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VIII

Diesmal klopfte er an ihre Tür.

»Wer ist da?« fragte sie.

»Ich bin es«, sagte er und steckte schüchtern den Kopf durch die Öffnung. »Darf ich eintreten?«

Sie saß mit einem Buch am Fenster, doch schien das Buch sie nur wenig zu fesseln; sie war zerstreut oder in Nachdenken versunken. Statt zu antworten, rückte sie Raiskij einen Stuhl hin.

»Es ist heute nicht so heiß, das Wetter ist angenehm«, sagte er.

»Ja, ich war an der Wolga – dort ist's sogar etwas kühl«, bemerkte sie. »Das Wetter scheint sich zu ändern.«

Sie schwiegen beide ein Weilchen.

»Was läuten sie denn heute so lange in der Heilandskirche?« fragte er – »ist morgen Feiertag?«

»Ich weiß es nicht; warum?«

»So ... ich wollte ein Schläfchen machen, aber das Geläut und die Fliegen haben mich gestört. Wieviel Fliegen es hier im Hause gibt! Wo kommen die nur alle her?«

»Es ist jetzt die Zeit des Beereneinkochens – da sind sie besonders geschäftig.«

»Ah, ganz recht! Beereneinkochen. Darum läuft auch Paschutka in einem fort hin und her und leckt sich die Lippen. Und die Mädchen in der Gesindestube, und auch Marfinka – alle haben einen schwarzen Mund. Du machst dir nicht viel aus Konfitüre?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Jegor hat gestern Ihren Koffer wieder auf den Boden getragen, ich sah es zufällig ...«, sagte sie nach einem Weilchen.

»Ja; warum?«

»Ich sage es nur so ...«

»Du möchtest wissen, ob ich abreise, und wann?«

»Das nicht ...«

»Leugne doch nicht, Wera! Ich würde es ganz natürlich finden, daß du danach fragst. Und ich antworte dir darauf, daß das ganz von dir abhängt.«

»Wieder einmal von mir!«

»Ja, nur von dir – das weißt du.«

Sie sah gleichgültig zum Fenster hinaus.

»Sie legen meinem Tun eine viel zu große Bedeutung bei«, sagte sie.

»Vielleicht – was wirst du also tun?«

»Soweit es sich um mich handelt – gar nichts; und soweit Sie in Betracht kommen, werde ich immer das tun, was Ihrem Glück, Ihrer Behaglichkeit, Ihrer Ruhe und frohen Stimmung am meisten dienen kann.«

»Halt, du bringst die Begriffe durcheinander, hier heißt es, nach Art und Verwandtschaft unterscheiden: Behaglichkeit und Ruhe stehen auf der einen, Glück und frohe Stimmung auf der andern Seite. Und nun entscheide!«

»Was Ihnen am meisten frommt, können Sie doch nur selbst entscheiden!«

»Ich habe die Beobachtung gemacht, daß du den Dingen gern ausweichst. Nie sprichst du einen Gedanken, einen Wunsch offen und gerade aus, sondern gehst erst im Kreise herum. Nein, Wera, ich kann hier nicht frei wählen. Entscheide du für mich, und was du mir zuteilst, will ich hinnehmen. Nimm keine Rücksicht auf mich, denk nur an dich und an das, was dir genehm ist.«

»Sie werden sich nach dem, was ich sage, doch nicht richten, darum schweige ich lieber.«

»Wie kommst du dazu, das zu behaupten?«

»Wie oft hat nun schon Jegorka den Koffer vom Boden geholt und wieder zurückgetragen?« fragte sie, statt ihm zu antworten.

»Du willst also im Ernst, daß ich abreise?«

Sie schwieg.

»Sag ja – und ich reise morgen ab!«

Sie sah ihn an und wandte dann ihren Blick zum Fenster.

»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte sie.

»Versuch's einmal, sprich das entscheidende Wort – vielleicht wirst du mir dann doch glauben.«

»Wohlan denn, so reisen Sie!« sagte sie plötzlich.

»Erlaube einmal ...«, entgegnete er, einen Seufzer unterdrückend, »es ist mir recht schwer, ja fast unmöglich, abzureisen; aber wenn es dir so unangenehm ist, daß ich hier bin ...« – ›Vielleicht sagt sie doch nein, es ist mir nicht unangenehm‹, dachte er und zögerte einen Augenblick –, »dann ...«

»Dann reisen Sie ab!« wiederholte sie, während sie sich von ihrem Platz erhob und zum Fenster ging.

»Gewiß, ich werde abreisen, du brauchst mich nicht fortzujagen«, sagte er mit gezwungenem Lächeln, »aber du kannst mir die Sache erleichtern, ja sogar meine Abreise beschleunigen.«

»Wie das?«

»Ich wiederhole dir, von dir allein hängt es ab.«

»Verlangen Sie irgendwelche Opfer? Ich bin sogar bereit, selbst Ihren Koffer vom Boden zu holen.«

Er antwortete nicht auf ihren Scherz.

»Nun, also was?«

»Sag mir erstens, ob du jemanden liebst!?«

Sie wandte sich lebhaft zu ihm um und sah ihn erstaunt an.

»Und sag mir dann zweitens, von wem der Brief auf dem blaßblauen Papier war – denn von der Popenfrau war er nicht!« fügte er eilig hinzu.

»Müssen Sie das wirklich wissen, um über Ihre Abreise entscheiden zu können?« fragte sie, ihn mit großen Augen ansehend.

»Ich will dir diese Frage beantworten, Wera – aber um das, was ich dir zu sagen habe, zu begreifen, darfst du nicht so erstaunt dreinschauen, sondern mußt mich geduldig anhören und dann mit vollem Verständnis entscheiden.«

»Ist die Sache so schwer zu begreifen?«

»Deiner Herzensgüte und Teilnahme bedarf es, und deiner Freundschaft, deren du mich einst würdigen wolltest, und die du mir aus irgendeinem Grunde wieder entzogen hast.«

»Ich zahle mit Freundschaft, wo man mir Freundschaft entgegenbringt, Vetter«, sagte sie ein wenig sanfter.

»Bringe ich dir vielleicht keine Freundschaft entgegen?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Was ist es denn sonst, was ich für dich empfinde. Du siehst doch, daß ich dir nicht fremd bin, ganz abgesehen von unserer Verwandtschaft.«

»Das ist nicht Freundschaft.«

»Nun, dann ist es vielleicht Liebe?«

»Ich bedarf Ihrer Liebe nicht – ich teile sie nicht.«

»Ich weiß das – und darum eben will ich dir erklären, weshalb nur du allein bewirken kannst, daß auch in mir dieses Gefühl aufhöre!«

»Ich glaube nichts getan zu haben, was ihm Nahrung geben könnte.«

»Im Gegenteil, du hättest dich nicht anders benehmen können, wenn du es darauf abgesehen hättest, mich zur Liebe zu entflammen. Du hast mich stolz von dir gewiesen und dadurch meine Eigenliebe gekränkt, dann hast du dich mit Geheimnissen umgeben und meine Neugier gereizt. Deine Schönheit, dein Geist, dein Charakter haben das übrige getan – und nun steht ein Mensch vor dir, der in dich wahnsinnig verliebt ist! Mit Freuden würde ich mich in den Abgrund der Leidenschaft stürzen und mich dem Strome überlassen. Ich habe mich nach ihr gesehnt, habe geträumt von der Leidenschaft und würde ihr den Rest meines Lebens opfern, du aber hast es ... nicht gewollt ... und du willst es auch jetzt nicht ... wie?«

Er blickte ihr von der Seite ins Gesicht.

»Nein – ich will nicht«, sagte sie ruhig und bestimmt.

»Nun, ich habe alles dagegen getan, was in meinen Kräften lag; ich habe ehrlich gekämpft, wie du selbst gesehen hast. Kein Mittel habe ich unversucht gelassen, um diese Liebe in Freundschaft umzuwandeln, doch wurde es mir immer klarer und klarer, daß eine Freundschaft mit einem jungen, schönen Weibe ein Unding ist, und nun sehe ich nur zwei Möglichkeiten, aus meiner Lage herauszukommen ...«

Er hielt einen Augenblick inne.

»Die eine dieser Möglichkeiten hast du mir abgeschnitten; es war die Hoffnung, doch noch auf deiner Seite Gegenliebe zu finden. Die Leidenschaft findet ihre Auslösung in gegenseitigem Nachgeben, in der Erfüllung des Glücks und verwandelt sich, je nach den Umständen, in was man will: in Freundschaft, in tiefe, heilige, unerschütterliche Liebe – an die ich freilich nicht glaube; doch in was sie sich auch immer umwandeln mag, jedenfalls hat sie Ruhe, Befriedigung im Gefolge. Du nimmst mir jede Hoffnung ... auf solch ein Glück, nicht wahr?«

Er näherte sich wiederum ihrem Gesicht und sah ihr forschend in die Augen. Sie nickte bestätigend mit dem Kopf.

»Ja, jede«, wiederholte sie.

»Nun ...«, sagte er, »um den Schmerz dieser Hoffnungslosigkeit zu beseitigen oder die Hoffnung für immer zu töten, ist unbedingt erforderlich, daß du ...«

»Was?«

»Daß du tust, was ich schon immer sagte – daß du bekennst: ›ja, ich liebe‹, und daß du mir sagst, von wem der blaßblaue Brief war. Dies wäre die zweite Möglichkeit, mich aus meiner unglücklichen Lage zu erlösen.«

»Und wenn ich weder das eine noch das andere tue?« fragte sie stolz, sich vom Fenster abwendend und ihn voll anblickend.

»Sprich nicht in diesem stolzen, geringschätzigen Ton!« versetzte er lebhaft, »das kann meine Leidenschaft nur reizen, während ich doch in der Hoffnung zu dir gekommen bin, bei dir freundschaftliche Teilnahme oder gar Hilfe zu finden, wenn du schon meine wahnsinnigen Träume nicht erfüllen kannst. Doch ich sehe, Wera, daß du böse bist von Gemüt.«

»Und Sie sind ein Egoist, Boris Pawlowitsch! In Ihrem Kopf ist irgendeine Phantasie aufgedämmert – und die soll ich nun teilen, soll Ihren Schmerz heilen und lindern – ja, was gehen Sie mich, was gehe ich Sie denn im Grunde genommen an? Ich verlange von Ihnen nur eins – Ruhe! Ich habe ein Recht darauf, ich bin frei wie der Wind in der Steppe, gehöre niemand, fürchte mich vor niemand.«

»Auch ich war noch vor zwei Wochen frei und stolz – und jetzt ist mein Stolz, ist meine Freiheit dahin, und ich habe Furcht ... vor dir!«

Sie sah ihn geringschätzig an und zuckte leicht die Achseln.

»Verschone mich mit diesen Blicken – ich möchte nicht wünschen, daß dir etwas Ähnliches begegnet!« sprach er leise, fast für sich.

»Ich fürchte mich nicht, es wird mir nichts begegnen!«

»Auch die Kinder fürchten sich nicht, wenn die Kinderfrau ihnen mit dem Wolf droht, und stammeln tapfer: ›Ich werde ihn totschlagen!‹ Deine Tapferkeit ist ganz die eines Kindes, und wie ein Kind wirst du hilflos sein, wenn deine Stunde kommt ...«

»Ich fürchte mich vor nichts«, wiederholte sie, »auch vor Ihrem Wolf, der Leidenschaft, nicht! Sie können mich nicht erschrecken; das ist alles nur anempfunden bei Ihnen, und ich habe nicht einmal Mitleid mit Ihnen!«

»Du bist böse! Und wenn ich krank würde, in ein Fieber verfiele? Tantchen und Marfinka würden mich dann besuchen, würden mich pflegen, mir Linderung verschaffen. Würdest du auch da gleichgültig bleiben, dich nicht um mich kümmern, nicht nach mir erkundigen?«

»Wenn Sie krank würden? Das wäre etwas anderes.«

»Bin ich denn jetzt gesund? Bin ich nicht krank, bist du nicht die Ursache meiner Krankheit?«

»Trifft mich vielleicht eine Schuld?«

»Du würdest auch nicht schuld sein, wenn ich mich bei einer Bootfahrt auf der Wolga erkältete und mich krank ins Bett legen müßte!«

»Dafür gibt es Mittel, Arzneien.«

»Auch für mein Leiden gibt es ein Mittel, das sicher wirken würde, und ich habe es dir genannt. Ich scherze nicht; nur die volle Hoffnungslosigkeit vermag die Leidenschaft im Keime zu ersticken.«

»Habe ich Ihnen denn nicht schon jede Hoffnung genommen? Ich würde Sie niemals lieben, ich sagte es Ihnen bereits!«

»Mag sein – aber leider kann ich deinen Worten nicht glauben, oder wenn ich ihnen schon glaube, so ist's doch nur für einen Tag, und dann beginnen schon wieder neue Hoffnungen zu keimen. Die Leidenschaft stirbt erst, wenn auch der Grund gestorben ist, der sie hervorruft, wenn sie nicht mehr gereizt wird.«

»Sterben soll ich? Nein, Vetter, dieses Opfer kann ich Ihnen doch nicht bringen.«

»Das sollst du auch nicht! Sag nur, ob du einen andern liebst, und von wem jener Brief war. Das ist für mich so viel, als wärest du gestorben.«

Er sprach in einem Ton, aus dem Ernst und Wärme deutlich hervorklangen. Sie versank in Nachdenken und wandte sich, offenbar in innerem Kampf, dem Fenster zu, um gleich darauf ihr Gesicht ihm zuzukehren.

»Wohlan ...« sagte sie, ihre Stimme dämpfend und ein wenig zögernd, »ich ... liebe ... einen andern ...«

»Wen?« stieß er jäh hervor und sprang vom Stuhl auf.

»Warum sind Sie so erschrocken? Sie wollten es doch um jeden Preis wissen – beruhigen Sie sich also und reisen Sie ab, denn Sie wissen es jetzt.«

»Wen?« wiederholte er, ohne auf sie zu hören.

»Was tut der Name zur Sache?«

»Der Name, der Name! Wer hat den Brief geschrieben?« rief er mit zitternder Stimme.

»Niemand. Ich habe mir das nur ausgedacht, ich liebe niemanden, der Brief war von meiner Freundin«, sagte sie und schaute ihn, der seine glühenden Augen voll Erregung auf sie geheftet hielt, gleichmütig an. Der dunkle Samtschleier schwand nach und nach von ihren Augen, sie wurden heller und erschienen schließlich ganz durchsichtig. Alles Denken war gleichsam aus ihnen geschwunden, nichts von dem, was in ihrer Seele vorging, war in ihnen zu lesen.

»Sprich um Gottes willen, laß mich nicht in diesen Abgrund versinken. Die Wahrheit, die reine Wahrheit, und ich kann mich retten; die geringste Lüge, und ich gehe auf den Grund!«

»Sagen Sie, Vetter, spielen Sie nicht vielleicht mit mir irgendein abgefeimtes Spiel?«

»Bei Gott, ich weiß es nicht; aber wenn das ein Spiel ist, so ist es jenem gleich, das der Mensch spielt, wenn er den letzten Groschen auf eine Karte setzt, während er mit der andern Hand nach der Pistole in seiner Tasche greift. Oh, ende diese Folter, sag mir die Wahrheit – und die Leidenschaft verlöscht, ich werde ruhig, werde selbst mit dir zusammen über mich lachen, werde morgen abreisen. Ich kam zu dir, um dir das zu sagen.«

»Sie sind nicht nur ein Egoist, sondern auch ein Despot, Vetter. Kaum habe ich den Mund geöffnet und gesagt, daß ich einen andern liebe – nur, um Sie auf die Probe zu stellen –, so sind Sie gleich ganz aus dem Häuschen, ziehen finster die Brauen zusammen, unterwerfen mich einem peinlichen Verhör ... und dabei sind Sie doch ein Mensch von Bildung, ein homme blasé ein Mann, der alles kennengelernt hat – ein übersättigter Mann, ein großes Herz, ein Ritter der Freiheit – ach, schämen Sie sich! Ich sehe nun, daß Sie auch zur Freundschaft nicht taugen. Nun, und wenn ich wirklich lieben sollte«, fügte sie mit leiser, doch fester Stimme hinzu und schloß das Fenster – »was dann?«

»Nichts!« sagte er in ruhigem Ton.

Sie sah ihn erstaunt an. Es schien ihm wirklich Ernst zu sein mit diesem »Nichts«.

»Du siehst, wie das Vertrauen wirkt«, fuhr er fort, »ich bin vollkommen ruhig, alles schweigt in mir, die Hoffnungen sterben ab wie die Fliegen.«

»Nun also, angenommen, ich ... liebe«, begann sie noch leiser.

»Nimm dein ›Angenommen‹ zurück, es läßt einen Zweifel zu, und der Zweifel weckt wieder die Hoffnung.«

»Nun, gut also, ich liebe ...«

»Wen?« fragte er laut flüsternd.

»Sie fragen wieder nach dem Namen!«

»Ja, ich muß den Namen wissen – nur dann werde ich mich beruhigen und abreisen. Sonst glaube ich es nicht, und werde es so lange nicht glauben, als du den Namen geheimhältst.«

»Marfinka erzählte mir doch aber, Sie hätten ihr die Freiheit der Liebe gepredigt, hätten ihr geraten, nicht auf Tantchen zu hören – und nun sind Sie selbst schlimmer als Tantchen! Sie verlangen, fremde Geheimnisse zu wissen.«

»Ich verlange nichts, Wera – ich bitte nur, daß du mich in Ruhe abreisen lassen möchtest, das ist alles! Fluch über den, der dich in deiner Freiheit beschränken will.«

»Sie verfluchen nur sich selbst. Warum wollen Sie den Namen wissen? Wenn Tantchen sich in dieser Beziehung unruhig zeigte, würde ich's begreifen. Sie könnte eben fürchten, daß ich mein Herz an jemanden verschenke, der ihr unwürdig scheint. Aber Sie, der Sie die Freiheit predigen!«

»Würde ich dir denn verbieten wollen, zu lieben, wen du willst? Und wenn deine Wahl selbst auf Nil Andrejitsch fiele – mir wäre alles gleich! Ich muß den Namen wissen, um davon überzeugt zu sein, daß es wahr ist, um ganz erkalten zu können. Ich weiß, daß mich dann sofort die Langeweile erfaßt, und daß ich bestimmt abreise.«

Sie verfiel in tiefes Nachsinnen.

»Ist die Leidenschaft eine Rechtfertigung für jede Wahl, auf wen sie auch fallen mag?«

»Ja, Wera, für jede. Ich wiederhole dir, was ich auch schon zu Marfinka sagte, liebe, wen du willst, ohne jemanden zu fragen, ob der, den du liebst, auch würdig ist – geh kühn deinen Weg.«

»Und neulich im Garten warnten Sie mich doch selbst vor der Gefahr ...«

»Ich warnte dich vor Räubern und Hunden, aber nicht vor der Leidenschaft!«

»Und ich kann lieben, wen ich will?« fragte sie in leicht scherzendem Ton, »ohne jemand zu fragen?«

»Weder Tantchen noch die öffentliche Meinung.«

»Noch Sie?«

»Mich noch weniger als jeden andern. Ich bin im Gegenteil bereit, dir zu helfen, deine Leidenschaft anzufachen. Du zweifelst an meiner Großmut – da hast du sie! Wähle mich zu deinem Vertrauten! Ich werde dich selbst tiefer in diese Glut hineinstoßen.«

Sie blickte ihn verstohlen an.

»Nun sag mir den Namen des Glücklichen, Wera.«

»Ja, ja ... später einmal, wenn ...«

»Wenn ich abreise? Ach, wenn mir doch solch ein Glück zuteil würde!« sagte er, während er Wera mit glühenden Blicken ansah und ihre Hand ergriff. Ein Rausch umnebelte wieder, wie bei einem Betrunkenen, sein Hirn. »Die Leidenschaft! Höre, Wera – es gibt noch einen Ausweg aus meiner Lage«, fuhr er in heißer Erregung fort. »Ich wollte ihn dir nicht nennen, du bist so streng. Gib mir trotz allem die Leidenschaft! Du vermagst es! Vergiß deine Liebe. Wenn sie noch nicht alt, wenn sie noch im Werden ist, und ... und ... Nein, nein, schüttle nicht den Kopf – das ist ja Unsinn, ich weiß es. Nun also, ganz einfach; jag mich nicht fort, laß mich zuweilen mit dir zusammen sein, dich hören, in Entzücken schwelgen und Folterqualen dulden! Nur um jeden Preis leben und nicht schlafen, nicht so einem Holzklotz gleichen, wie ich jetzt! Überall Schlaf und stumpfe Langeweile und trübe Schwermut, nirgends ein Ziel, auch in der Kunst nicht, in der ich's zu nichts bringe, für die ich nichts tue. Alles, was man sonst, als ernsthaftes Lebenswerk betrachtet, erscheint mir so kleinlich, so erbärmlich. Ich möchte den Rest meines Lebens irgendeinem ernsthaften Werk, einem großen, würdigen Ziel widmen, doch ich bin nicht fähig dazu, nicht darauf vorbereitet. Es gibt bei uns kein solches Werk, keine solche Arbeit! Oder ich möchte, daß dieser mein Lebensrest in einem gewaltigen Feuerwerk, in einer großen Leidenschaft aufflammt! Du hast das Zeug dazu, solch einen Sturm in mir zu entfachen, ja du hast ihn schon entfacht. Noch ein Funke, noch ein wenig Koketterie und Täuschung ... und ich beginne zu leben.«

»Und was soll ich dabei gewinnen?« sagte sie. »Soll ich mich an dieser Fieberglut weiden, ohne sie zu teilen? Sie phantasieren, Boris Pawlowitsch!«

»Was geht dich das an, Wera? Ich verlange keine Erwiderung – aber stoß mich auch nicht von dir, laß mich gewähren! Ich fühle es, daß nicht nur bei deinem Anblick, sondern wenn auch nur zufällig jemand deinen Namen nennt, es mich heiß und kalt überläuft.«

»Wie soll das aber enden?« fragte sie nicht ohne Neugier.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht verliere ich den Verstand, stürze mich in die Wolga oder sterbe. Doch nein, ich bin zäh – nichts wird geschehen, ein halbes Jahr, vielleicht ein Jahr wird vergehen und ich werde leben wie früher. Gib mir die Leidenschaft, Wera, gib mir dieses Glück!«

Lippen und Zunge waren ihm sogar trocken geworden.

»Eine sonderbare Bitte, Vetter, jemand zum Fieber zu verhelfen! Ich glaube nicht an die Leidenschaft – was ist denn die Leidenschaft? Das Glück, sagt man, beruht auf einer tiefen, starken Liebe.«

»Lüge, Lüge!« unterbrach er sie.

»Die Liebe – eine Lüge?«

»Ja, diese heilige, tiefe, hehre Liebe – sie ist eine Lüge! Sie ist ein erdichtetes, ausgeklügeltes Gespenst, das über dem Grabe der Leidenschaft spukt. Die Menschen haben es ersonnen wie sie die Justizpaläste, das Branntweinmonopol, die Moden, das Kartenspiel, die Bälle ersonnen haben. Die hehre, heilige Liebe ist die Uniform, in die sie die Leidenschaft hineinstecken wollen, doch sie will immer wieder heraus und zerreißt die Uniform. Die Natur hat in die lebendigen Organismen nur die Leidenschaft hineingelegt, nichts weiter. Die Liebe ist nur in der einen, durch die Leidenschaft bestimmten Form vorhanden, es gibt keine andere Art von Liebe. Nimm das erbärmlichste, schläfrigste Wesen, irgendeine Krämersfrau aus der Vorstadt, irgendeinen noch so ehrbaren und loyal gesinnten Kanzleibeamten, kurz, wen du willst. Sie alle haben unbedingt einmal im Leben, oder je nach dem Temperament noch öfter, bald auf feine, bald auf ganz grobe, tierische Art, ihrer Erziehung entsprechend, diese Aufregungen der Leidenschaft kennengelernt, diesen Krampf, diese Pein und Qual, dieses Selbstvergessen, dieses zweite Leben mitten im Leben, dieses trunkene Spiel der Kräfte ... diese Seligkeit!«

Er hielt in seiner Rede inne.

»Nun?« sagte sie ungeduldig.

»Nun –« fuhr er ungestüm, die Worte rasch überhastend, fort, »auf die erkaltete Spur dieser Feuersäule, dieses Blitzes, der das Leben durchzuckt, legt sich dann der Friede, das Lächeln des Ausruhens nach dem süßen Sturm, die verklärte Erinnerung an die Vergangenheit, die Stille. Und diese Stille, diese Feuerspur bezeichnen die Menschen als die hehre, erhabene Liebe – nachdem die Leidenschaft verglüht und erloschen ist. Siehst du, Wera, so herrlich und schön ist die Leidenschaft, daß schon ihre Spur allein dem ganzen Leben ein helles Siegel aufdrückt; die Menschen sind nur zu feig, sich zur Wahrheit zu bekennen, zu gestehen, daß das, was in Wahrheit die Liebe ist, längst verging, daß sie, vom Rausche umfangen, nicht sahen und hörten, was um sie herum vorging, daß aber dieser Rausch genügte, um ihrem ganzen Leben etwas von jenem farbigen Glanz zu geben, in dem die Leidenschaft loderte. Und dieser farbige Abglanz ist die ewige Liebe, die Freundschaft, das feste Band, das zuweilen die Menschen für das ganze Leben aneinander fesselt. Nein, nichts auf der Welt vermag solche Seligkeiten zu geben, kein Ruhm, keine Befriedigung der Eitelkeit, kein Märchenreichtum der Scheherezade, nicht einmal die Kraft des schaffenden Genies, nichts ... als nur einzig die Leidenschaft! Möchtest du wohl eine solche Leidenschaft kennenlernen, Wera?«

Sie hörte nachdenklich zu.

»Ja, wenn sie so ist, wie Sie sie schildern, wenn sie so viel Glück zu bieten vermag.«

Sie fuhr zusammen und öffnete das Fenster.

»Die Leidenschaft ist wie ein beständiger Rausch, ohne das grobe Gefühl dumpfer Trunkenheit«, fuhr er fort, »sie ist wie ein ewiges Wandeln auf Blumenpfaden. Vor dir schwebt stets dein Idol, das du beständig anbeten, für das du sterben möchtest. Steine fliegen dir an den Kopf, und du glaubst in deiner Leidenschaft, es seien Rosen, Zähneknirschen erscheint dir wie Musik, Schläge von der geliebten Hand kommen dir köstlicher vor als die Liebkosungen einer Mutter. Die Sorgen, das Gezänk des Lebens, alles verschwindet – ein einziger endloser Jubel erfüllt dich – ein Glück nur gibt es, nur immer zu schauen ... auf dich ...« – er trat ganz dicht an sie heran – »deine Hand zu ergreifen« – er faßte ihre Hand – »das Feuer, die Kraft deiner Seele, das Beben in deinem Organismus zu fühlen.«

Wiederum erbebte sie und er desgleichen.

»Ich bin nicht mehr fern von diesem Zustande, Wera; noch ein einziger holder Blick, ein Druck deiner Hand – und ich lebe, ich bin selig. Sag, was soll ich tun?«

Sie schwieg.

»Wera!«

Sie erwachte allmählich aus dem stillen Brüten, in dem sie ihm gelauscht hatte, wandte sich zu ihm herum, nahm freundlich, fast zärtlich seine Hand und sprach in bittendem Ton mit ihrer tiefen, weichen Stimme:

»Reisen Sie fort von hier!«

Er erhob sich wie einer, der tief verwundet worden.

»Du bist herzlos, Wera. Wohlan denn – so sag mir den Namen!«

»Den Namen? Was für einen Namen?« fragte sie erstaunt, wie vollends zum Bewußtsein erwachend.

»Und von wem der Brief auf dem blaßblauen Papier war ...«, fügte er hinzu.

Sie musterte ihn spöttisch vom Kopf bis zu den Füßen.

»Ich liebe niemanden«, sagte sie laut, »ich habe mir das nur ausgedacht, aus Langeweile ...«

»Und der Brief?«

»... ist von der Frau des Popen!« ergänzte sie den Satz ironisch.

»Hast du mir sonst nichts zu sagen?«

»Ich werde stets nur dasselbe sagen.«

»Was?«

»Reisen Sie ab!«

»Dann bleibe ich!« sagte er kalt.

Sie sah ihn eine ganze Weile an.

»Wie Sie wollen; Sie sind in Ihrem Hause!« antwortete sie und neigte mit spöttischer Höflichkeit den Kopf. »Entschuldigen Sie mich nun ... verzeihen Sie ... ich muß morgen ganz früh aufstehen«, fügte sie freundlich, fast lächelnd, hinzu.

›Sie wirft mich hinaus!‹ dachte er mit einem Gefühl der Bitterkeit und wußte nicht, was er sagen sollte, als plötzlich draußen auf dem Korridor jemand auf die Türklinke drückte.


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