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XXII

Den ganzen Tag saßen alle wie die nassen Hühner zusammen, trennten sich am Abend zeitiger als sonst und gingen zu Bett. Um zehn Uhr abends war alles still geworden. Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Raiskij zog seinen Paletot an und ging hinaus, um einen kleinen Rundgang um das Haus zu machen. Das Hoftor war verschlossen, auf der Straße lag der Schmutz so hoch, daß nicht durchzukommen war, und so begab er sich in den Garten.

Es war still, die Bäume und Sträucher rauschten nur ganz leise, und es tropfte von ihnen. Raiskij durchschritt mehrmals den Garten und stieg dann über den Zaun des Küchengartens, um einen Blick aufs Feld und über die Wolga zu werfen.

Es war völlig dunkel. Am Horizont hatten sich die abziehenden Wolken zusammengeballt, und nur ganz hoch über seinem Kopf flimmerten da und dort schwach die Sterne. Er lauschte in diese Stille hinein und schaute in das Dunkel, ohne etwas zu hören oder zu sehen.

Zur Rechten wogte der Nebel, links lag, wie ein schwarzer Fleck, das Dorf, und weiterhin dehnten sich als gleichförmige Masse die Felder. Er atmete zweimal ganz tief die feuchte Luft ein und nieste.

Plötzlich hörte er, wie in dem alten Hause ein Fenster sich öffnete. Er blickte hinauf, doch es war keins der nach dem Garten gehenden Fenster, das geöffnet wurde, sondern eins, das auf das Feld hinausging. Er eilte nach der Akazienlaube, sprang dort über den Zaun und trat in eine Pfütze, in der er, ohne sich zu rühren, stehenblieb.

»Sind Sie es?« fragte eine flüsternde Stimme aus einem Fenster des unteren Stockwerkes. Es konnte nur Wera sein, da außer ihr niemand in dem alten Hause wohnte.

Raiskij fühlte, wie seine Knie bebten – in kaum vernehmbarem Flüsterton antwortete er: »Ja.«

»Ich konnte heute nicht kommen – es regnete den ganzen Tag; kommen Sie morgen früh um zehn Uhr nach derselben Stelle. Gehen Sie rasch fort, es kommt jemand!«

Das Fenster wurde leise geschlossen. Raiskij stand immer noch unbeweglich.

›Nach derselben Stelle‹, wiederholte er im stillen, und es war ihm, als krampfe sein Herz sich zusammen. ›Wer ist er? Und wohin soll er kommen?‹ ging's ihm durch den Kopf, und er schalt im stillen den Herannahenden, dessen Schritte Wera verscheucht hatten. ›Mein Gott – also ist's doch wahr: sie hat ihr Geheimnis!‹ Und er hatte noch immer nicht daran glauben wollen! ›Der Brief auf dem blaßblauen Papier – er ist kein Traum! Sie gibt ihm ein Stelldichein! Da ist sie, die geheimnisvolle Nacht! Und mir predigt sie Moral!‹

Er ging den Schritten entgegen.

»Wer ist da?« rief ganz laut eine Stimme, während der Herannahende gleichzeitig mit aller Kraft gegen ein Brett schlug.

»Scher dich zum Teufel!« sagte Raiskij ärgerlich und stieß Sawelij – denn dieser war es, der auf ihn zugeschritten kam – heftig zur Seite. »Seit wann bewachst du denn das Haus?«

»Die Gnädige hat's befohlen«, antwortete Sawelij. »Es gibt hier am Ort allerhand Spitzbubenvolk, entflohene Sträflinge, auch die Flößer vom Strom treiben ihren Schabernack.«

»Lüge doch nicht!« versetzte Raiskij unwillig, »du lauerst nur wieder deiner Marina auf, das ist ...« – unrecht von dir – hatte er sagen wollen, doch sprach er den Satz nicht zu Ende, machte kehrt und ging fort.

»Darf ich wohl ein Wort über Marina sagen?« sprach Sawelij hinter ihm her.

»Nun?«

»Könnte sie nicht auf die Polizei gebracht werden?«

»Du bist wohl nicht recht gescheit?« sagte Raiskij und ging weiter. Doch Sawelij ließ nicht von ihm ab.

»Tun Sie mir doch um Gottes willen die Gnade an – schicken Sie sie wenigstens nach Sibirien!« sagte er.

Raiskij war ganz in das neue Problem vertieft, vor das Weras Gespräch aus dem Fenster ihn gestellt hatte, und ging weiter.

»Oder vielleicht könnte sie ins Arbeitshaus kommen – auf Lebenszeit«, bat Sawelij, immer hinter ihm hergehend.

»Wofür denn nur?« fragte plötzlich Raiskij und blieb stehen.

»Na, sie hat doch wieder ... mit einem Briefträger angebändelt. Lassen Sie sie wenigstens auspeitschen.«

» Dich werde ich auspeitschen lassen«, sagte Raiskij, »damit du sie nicht wieder schlägst.«

»Wie Sie wollen!«

»Und damit du nicht ewig hinter ihr herspionierst. Das ist ... gemein«, murmelte er durch die Zähne und blickte nach Weras Fenster.

Er entfernte sich, während Sawelij wie toll auf das Brett losschlug.

Raiskij schlief fast die ganze Nacht nicht und erschien am nächsten Morgen mit geröteten, heißen Augen im Kabinett der Tante. Der Tag war hell und klar. Alle waren zum Tee erschienen. Wera begrüßte ihn munter. Er drückte ihr fieberhaft die Hand und sah ihr forschend in die Augen. Sie war ganz ruhig und heiter, als ob gar nichts wäre.

»Wie kokett du heute angezogen bist!« sagte er.

»Sie finden diese einfache helle Bluse kokett?«

»Und die hochrote Haarschleife, und die Frisur mit der langen, achtlos über die Schulter geworfenen Haarsträhne, und der Gürtel mit der schönen Schleife, die Stiefeletten mit der roten Seidenstepperei! Du hast einen ganz erlesenen Geschmack, Wera, ich bin entzückt.«

»Freut mich, daß ich Ihnen gefalle; aber Sie äußern Ihr Entzücken auf so sonderbare Weise. Sagen Sie doch, warum?«

»Ich will es dir sagen – wollen wir einen Spaziergang machen?«

»Wann?«

»Um zehn Uhr.«

Sie warf ihm einen raschen, forschenden Blick zu. Er bemerkte diesen Blick.

›Es war verkehrt, daß ich das so bestimmt sagte – um zehn Uhr‹, dachte er, ›ich hätte sagen sollen: so gegen zehn Uhr. Sie hat alles erraten.‹

»Gut, gehen wir!« willigte sie ein, nachdem sie ein Weilchen überlegt hatte. »Es ist jetzt noch zu früh, noch nicht zehn Uhr.«

Sie setzte sich schweigend und seinen Blicken ausweichend in eine Ecke und antwortete nicht auf seine Fragen. Kurz vor zehn Uhr nahm sie ihr Arbeitskörbchen und ihren Sonnenschirm und machte ihm ein Zeichen, er solle ihr folgen.

Sie gingen wortlos durch die Allee, die vom Hause wegführte, lenkten dann in eine zweite Allee ein, durchschritten den Park und machten endlich am Rande der Schlucht halt. Dort war eine Bank, auf die sie sich setzten.

»Wera!« begann er, seine Erregung kaum bemeisternd, »es scheint, daß mir der Zufall einen Teil deines Geheimnisses enthüllt hat.«

»Ja, es scheint in der Tat so«, sagte sie kühl. »Sie haben gestern meine Worte gehört.«

»Ganz zufällig, ich gebe dir mein Ehrenwort.«

»Ich glaube es Ihnen«, unterbrach sie ihn und warf ihm einen flüchtigen Blick zu. »Nun, was weiter?«

»Nichts ... Ich weiß jetzt: du liebst einen andern. Meine Zweifel sind geschwunden. Aber wer ist's?«

»Ich sage es nicht, fragen Sie nicht!« sagte sie trocken. Sie seufzte.

»Ich weiß selbst, daß meine Frage töricht ist – und doch möchte ich es wissen. Ach, Wera, Wera, wer könnte dir wohl mehr Glück geben als ich? Warum glaubst du ihm und nicht mir? Du hast so kalt, so streng über mich geurteilt, und wer sagt dir, daß der, den du liebst, dir ein dauerhaftes Glück geben, dich für länger als ein halbes Jahr glücklich machen wird? Warum glaubst du ihm?«

»Weil ich ihn liebe.«

»Du liebst ihn!« sagte er in schmerzlichem Ton. »Mein Gott, dieser Glückliche! Und womit wird er dir dieses große Glück vergelten, das du ihm schenkst? Du liebst, meine Freundin, sei auf der Hut und prüfe, ob du ihm auch wirklich vertrauen kannst.«

»Vorläufig vertraue ich noch mir selbst.«

»Wer ist es, den du liebst?«

»Wer ist es?« sagte sie und sah ihn mit ihrem farblosen, rätselhaften Nixenblick durchdringend an. »Nun – Sie sind es!«

Der Atem stockte ihm.

In diesem Augenblick fiel unten im Wäldchen ein Schuß.

Sie stand rasch von der Bank auf.

»Was ist das – ist ... er es?« fragte Raiskij mit verzerrtem Gesicht.

»Ich muß gehen – es ist zehn Uhr«, sagte sie, von sichtlicher Unruhe ergriffen, während sie Raiskijs Blick zu vermeiden suchte.

Sie ging weiter dem Abhang zu, und er machte Miene, ihr zu folgen. Sie bedeutete ihm durch eine Handbewegung, daß er zurückbleiben solle.

»Was hat dieser Schuß zu bedeuten?« fragte er mit dem Ausdruck des Schreckens.

»Er ruft mich.«

»Wer?«

»Der Schreiber des blauen Briefes. Bleiben Sie – nicht einen Schritt weiter!« sagte sie, nachdrucksvoll flüsternd, »wenn Sie nicht wollen, daß ich ...«

»Wera!«

»Nicht einen Schritt – niemals!« wiederholte sie, den Abhang hinuntersteigend, »oder ich verlasse dieses Haus für immer!«

Sie entschwand im Gebüsch.

»Wera, Wera! Sei auf der Hut!« rief er verzweifelt hinter ihr her und lauschte in das Dickicht hinein.

Er hörte nur, wie zwei- oder dreimal das trockene Geäst unter ihrem raschen Schritt knackte, dann wurde es still.

»Mein Gott!« rief er voll Neid und Verzweiflung, »wer ist er, wer ist dieser Glückliche? ›Ich liebe Sie!‹ sagte sie. Mich! Wie, wenn es doch der Fall wäre? Aber der Schuß?« flüsterte er entsetzt. »Und der Schreiber des blaßblauen Briefes?! Was für ein Geheimnis! Wer ist er?«


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