einer andern Frau!« sprach leise Wera, die ihn gleichfalls geküßt hatte und nun rasch aus dem Zimmer flüchtete.

»Ach!« rief Raiskij leidenschaftlich, während er die Hand nach ihr ausstreckte.

»Wir haben uns nicht verabredet«, sagte Tatjana Markowna, »aber wir haben dich beide verstanden. Wir reden beide nur wenig miteinander, doch sind wir einander sehr ähnlich!« sagte Tatjana Markowna.

»Tantchen! Sie sind eine ganz ungewöhnliche Frau!« sagte Raiskij und betrachtete sie voll Entzücken, als sähe er sie zum erstenmal.

»Und du bist ein ganz abscheulicher Mensch, doch dabei ein prächtiger Junge!« versetzte sie und klopfte ihn auf die Schulter. »Nun mußt du gleich zum Gouverneur fahren und ihm alles ganz haarklein so erzählen, wie es sich zutrug, bevor dieser Halunke ihn noch angelogen hat. Ich fahre inzwischen zu Polina Karpowna, um ihr eine Entschuldigungsvisite zu machen.«


 << zurück weiter >>