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XV

Nicht nur Raiskij, sondern auch die Großtante gab ihre passive Haltung auf, und beide beobachteten nun insgeheim das Verhalten Weras. Tatjana Markowna nahm die Sache sehr ernst, sie vernachlässigte darüber sogar die Wirtschaft, ließ die Schlüssel auf den Tischen herumliegen, kümmerte sich nicht mehr um Sawelijs eheliche Angelegenheiten, revidierte die Rechnungen nicht und fuhr gar nicht mehr aufs Feld hinaus. Die kleine Paschutka stand nach wie vor auf ihrem Posten in der Ecke und verwandte keinen Blick von der Gnädigen, und wenn Wassilissa fragte, was diese mache, antwortete die Kleine: »Sie flüstert nur immer so vor sich hin.«

Die Großtante ließ traurig den Kopf hängen und sann vergeblich auf Mittel, die Wera zu einer offenen Aussprache bringen könnten. Sie verzweifelte schließlich an dieser Möglichkeit und zerbrach sich den Kopf darüber, ob sie nicht vielleicht auf Umwegen dahinterkommen könnte, was eigentlich vorliege, damit sie rechtzeitig ein drohendes Unglück abzuwehren vermöchte.

»Sie ist verliebt, ist in Ekstase!« Das schien ihr schrecklicher als die Pocken, die Masern, das Wechselfieber oder sonst eine schlimme Krankheit. In wen konnte sie sich denn verliebt haben? Wenn es Iwan Iwanowitsch wäre – ja, dann würde sie Gott danken. Würde Wera den heiraten, dann könnte sie ruhig die Augen schließen.

Aber die Großtante hatte mit dem feinen Instinkt des Weibes erraten, welche Beziehungen zwischen Wera und Tuschin bestanden. Mit einem Seufzer hatte sie sich gesagt, daß höchstens auf seiner Seite von einer tieferen Neigung die Rede sein konnte, während Wera für ihn nur Gefühle der Freundschaft oder des Dankes hatte – dafür, daß er sie so verwöhnte, wie Tatjana Markowna es im stillen bezeichnete.

»Er vergöttert sie«, sagte sie, »und das gefällt einem jungen Mädchen immer.«

Wer konnte es nur sein, wer? Unter den Gutsbesitzern der Umgegend kam außer Tuschin keiner in Betracht – sie sah keinen, sprach mit keinem. Mit den jungen Leuten aus der Stadt kam sie höchstens ein paarmal im Winter zusammen, bei den Bällen, die der Steuerpächter oder der Vizegouverneur gaben; ins Haus, nach Malinowka, kamen sie nur selten. Die Offiziere und die Herren vom Gericht hatten längst die Hoffnung aufgegeben, auf Wera Eindruck zu machen – sie kam mit ihnen fast gar nicht in Berührung.

›Sie hat sich doch nicht etwa in den Geistlichen verliebt? O Gott, das wäre schrecklich!‹ sagte sich die Großtante. So war sie beständig von Zweifeln beunruhigt, beobachtete Wera aufmerksam, wenn sie zum Mittagessen oder zum Tee kam, und suchte ihr auch im Park auf den Fersen zu bleiben. Doch Wera erspähte sie jedesmal von weitem, beschleunigte ihren Schritt und war verschwunden, ehe Tatjana Markowna sie erreicht hatte.

»Ehe ich mich's versah, war sie fort, wie ein Geist!« erzählte sie Raiskij. »Ich wollte sie einholen, aber die alten Beine kamen nicht mehr mit. Wie ein Vogel huschte sie in die Büsche und war spurlos verschwunden.«

Raiskij ging nach diesem Gespräch in den Park, stieg den Abhang hinunter, durchquerte die Schlucht und kletterte auf der anderen Seite hinan, um ins Dorf zu gelangen. Er begegnete Jakow und fragte ihn, ob er nicht das gnädige Fräulein gesehen habe.

»Gewiß doch, den Augenblick sah ich sie, dort, bei der Kapelle«, sagte Jakow.

»Was macht sie denn dort?«

»Wird wohl zum Herrgott beten.«

Raiskij begab sich nach der Kapelle.

»Sie betet also auch schon!« sprach er nachdenklich vor sich hin.

Zwischen dem Wald und dem steilen Fahrweg stand abseits auf einer Wiese eine einsame Kapelle, von Holz errichtet, ganz schwarz und halb zerfallen, mit einem Bilde des Heilands in byzantinischem Stil, in einem Bronzerahmen. Auch das Bild war vom Alter geschwärzt, da und dort waren die Farben abgefallen, und die Gesichtszüge Christi waren kaum noch zu unterscheiden – nur die Augen sahen zwischen den halbgeöffneten Lidern nachdenklich auf den Betenden, und auch die segnenden Hände waren noch zu sehen.

Raiskij schritt durch das Gras zur Kapelle. Wera hörte ihn nicht kommen. Sie stand mit dem Rücken ihm zugewandt und war ganz in den Anblick des Heiligenbildes vertieft. Ihr Schirm und ihr Strohhut lagen neben der Kapelle im Gras. Sie bekreuzigte sich nicht, und ihre Lippen murmelten kein Gebet, doch in ihrer ganzen Gestalt, ihrer in sich gekehrten Haltung, dem verhaltenen Atem und dem regungslosen, starr auf das Bild gerichteten Blick sprach sich eine innige, aufrichtige Andacht aus.

Raiskij hielt unwillkürlich den Atem an.

›Was mag sie nur erflehen?‹ dachte er bang. ›Bittet sie um Freude, um Stillung ihrer Sehnsucht? Will sie hier, am Fuße des Kreuzes, sich ein Leid von der Seele wälzen? Oder will sie nur so, in einem plötzlichen Gefühlsausbruch, ihr Inneres vor dem Alltröster sich läutern lassen? Welches Gefühl ist's, das sie bewegt? Will die Betende ihre Seele, ihre Kraft vor dem Kampfe ermessen, oder dankt sie weinend für einen Augenblick des Glücks?‹

Wera erwachte gleichsam plötzlich aus ihrem Gebet. Sie wandte sich um und erschrak, als sie Raiskij erblickte.

»Was tun Sie hier?« fragte sie streng.

»Nichts. Ich traf Jakow, der sagte mir, daß du hier seiest, und so kam ich her. Tantchen ...«

»Da Sie gerade von Tantchen sprechen ...« unterbrach sie ihn, »ich merke, daß sie mich seit einiger Zeit beobachtet; wissen Sie nicht vielleicht, warum sie das tut?«

Sie sah ihn forschend an, und er errötete. Er suchte, während er neben ihr über die Wiese dem Walde zu ging, nach einer Antwort.

»Ich meine doch, daß sie immer ...« begann er.

»Nein, nicht immer ... Sie wäre nie darauf verfallen, mir nachzuspüren. Hören Sie einmal, mein Sklave«, fuhr sie mit leichtem Spott fort, »sagen Sie mir ohne alle Umschweife: haben Sie ihr vielleicht etwas von Ihren Vermutungen betreffs des blaßblauen Briefes, der Liebe und so weiter gesagt?«

»Von dem Brief habe ich, soviel ich weiß, nichts gesagt.«

»Also nur von der Liebe. Nun, und was haben Sie ihr darüber gesagt?«

Er schwieg und sah von ihr weg zum Wald hinüber.

»Ich muß das unbedingt wissen«, sagte sie bestimmt. »Reden Sie also! Sie wollten doch selbst meine Launen erfüllen, und das ist wirklich keine bloße Laune! Sie haben es ihr gesagt, nicht wahr? Sie werden doch sicher nicht ›nein‹ sagen, wenn es der Fall ist!«

»Wozu die vielen Worte? Wenn du darauf bestehst, sage ich dir natürlich alles. Ja, es wurde von dir gesprochen. Tantchen machte sich darüber Gedanken, daß du früher so in dich gekehrt und nachdenklich warst und nun mit einem Male so froh gestimmt scheinst.«

»Nun – und?«

»Nun, und da sagte ich nur, ist sie nicht am Ende verliebt? Das war bereits vor einiger Zeit.«

»Und was sagte Tantchen darauf?«

»Sie erschrak.«

»Wovor denn?«

»Zumeist wohl vor dem Ausdruck ›Ekstase‹ ...«

»Haben Sie denn von Ekstase gesprochen?«

»Sie hatte selbst bemerkt, daß du so froh gestimmt warst, und sie war sogar erfreut darüber.«

»Und Sie haben sie dann erschreckt?«

»Das nicht – ich bezeichnete deinen Zustand nur mit dem richtigen Namen, und sie erschrak vor dem Wort.«

»Hören Sie einmal«, sagte sie ernsthaft, »die Ruhe der Tante liegt mir sehr am Herzen, mehr vielleicht, als sie selbst annehmen mag.«

»Nein«, unterbrach Raiskij sie lebhaft, »Tantchen ist fest davon überzeugt, daß du sie über alles liebst. Sie hat mir das selbst gesagt.«

»Gott sei Dank! Sie machen mir eine große Freude durch diese Nachricht. Nun hören Sie, was ich Ihnen sage, und führen Sie meine Befehle blindlings aus. Gehen Sie zu Tantchen und zerstreuen Sie sofort alle Ihre Befürchtungen und Vermutungen betreffs der Ekstase, der Liebe und so weiter. Das kann Ihnen nicht schwerfallen. Sie werden es bestimmt tun, wenn Sie mich liebhaben.«

»Was würde ich nicht alles tun, um dies zu beweisen! Noch heute abend will ich ...«

»Nein, jetzt gleich, in diesem Augenblick! Wenn ich zum Mittagessen komme, sollen ihre Augen mich wieder so anschauen wie früher ... hören Sie?«

»Gut, ich will gehen ...« sagte Raiskij, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.

»So laufen Sie doch, sofort, in diesem Augenblick!«

»Und du ... gehst jetzt auch heim?«

Mit einer fast gebieterischen Handbewegung bedeutete sie ihm, daß er nach Hause gehen solle.

»Noch eins«, sagte sie, ihn für einen Moment zurückhaltend, »reden Sie mit Tantchen nie wieder von mir, hören Sie?«

»Ich höre, Kusinchen«, sagte er lächelnd.

»Ihr Ehrenwort!«

Er zögerte verlegen.

»Und wenn sie davon anfängt?« versetzte er.

»Dann schweigen Sie – Ehrenwort?«

»Ehrenwort!«

»Merci ... und nun eilen Sie rasch zu ihr!«

»Gut, gut, ich eile schon ...«, sagte er, langsam davonschreitend und sich nach ihr umschauend.

Sie winkte ihm, zum Zeichen, daß er rascher gehen solle, und blieb stehen, um zu beobachten, ob er wirklich gehe. Er bog in die Allee ein, machte dann jedoch kehrt und kam zurück, um ihr noch irgend etwas zu sagen. Doch sie war nicht mehr da.

»Tantchen hat recht, wie ein Geist ist sie verschwunden!« flüsterte er vor sich hin.

In diesem Augenblick fiel unten auf dem Grunde der Schlucht ein Schuß.

›Wer hat sich da wieder einen Spaß erlaubt?‹ fragte sich Raiskij, während er dem Hause zuschritt.

Wera erschien rechtzeitig zum Mittagessen, und so scharf auch Raiskijs forschender Blick sie beobachtete – er konnte keine Spur von Ekstase oder Grübelei an ihr entdecken. Sie war ganz so, wie er sie früher gekannt hatte.

Die Großtante sah zwei- oder dreimal heimlich zu ihr hinüber und schien sich zu beruhigen, als sie nichts Besonderes an ihr bemerkte. Raiskij hatte Weras Auftrag erfüllt und Tantchens lebhafte Befürchtungen zerstreut – ganz freilich konnte er ihr Mißtrauen nicht beseitigen. Sie unterhielten sich alle drei über gleichgültige Dinge und saßen dann in nachdenklichem Schweigen da. Wera nahm sogar irgendeine Handarbeit vor, der sie ihre ganze Aufmerksamkeit zuwandte, doch es entging der Großtante nicht, daß sie den Seidenfaden ziemlich regellos kreuz und quer führte, während Raiskij feststellen konnte, daß sie zuweilen wie erschauernd zusammenfuhr oder ängstlich um sich schaute, ob nicht etwa die anderen mit Argwohn auf sie blickten.

Am nächsten und übernächsten Tage jedoch war auch das überwunden, und wenn Wera zur Großtante kam, war sie vollkommen ruhig, ja sogar leidlich heiter gestimmt. Nur schloß sie sich jetzt häufiger in ihrem Zimmer ein und hatte in der Nacht länger als sonst das Licht in ihrem Zimmer brennen.

›Was treibt sie eigentlich?‹ ging es der Großtante durch den Kopf. ›Bücher liest sie nicht – sie hat keine da, soviel ich weiß. Aber vielleicht schreibt sie; Papier und Tinte sind oben.‹

Am wenigsten konnte Tatjana Markowna diese Heimlichkeit vertragen, die sie geradezu als persönliche Kränkung empfand. Ein junges Mädchen, das heimlich korrespondiert, das vielleicht gar vom Fenster aus mit irgendeinem Fant verstohlene Signale wechselt – das wollte ihr gar nicht in den Kopf! Und wer, wer war denn dieses Mädchen? Ihre Großnichte, ihr liebes Kind, das die sterbende Mutter ihr anvertraut hatte – oh, schrecklich, schrecklich! »Es überläuft einen kalt«, flüsterte sie vor sich hin, ohne zu ahnen, daß diese Kälteempfindung eine Wirkung ihrer Nerven war, an deren Vorhandensein sie nicht glaubte.

Sie wartete ab, ob nicht vielleicht der Zufall ihr etwas entdecken, ob nicht Marina aus der Schule plaudern oder Raiskij etwas verraten würde. Doch nichts von alledem geschah. So oft sie auch zur Nachtzeit spähend umherging, so eindringlich sie, bei aller Vorsicht, Marina ausfragte, soviel sie auch Marfinka auf Kundschaft schickte, um zu erfahren, was Wera trieb – nichts brachte sie in ihren Nachforschungen weiter, alles blieb erfolglos.

Da kam ihr plötzlich der glückliche Gedanke, sich dadurch eine beruhigende Gewißheit zu verschaffen, daß sie auf Weras Gemüt gleichsam hintenherum, durch ein Beispiel – oder, wie Raiskij sich ausdrückte, durch eine Allegorie – einzuwirken versuchte.

Sie erinnerte sich, daß sie noch irgendwo in ihren Truhen einen sehr lehrreichen Roman stecken haben mußte, den sie einstmals, in ihren jungen Jahren, selbst mit großem Interesse gelesen und über den sie sogar Tränen vergossen hatte.

Der Roman handelte von den schrecklichen Folgen der Liebe, der sich Kinder ohne Einwilligung ihrer Eltern hingeben. Ein Jüngling und ein Mädchen hatten einander liebgewonnen, wurden jedoch durch ihre Eltern getrennt und sahen einander fortan nur aus der Ferne, vom Balkon aus, verständigten sich aber durch Zeichen und schrieben einander heimlich.

Dieser heimliche Verkehr wurde von den Nachbarn beobachtet, das Mädchen kam um seinen guten Ruf und mußte in ein Kloster gehen, der Jüngling aber wurde vom Vater irgendwohin nach Amerika verbannt.

Tatjana Markowna glaubte gleich vielen andern Leuten an die Macht des gedruckten Wortes, sofern dieses eine erbauliche Tendenz hat, und in diesem sie ganz persönlich angehenden Falle erwartete sie von der Lektüre des Buches sogar eine gewisse Zauberwirkung wie etwa von einem Hexenspruch oder von den Linien der Handfläche.

Sie holte das Buch aus einer alten Truhe hervor, wo es unter allerhand Rumpelkram versteckt gelegen hatte, und legte es auf den Tisch neben ihr Arbeitskörbchen. Beim Mittagessen sprach sie den jungen Damen gegenüber den Wunsch aus, sie möchten ihr doch, namentlich bei schlechtem Wetter, abwechselnd etwas vorlesen; ihre Augen seien schon schwach, und sie käme selbst nicht mehr recht vorwärts mit den Büchern.

Marfinka hatte ihr bereits früher mitunter etwas vorgelesen, im allgemeinen jedoch verhielt sich die Großtante der Literatur gegenüber ziemlich gleichgültig. Nur wenn Tit Nikonytsch ihr irgendeine Zeitungsneuigkeit mitteilte, etwas von blutigen Mordtaten oder großen Feuersbrünsten, vielleicht auch gelegentlich eine wirtschaftliche oder hygienische Belehrung, ward ihr Interesse rege.

Als sie nun diesmal mit ihrem Vorschlag herausrückte, sagte Wera gar nichts, während Marfinka, auf das Buch zeigend, fragte:

»Geht die Sache auch gut aus, Tantchen?«

»Warte, bis du das Buch ausgelesen hast, dann wirst du es wissen«, antwortete die Großtante.

»Was für ein Schmöker ist denn das?« fragte Raiskij am Abend. Er nahm das Buch, sah hinein und lachte.

»Kaufen Sie sich doch lieber ein Traumbuch und lassen Sie sich daraus vorlesen!« sagte er. »Diese alte Scharteke auszugraben! Die haben Sie jedenfalls damals gelesen, als Sie in Tit Nikonytsch verliebt waren?«

Tatjana Markowna errötete und wurde ernstlich böse.

»Laß deine albernen Scherze, Boris Pawlowitsch!« sagte sie. »Ich bitte dich nicht, dabeizusein, wenn wir lesen, stör uns also nicht in unserem Vorhaben!«

»Aber das ist ja ein ganz vorsintflutliches Erzeugnis.«

»Gewiß doch, ja – ich weiß, daß du nach der Sintflut geboren bist, und ich habe nichts dagegen, daß du auf deine Weise Romane und Dramen schreibst, ich bitte dich aber, uns bei unserem Geschmack zu lassen. Fang nur an, Marfinka – und du, Wera, hör zu! Sobald Marfinka müde ist, wirst du weiterlesen. Das Buch ist sehr anregend und lehrreich.«

Wera fügte sich schweigend, Marfinka aber wollte rasch nachsehen, ob im letzten Kapitel von einer Hochzeit die Rede war. Doch die Großtante hinderte sie daran.

»Fang nur von vorn an«, sagte sie, »du wirst noch früh genug zu Ende kommen. Wie kann man nur so ungeduldig sein!«

Raiskij verließ das Zimmer, und Tantchens Kabinett verwandelte sich in einen Leseraum. Wera langweilte sich entsetzlich, doch widersprach sie nie, wenn die Großtante ihr gegenüber auf ihrem Willen bestand.

In dem Roman wurden zunächst die Eltern des jungen Mannes und das Mädchen sehr ausführlich geschildert, dann wurde erzählt, wie die beiden Familien gleich den Montecchi und Capuletti miteinander in Zwist gerieten, und hierauf folgte eine eingehende Darstellung des Äußeren und der Eigenschaften der jungen Leute, die miteinander aufgewachsen und erzogen, dann aber getrennt worden waren.

Am dritten oder vierten Vorlesungstag kam man endlich nach langer Geduldsprobe zu der gegenseitigen Neigung der beiden jungen Leute, zu ihrer Liebeserklärung und dem ersten heimlichen Stelldichein. Die ganze Geschichte war höchst moralisch und sittenrein, jedoch unerträglich langweilig.

Wera saß zumeist still in Gedanken versunken da. Sobald das Wort »Liebe« vorkam, blickte Tatjana Markowna verstohlen zu ihr hinüber, um festzustellen, ob sie vielleicht erröte oder erbleiche oder sonstige Zeichen der Aufregung an ihr sichtbar würden. Nichts von alledem geschah; sie gähnte nur. Und als eine zudringliche Fliege sich ihr auf die Nase setzen wollte, jagte sie sie fort und beobachtete, wohin sie flöge. Dann gähnte sie von neuem.

Am nächsten Abend erschien Wera überhaupt nicht zum Tee, sondern bat, ihn auf ihrem Zimmer trinken zu dürfen. Als die Großtante ihr sagen lassen wollte, sie solle zur Vorlesung kommen, stellte sich heraus, daß Wera nicht zu Hause war; sie sei spazierengegangen, hieß es.

Wera glaubte nun glücklich den Schrecken der Vorlesung entflohen zu sein, aber die Großtante kannte kein Erbarmen. Sie ließ in Weras Abwesenheit nicht weiterlesen und setzte die Fortsetzung der Lektüre für den nächsten Abend fest. Wera warf Raiskij einen trübseligen Blick zu, er verstand, und schlug vor, doch lieber spazierenzugehen.

»Meinetwegen – aber dann wird weitergelesen«, sagte Tatjana Markowna und sah dabei argwöhnisch auf Wera, deren verzweifelten Blick sie aufgefangen hatte.

Es war nichts zu machen, Wera mußte kapitulieren. Sie zeigte nun keine Langeweile, keine Müdigkeit mehr, sondern wußte sich tapfer zu beherrschen und folgte mit Aufmerksamkeit der langschleppenden Erzählung. Raiskij hörte ein Weilchen zu und entfernte sich dann.

»Ein schrecklicher Kerl, dieser Autor; als wenn er im Schlafe läge und Lindenbast kaute«, meinte er im Weggehen, und Marfinka mußte noch lange über den Ausdruck lachen.

Wera gähnte nicht mehr und beobachtete auch nicht mehr die Flugkünste der Fliegen, sondern saß, die Lippen fest aufeinandergepreßt, auf ihrem Stuhl. Kam die Reihe des Vorlesens an sie, dann las sie klar und deutlich, und die Großtante freute sich über ihre Aufmerksamkeit.

›Gott sei Dank‹, dachte sie, ›sie hört zu, sie interessiert sich, nimmt sich's zu Herzen. Vielleicht wird alles gut ...‹

Sehr ausführlich wurde in dem Roman geschildert, wie das Gefühl der jungen Leute immer heißer und glühender wurde, wie die Eltern sie auf Schritt und Tritt überwachten und alle möglichen sittlichen Folterqualen ersannen, um ihre Herzen zu trennen. Marfinka konnte sich der Tränen nicht enthalten, Wera dagegen lächelte nicht selten, blickte jedoch zuweilen auch wieder nachdenklich und finster drein.

›Es scheint sie wirklich zu packen‹, dachte Tatjana Markowna. ›Nun, Gott sei Dank!‹

Wie alles in der Welt, so fand auch der Roman allmählich ein Ende. Nur wenige Kapitel waren noch übrig, und der letzte Vorlesungsabend brach an. Sobald das Teegeschirr weggeräumt war, setzte man sich um den Tisch, und die Vorlesung, der auch Raiskij beiwohnte, begann.

Auch Wikentjew war anwesend. Er konnte nicht still sitzen, sondern sprang jeden Augenblick auf und lief zu Marfinka, mit der er dann leise plauderte. Er bat, man möchte auch ihn vorlesen lassen, und als es ihm gestattet wurde, flocht er ganze Abschnitte seiner eigenen Erfindung in die Handlung ein und las mit veränderter Stimme. Sprach die verfolgte Heldin, so las er in sanftem, klarem Diskant, während er dem Helden seine eigene Stimme lieh und die Worte, die dieser zu sprechen hatte, stets an Marfinka richtete, die ihrerseits jeden Augenblick rot wurde und ihm ein böses Gesicht machte. In der Gestalt des finster drohenden Vaters suchte Wikentjew den moralischen Eiferer Nil Andrejitsch zu verkörpern. Das ging den Damen zu weit – sie nahmen ihm das Buch weg und hießen ihn stillsitzen. Er begleitete nun hinter dem Rücken der Großtante die Vorlesung mit allerhand mimischen Künsten, die nur Marfinka sehen konnte.

Marfinka aber übte Verrat und machte die Großtante auf ihn aufmerksam. Da nahm Tatjana Markowna ihn bei der Hand und führte ihn in den Garten hinaus, wo er bis zum Abendbrot spazierengehen sollte. Die Vorlesung wurde fortgesetzt. Marfinka war in schlechter Stimmung. Das Buch war schon fast zu Ende, immer noch wurden lauter traurige Dinge erzählt, nichts deutete auf einen glücklichen Ausgang.

»Kann's dir denn nicht gleich sein, ob die Sache glücklich oder unglücklich endet?« fragte Raiskij.

»Oh, nur kein trauriges Ende!« sagte sie, »ich werde weinen, werde nicht einschlafen können!«

Das Drama der Verfolgungen war noch mitten im Gange, und die Strafpredigten der Eltern rollten in unendlich langweiligen Sentenzen über den Häuptern der Liebenden dahin.

»Sieh doch, wie Wera zuhört!« flüsterte die Großtante Raiskij zu. »Die Geschichte hat sie tief ergriffen – sieh, wie sie die Stirn runzelt und sich auf die Lippen beißt!«

Endlich trat die Katastrophe ein. Die Liebenden wurden im Garten überrascht. Der Held des Romans hatte aus Bettlaken und Taschentüchern eine Strickleiter hergestellt, auf der die Heldin zu ihm hinunterkletterte. Weinend lagen sie einander in den Armen, als plötzlich die Schar der Verfolger beim Scheine der Fackeln sie umringte und unter Ausrufen des Entsetzens und Unwillens der Fluch des Vaters auf ihre schuldigen Häupter fiel. Die Heldin bekam einen Ohnmachtsanfall, der Held stürzte vor dem hartherzigen Vater auf die Knie. Das Mädchen wurde eingesperrt, nicht einmal verabschieden durften sich die Unglücklichen. Vier Wochen später verkündete dumpfes Glockengeläut, daß sie in ein Nonnenkloster aufgenommen war, während am selben Tage vom Hamburger Hafen ein Schiff abfuhr, das ihn nach Amerika bringen sollte. Die beiden Elternpaare blieben allein und verlassen zurück und büßten ihre Hartherzigkeit bis an ihr Lebensende in trostloser Einsamkeit.

Das letzte Wort war verklungen, der Deckel des Buches zugeklappt, und unter den Anwesenden herrschte tiefes Schweigen.

»Was für ein abgeschmacktes Zeug!« sagte Raiskij nach einer Weile.

Marfinka trocknete ihre Tränen.

»Und was meinst du, Werotschka?« fragte die Großtante.

Wera schwieg.

»Ein abscheuliches Buch, Tantchen«, sagte Marfinka, »was sie alles durchmachen mußten, die armen Kinder!«

»Ja, das ist einmal so!« versetzte die Großtante mit einem Seitenblick auf Wera. »Wenn Kunigunde erfahrene Leute, die das Leben und die Macht der Leidenschaft kennen, um Rat gefragt hätte, dann hätte sie das alles nicht zu erdulden brauchen.« Raiskij nickte ihr mit ironischem Beifall zu.

»So mußte die Sache ein böses Ende nehmen«, fuhr die Großtante fort. »Hätte sie ihre Eltern befragt, dann wäre es nicht so weit gekommen. Was sagst du, Werotschka?«

Wera hatte sich bereits aus dem Zimmer entfernt, blieb jedoch auf der Türschwelle stehen.

»Warum haben Sie mich eine ganze Woche lang mit diesem albernen Buch gequält, Tantchen?« fragte sie, bereits die Tür in der Hand haltend, und ohne erst die Antwort abzuwarten, schlüpfte sie wie eine Katze aus dem Zimmer.

Die Großtante ging ihr nach und holte sie zurück.

»Was heißt das – warum?« sagte sie. »Ich wollte dir ein Vergnügen bereiten.«

»Nein, Sie wollten mich für irgend etwas bestrafen. Wenn Sie wieder einmal glauben, daß ich Strafe verdiene, sperren Sie mich lieber acht Tage lang bei Wasser und Brot ein.«

Sie kniete auf dem Bänkchen zu Füßen Tatjana Markownas nieder.

»Gute Nacht, Tantchen – schlafen Sie wohl!« sagte sie. Die Großtante beugte sich zu ihr hinab, um sie zu küssen, und flüsterte ihr ins Ohr:

»Nicht strafen wollte ich dich, sondern warnen, damit du nicht irgendeinmal ... Strafe verdienst.«

»Und wenn ich sie verdiene ...«, gab Wera flüsternd zur Antwort, »würden Sie mich dann auch ins Kloster schicken, wie jene Eltern ihre Kunigunde?«

»Wie denn? Bin ich denn ein grausames Tier?« versetzte Tatjana Markowna gekränkt. »Bin ich vielleicht ebenso böse wie diese entmenschten Eltern? Wie kannst du nur so etwas von mir denken, Wera ... es ist einfach sündhaft!«

»Ich weiß, Tantchen, daß es sündhaft ist, und ich denke es auch nicht. Wie kamen Sie dann aber darauf, mich durch dieses dumme Buch da warnen zu wollen?«

»Wie soll ich dich denn sonst warnen und schützen, mein liebes Kind? Sag es mir, beruhige mich!«

Wera wollte etwas antworten, hielt jedoch an sich und sah einen Augenblick zur Seite.

»Geben Sie mir Ihren Segen!« sagte sie dann, und nachdem die Großtante sie bekreuzigt hatte, küßte sie ihr die Hand und ging aus dem Zimmer.

Raiskij nahm das Buch vom Tisch.

»Ein wunderliches Buch!« sagte er lächelnd. »Sind Sie mit dem Erfolg Ihrer schönen Kunigunde zufrieden?«

Die Großtante ließ statt jeder Antwort einen schmerzlichen Seufzer hören. Sie war nicht zum Scherzen aufgelegt. Sie nahm ihm das Buch fort und gab es Paschutka, damit sie es nach der Gesindestube trage.

»Na, Tantchen«, sagte Raiskij, »jetzt hätten Sie Wera glücklich auf den rechten Weg gebracht. Wenn noch Jegorka und Marina diese Allegorie mit gutem Erfolg lesen, wird in diesem Haus vor lauter Tugend kein Platz zu finden sein!«


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