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XIII

Nachdem Raiskij so seine Freundespflicht erfüllt hatte, schritt er langsam bergan durch die Gasse und blickte gleichgültig auf die im Straßengraben wuchernden Brennesseln, auf die oben am Abhang weidende Kuh, das an der Hecke seine Löcher wühlende Schwein und den einförmigen, sich lang hinstreckenden Zaun. Er warf einen Blick zurück nach Koslows Haus, und sah, daß Uljana Andrejewna immer noch am Fenster stand und ihm mit dem Taschentuch winkte.

»Ich habe alles getan, was ich konnte, alles!« sagte er, sich entsetzt von dem Fenster abwendend und seine Schritte beschleunigend.

Oben auf dem Hügel angelangt, blieb er stehen und rief in ungeheucheltem Schrecken: »Mein Gott, o mein Gott!«

›Hamlet und Ophelia!‹ fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf, und er schüttelte sich bei diesem Vergleich vor Lachen so heftig, daß er sich am Gitter des Kirchhofs, an dem er gerade vorüberkam, festhalten mußte. Uljana Andrejewna – und Ophelia! Daß er sich selbst mit Hamlet verglich, kam ihm nicht lächerlich vor. ›Jeder Mann‹, sagte er sich, ›hat zuweilen seine Hamletstunde. Der sogenannte Wille spielt uns allen irgendeinmal einen Streich!‹ – »Nein, der Mensch hat keinen freien Willen«, sagte er, »wohl aber gibt es eine Lähmung des Willens, eine Willenlosigkeit, die er nötigenfalls willkürlich ins Spiel setzen kann. Das, was man den freien Willen nennt, diese vermeintliche Seelenkraft, steht dem Herrn der Schöpfung durchaus nicht zur Verfügung, sondern ist gewissen von ihm unabhängigen Gesetzen unterworfen, nach denen sie wirkt, ohne daß er um seine Einwilligung gefragt wird. Gleich dem Gewissen meldet sie sich immer erst dann, wenn der Mensch das getan hat, was ihm nicht richtig scheint; zeigt er wirklich einmal festen Willen, so geschieht das nur zufällig, oder in Dingen, die ihm gleichgültig sind.«

»Leontij«, rief er plötzlich aus und faßte sich an den Kopf, »in wessen Hände ist dein Glück gelegt! Mit welcher Miene werde ich ihm das nächste Mal gegenübertreten! Und doch – wie fest war mein guter Wille!«

Wie aufrichtig und ehrlich hatte er sich für diese edle Rolle eines Schutzengels vorbereitet, wie erhaben war ihm die Idee freundschaftlicher Pflichterfüllung erschienen, und welche sittliche Genugtuung hätte es ihm bereitet, wenn ...

›Doch was sollte ich tun?‹ fragte er sich zum Schluß. Und allmählich hob er den Kopf wieder, reckte und streckte sich, die düsteren Falten verschwanden von seiner Stirn, und sein Gesicht wurde wieder ruhig.

»Ich habe alles getan, was ich konnte – ja, alles, was ich konnte!« sprach er, sich selbst beschwichtigend. »Nur ist die Sache leider anders verlaufen, als sie sollte«, flüsterte er mit einem Seufzer.

Mit diesem »leider« und diesem Seufzer kam er, in seinen eigenen Augen leidlich gerechtfertigt, zu Hause an, wo er, zu Tantchens höchster Freude, ganz vergnügt und mit gutem Appetit in ihrer und Marfinkas Gesellschaft zu Mittag aß.

›Dieses Kapitel muß ich in dem Roman auslassen‹, dachte er, als er am Abend seine Hefte vornahm, um Uljana Andrejewnas Charakteristik zu ergänzen. – ›Übrigens, warum soll ich lügen, mich verstellen, auf Stelzen einherschreiten? Ich will es doch so lassen, wie es sich wirklich zugetragen, nur etwas mildern will ich dieses Rendezvous, will vor die Nymphe und den Satyr eine Girlande ziehen.‹

Voll Eifer vertiefte sich Raiskij in seinen Roman. Er sah darin gleichsam sein eigenes Leben, in lauter Flocken zerrissen, an seinem Geiste vorüberziehen.

›Ein naiver Leser wird freilich annehmen, ich selbst sei so, und zwar einzig so, wie der Held des Ganzen da geschildert ist‹, sagte er sich, während er seine Niederschriften durchblätterte. ›Er wird sich nicht vorstellen können, daß es sich hier nicht um mich, nicht um irgendeinen Karp oder Sidor handelt, sondern um einen allgemeinen Typus; daß im Organismus eines Künstlers viele Epochen, viele verschiedenartige Persönlichkeiten stecken. Was soll ich mit allen diesen Gestalten anfangen, wie soll ich diese zehn, zwanzig mannigfachen Typen im Rahmen des Ganzen unterbringen?‹

›Es wird eben nichts anderes übrigbleiben, als auch diese zehn, zwanzig Typen noch zu formen und zu gestalten‹, flüsterte eine Stimme in ihm. ›Das ist ja die Aufgabe des Künstlers, wenn er ein echtes Werk schaffen und nicht beim Phantom stehenbleiben will!‹

Er stieß einen Seufzer aus.

›Wie kann ich daran denken, solch ein Werk zu schaffen – ich, der »Pechvogel«!‹ dachte er resigniert.

Nach dem Rendezvous mit Uljana Adrejewna waren einige Tage vergangen. Es war gegen Abend, und ein Gewitter zog am Himmel herauf. Über der Wolga stand schwarzes Gewölk, auf dem Hofe herrschte eine erdrückende Schwüle, und auf dem Felde und der Straße trieb der Wind dichte Staubwirbel hoch.

Eine unheimliche Stille lag über der Landschaft. Tatjana Markowna hatte alles auf die Beine gebracht, um die üblichen Vorbereitungen für das Gewitter zu treffen. Fenster, Türen, Schornsteine wurden verschlossen. Sie hatte nicht nur selbst Angst vor dem Gewitter, sondern verurteilte diejenigen, die keine Angst davor hatten, unbarmherzig als schlimme Freigeister. Alles im Hause bekreuzigte sich fromm, sobald ein Blitz zuckte, und wer es nicht tat, den nannten sie einen »Klotz«. Jegorka wurde von ihr aus dem Vorzimmer ins Gesindehaus gejagt, weil er auch angesichts des Gewitters nicht aufhörte, mit dem Stubenmädchen zu schäkern und zu kichern.

In majestätischer Pracht kam das Gewitter herangezogen; von ferne ließ sich das Rollen des Donners vernehmen, immer dichtere Staubsäulen zogen auf der Straße daher.

Plötzlich zuckte ein jäher Blitz über den Himmel, und im selben Augenblick erdröhnte gerade über dem Dorf ein furchtbarer Donnerschlag.

Raiskij nahm Mütze und Schirm und ging rasch in den Garten, um das gewaltige Naturschauspiel unmittelbar beobachten zu können und dann nachträglich seine Schilderung nebst der Analyse dessen, was er selbst dabei empfunden, in seinen Plan einzutragen.

Tatjana Markowna sah ihn vom Fenster aus und klopfte gegen die Scheibe.

»Wohin denn, Boris Pawlowitsch?« fragte sie, ihn ans Fenster rufend.

»An die Wolga, Tantchen, ich will mir das Gewitter ansehen.«

»Bist du bei Troste? Komm sogleich zurück!«

»Nein, ich geh.«

»Bleib hier, sag ich dir!« rief sie im Befehlston.

Wieder zuckte ein Blitz, und der Donner knatterte und rollte. Die Großtante floh entsetzt vom Fenster, Raiskij aber stieg in die Schlucht hinab und schritt auf dem kaum erkennbaren, gewundenen Fußpfad vorwärts.

Der Regen goß wie aus Eimern, Blitz auf Blitz fuhr nieder, der Donner dröhnte und grollte. Alles war von der Dämmerung und den finsteren Wolken in tiefes Dunkel gehüllt.

Raiskij bereute gar bald seine künstlerische Absicht, das Gewitter zu studieren. Der Regenschirm schützte ihn längst nicht mehr vor den Fluten, die auf ihn niederströmten, und er war ganz durchnäßt. Seine Füße versanken in dem aufgeweichten Lehm, er verlor den Weg im Dickicht, stieg auf Hügel und Baumstämme oder geriet in tiefe Löcher und Gruben.

Jeden Augenblick mußte er stehenbleiben, und wenn ein Blitz niederfuhr, tat er ein paar Schritte vorwärts. Er wußte, daß da irgendwo auf dem Grunde der Schlucht ein Pavillon gestanden hatte, als die Sträucher und Bäume, die am Abhange der Schlucht wuchsen, noch einen Teil des Parks bildeten.

Erst kürzlich hatte er, als er zum Ufer hinabstieg, diesen Pavillon flüchtig im Dickicht gesehen; jetzt wollte er dahin, um Schutz zu finden und gleichzeitig von dort aus das Gewitter zu beobachten, doch wußte er nicht, in welcher Richtung er den schützenden Zufluchtsort zu suchen hätte. Auch den Rückweg wollte er nicht antreten; zwischen den dichten, nassen Sträuchern, über Löcher und Hügel hinweg emporzuklimmen, hatte bei dem herrschenden Dunkel und dem weichen Grund seine Schwierigkeiten. Er entschloß sich daher, sich noch eine Strecke weiterzuschleppen bis zum nahen Berge, über den ein Fahrweg führte, dort über den Heckenzaun zu klettern und auf dem Wege ins Dorf zurückzukehren.

Seine Stiefel waren ganz durchnäßt, er kam kaum vorwärts in dem weichen Boden und durch das hoch wuchernde Unkraut. Er mußte sich auch eingestehen, daß dieses unerträglich grelle Leuchten der Blitze und dieses ewig drohende Grollen des Donners über seinem Haupte ihn nicht ganz gleichgültig ließ.

›Ich hätte von meinem Zimmer aus den Anblick des Gewitters bequemer genießen können‹, sagte er sich im stillen.

Endlich war er an die Hecke gelangt, tastete sich mit den Händen daran entlang, wollte eben den Fuß ins Gras setzen und – fiel ausgleitend in einen tiefen Graben. Mit Mühe und Not kroch er heraus, kletterte über den Heckenzaun und kam auf den Weg. Dieser war steil und gefährlich und wurde von den Bauern höchstens benutzt, wenn sie mit einem leeren Einspänner fuhren und ihre abgetriebenen, geduldigen kleinen Pferdchen keinen großen Umweg machen lassen wollten.

Von oben bis unten triefend, den überflüssig gewordenen Schirm unterm Arm, schritt Raiskij, jedesmal vor den blendenden Blitzen die Augen verschließend, langsam und schwerfällig bergan, immer wieder in dem weichen Straßenkot ausgleitend und stehenbleibend. Da vernahm er plötzlich das Knarren von Wagenrädern.

Er horchte auf: Ja, jetzt hörte er das Geräusch ganz in der Nähe. Er machte halt, immer deutlicher vernahm er das Knarren, und bald hörte er auch das Keuchen und Stampfen der mühsam bergan schreitenden Pferde, ihr Prusten und Schnauben und den Zuruf eines Mannes, der sie antrieb. Es blitzte jetzt schon seltener, und so konnte Raiskij den Wagen noch nicht unterscheiden.

Er trat zur Seite und hielt sich an der Hecke fest, um das Gefährt, sobald es ihn erreicht hätte, auf dem schmalen Wege vorüberzulassen.

Jetzt zuckte wieder ein Blitz, und bei seinem Aufleuchten konnte er den Wagen deutlich sehen. Es war eine breite, mehrsitzige Droschke mit einem Verdeck, unter dem mehrere Personen saßen; ein Paar wohlgenährte, anscheinend ausgezeichnete Pferde waren vorgespannt.

Wieder fuhr ein Blitz herab – und Raiskij war starr vor Staunen, als er unter den Insassen des Wagens Wera erkannte.

»Wera!« rief er, so laut er konnte.

Der Wagen machte halt.

»Wer ist da?« erklang ihre Stimme.

»Ich bin's.«

»Sie, Vetter!? Was tun Sie denn hier?« fragte sie höchst verwundert.

»Und wie kommst du hierher?«

»Ich bin auf dem Heimweg begriffen.«

»Und ich desgleichen.«

»Woher kommen Sie denn?«

»Ich trieb mich in der Schlucht umher und habe den Weg verloren. Nun gehe ich wieder über den Berg nach Hause. Doch du – wie konntest du dich nur auf diesen steilen Weg wagen? Wer fährt denn da mit dir? Wem gehört der Wagen? Könnte ich nicht mit einsteigen?«

»Bitte ergebenst, wir haben Platz genug. Reichen Sie mir die Hand, ich will Ihnen beim Einsteigen helfen«, sagte eine männliche Stimme.

Raiskij hielt seine Hand hin, und irgend jemand zog ihn mit kräftigem Griff unter das Schutzdach des Wagens. Dort fand er außer Wera auch noch Marina vor. Sie saßen beide dicht aneinandergeschmiegt wie ein paar nasse Hühner und suchten sich durch das Schutzleder, so gut es ging, gegen den von der Seite einfallenden Regen zu decken.

»Mit wem fährst du denn da? Wem gehört der Wagen, wer lenkt ihn?« fragte Raiskij leise, zu Wera gewandt.

»Iwan Iwanytsch.«

»Was für ein Iwan Iwanytsch?«

»Der Forstmeister«, flüsterte sie ihm leise zu.

»Der Forstmeister?« sagte Raiskij und wollte weiterfragen, aber Wera stieß ihn zum Zeichen, daß er schweigen solle, in die Seite, da der Forstmeister dicht vor ihnen saß und sie leicht hören konnte.

»Später!« flüsterte sie.

›Der Forstmeister!‹ dachte Raiskij, und sogleich fiel ihm das Gespräch mit der Großtante ein, die den Mann da vorn so gelobt und als eine gute Partie bezeichnet hatte.

›Das also ist der Held des Romans: der Forstmeister ... der Forstmeister!‹ sprach er zu sich und war ganz aufgeregt.

Er versuchte, sich den Forstmeister etwas näher anzusehen, doch bekam er nichts weiter zu Gesicht als einen großen, niedrigen Hut mit breiter Krempe, der dicht vor seiner Nase über einem mit einem Segeltuchmantel bekleideten kräftigen Schulternpaar auf und nieder wippte. Vom Gesicht sah er nur – im Profil – etwas von der Nase und, wie ihm schien, einen Vollbart.

Der Forstmeister lenkte die Pferde recht geschickt den steilen Berg hinan, trieb bald das eine, bald das andere an, ermunterte sie gelegentlich durch einen Pfiff und zog die Zügel fester an, wenn sie beim Zucken der Blitze zusammenfuhren.

»Nun, wie befinden Sie sich, Wera Wassiljewna?« erkundigte er sich teilnehmend, während er sich nach den Insassen des Wagens umwandte. »Sind Sie nicht naß geworden? Frieren Sie nicht?«

»Nein, nein, mir ist ganz wohl, Iwan Iwanowitsch, der Regen dringt nicht bis zu mir durch.«

»Sie sollten meinen Mantel nehmen«, schlug Iwan Iwanytsch ihr vor. »Daß Sie sich nur nicht erkälten, ich würde es mir mein Lebtag nicht verzeihen, daß ich diese Fahrt mit Ihnen gemacht habe.«

»Ach, reden Sie doch nicht, ich kann's wirklich nicht hören!« antwortete Wera in freundschaftlichem Ton. »Fahren Sie nur zu, achten Sie auf Ihre Pferde!«

»Wie Sie befehlen«, sagte Iwan Iwanowitsch gehorsam und sah wieder nach seinen Pferden.

Immer wieder trieb er sie mit Pfiffen und Zurufen an, doch konnte er nicht umhin, von Zeit zu Zeit, gleichsam heimlich, nach Wera zurückzuschauen, um zu sehen, was sie machte.

Sie fuhren um den Gutshof herum und gelangten vor das Hoftor.

Der Forstmeister sprang von seinem Sitz herab und klopfte mit dem Peitschenstiel gegen das Tor. An der Freitreppe vorfahrend, überließ er den Wagen samt den Pferden den dienenden Geistern, die herbeieilten, und während Prochor, Taraska und Jegorka sich um die Pferde bemühten, trat er selbst rasch auf Wera zu, stieg auf den Wagentritt, nahm sie in seine Arme und trug sie wie eine kostbare Last sorgsam und ehrerbietig die Treppe hinauf. An den mit Kerzen herbeieilenden, verdutzt dreinschauenden Lakaien und Mädchen vorüber schritt er mit seiner Bürde nach dem Saal, wo er sie sanft auf das Sofa niedersetzte. Beschmutzt und durchnäßt, wie er war, folgte ihm Raiskij auf dem Fuße, und nicht eine Bewegung, nicht ein Blick der beiden entging ihm.

Darauf ging der Forstmeister ins Vorzimmer zurück, legte seine Überkleider ab und brachte seinen Anzug in Ordnung. Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern wie mit einem Kamm durch das dichte Haar und bat die Diener um eine Bürste oder einen Quast, um sich zu säubern.

Die Großtante hatte inzwischen Wera begrüßt und ihr ganz gehörig den Kopf gewaschen, daß sie sich auf solche Tollheiten einlasse, bei solchem Unwetter, mitten in der Nacht, bei dem steilen Wege, daß sie so wenig auf ihre eigene Gesundheit achte, auf sie, die Großtante, gar keine Rücksicht nehme, sie ewig in Unruhe versetze und sie noch ins Grab bringen werde. Dann hieß sie sie so rasch wie möglich Kleider und Wäsche wechseln, ermahnte sie, sich nur ja recht warm zu halten, ließ den Samowar bereitstellen und alle Vorbereitungen zum Abendbrot treffen.

»Ach, Tantchen, wie hungrig bin ich, und wie durstig!« rief Wera, die Großtante gleich einer Katze umschmeichelnd. »Tee möchte ich haben, und Suppe, und Braten, und Wein! Und auch Iwan Iwanytsch wird Appetit haben. Nur rasch, liebes Tantchen!«

Sie wußte sehr gut, wie die Großtante am schnellsten zu beruhigen war.

»Gleich, gleich – das ist ja ausgezeichnet! Alles, alles sollst du haben! – Und wo ist denn Iwan Iwanytsch? – Iwan Iwanytsch«, rief sie dem Forstmeister zu, »so kommen Sie doch! Was machen Sie denn dort? – Marfinka! Wo ist Marfinka? Wo steckt sie denn? Wohl noch in ihrem Zimmer?«

»Ich will mich nur etwas in Ordnung bringen, Tatjana Markowna«, ließ sich eine Männerstimme aus dem Vorzimmer vernehmen.

Jegor, Jakow und Stepan bürsteten, rieben und striegelten an dem Forstmeister wie an einem teuren Pferde herum. Alsbald trat er ins Zimmer und küßte der Großtante und Marfinka die Hand – die letztere war eben erst aus ihrem Zimmer herbeigeeilt, wo sie solange aus Angst vor dem Gewitter, in ihre Kissen vergraben, sich verborgen hatte.

»Zu verkriechen brauchst du dich nicht vor dem Gewitter«, sagte die Großtante, »nur beten mußt du, dann trifft dich der Blitzstrahl nicht!«

»Davor fürchte ich mich auch nicht«, sagte Marfinka, »der Blitz trifft ja fast immer nur die Bauern; aber so, im allgemeinen, ängstigt man sich doch!«

Raiskij stand immer noch, durchnäßt wie er war, am Fenster und musterte den wieder eintretenden Gast mit gespannter Aufmerksamkeit.

Iwan Iwanowitsch Tuschin war eine recht stattliche Erscheinung. Er war hochgewachsen und breitschultrig, doch dabei wohlproportioniert; er mochte gegen achtunddreißig Jahre zählen, hatte dichtes, dunkles Haar, kräftige Gesichtszüge, große graue Augen, die schlicht und bescheiden, ja fast ein wenig schüchtern dreinschauten, und einen dichten dunklen Vollbart. Seine Hände waren, dem Wuchs entsprechend, groß, mit breiten Nägeln besetzt und stark gebräunt.

Er trug einen Überrock, eine »falsche Weste« und ein Hemd aus Hausmacherleinen, dessen weicher Umlegekragen breit über die Krawatte fiel. Die Hände steckten in gemsledernen Handschuhen und hielten eine lange Peitsche mit silbernem Griff.

›Ein ganzer Kerl, und hübsch dabei, aber wie schlicht – um nicht noch mehr zu sagen – in Blick und Manieren! Sollte das wirklich Weras Held sein?‹ dachte Raiskij, immer wieder den Gast anschauend und von Erwartung gespannt, was die weitere Beobachtung ergeben würde.

›Nun, warum sollte er's nicht sein?‹ dachte er weiter, und die Eifersucht regte sich lebhaft in ihm. ›Die Frauen lieben diese hochgewachsenen Gestalten, diese offenen Gesichter, diese großen, kräftigen Hände, diesen muskulösen, zur Arbeit geschaffenen Typ. Aber Wera, sollte gerade sie ...?‹

»Und du, mein Lieber, was stehst du denn hier herum?« rief plötzlich die Großtante, die jetzt erst Raiskij bemerkte, und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Wie siehst du denn aus? Heda, Leute, Jegorka! – Wie seid ihr denn eigentlich zusammengekommen? Wie aus dem Dunkel der Hölle taucht ihr auf! Sieh doch, wie es von dir trieft – eine ganze Pfütze ist auf dem Fußboden! Borjuschka! Du willst dich wohl mit Gewalt umbringen? Die anderen fuhren hierher und wurden überrascht – aber du, wer hat dich aus dem Hause getrieben? Nun geh rasch, zieh dich um, und nimm dann einen tüchtigen Schuß Rum in den Tee! Iwan Iwanytsch, auch Sie sollten gleich Tee mit Rum trinken ... Doch Sie sind wohl gar nicht miteinander bekannt? Mein Großneffe, Boris Pawlytsch – Iwan Iwanytsch Tuschin!«

»Wir kennen uns schon«, sagte Tuschin sich verneigend, »wir haben Ihren Neffen unterwegs getroffen und im Wagen mit hergebracht ... Ich danke ergebenst, ich brauche nichts weiter – doch Sie sollten sich rasch umziehen, Boris Pawlytsch, Ihre Schuhe sind ganz durchnäßt!«

»Ihr müßt es einer alten Frau nicht verübeln; aber, offen gesagt, ihr kommt mir wirklich alle miteinander ein bißchen verrückt vor! Bei solchem Unwetter wagt sich kein Tier aus seiner Höhle! Da, o Gott, wie das noch immer blitzt! Schließ die Fensterläden ganz dicht, Jakow – rasch, rasch! Und ihr fahrt an einem solchen Abend über die Wolga!«

»Ich habe doch meine eigene Fähre, die ist fest und zuverlässig«, sagte Tuschin. »Ein geschlossenes Verdeck ist darauf. Wera Wassiljewna war dort so sicher wie in ihrem eigenen Zimmer, nicht ein Regentropfen drang durch.«

»Aber dieses Gewitter – schrecklich geradezu!«

»Ein Gewitter kann doch höchstens noch alte Weiber schrecken.«

»Ich danke verbindlichst, bin ich nicht auch ein solches?« versetzte die Großtante rasch.

Tuschin wurde verlegen.

»Verzeihung, es ist mir so entfahren, ich sagte das wirklich nicht mit Absicht! Es gilt doch auch nur von den Weibern aus dem Volke.«

»Nun, Gott wird Ihnen verzeihen!« sagte die Großtante lachend. »Ich weiß, Sie dachten sich nichts dabei. Und daß Sie sich nicht fürchten – Gott hat Sie eben so geschaffen! Aber Wera – daß die keine Angst hat! Woher kommt dir eigentlich dieser Heldensinn, meine Liebe?«

»Wenn ich mit Iwan Iwanowitsch zusammen bin, fürchte ich mich vor nichts, Tantchen.«

»Iwan Iwanytsch geht auch auf die Bärenjagd. Würdest du auch da mitgehen?«

»Gewiß, Tantchen, sehr gern würde ich dabeisein. Nehmen Sie mich doch einmal mit, Iwan Iwanytsch, das muß sehr interessant sein.«

»Mit dem größten Vergnügen, Wera Wassiljewna. Wenn ich im Winter wieder losziehe, lasse ich es Ihnen sagen. Die Sache hat wirklich ihren Reiz.«

»Sehen Sie, so ist sie!« sagte Tatjana Markowna. »Und daß die Großtante sich totängstigt, das ist dir natürlich gleich?«

»Ich habe doch nur gescherzt, Tantchen!«

»Nein, nein, dir trau ich alles zu! Wie konntest du überhaupt Iwan Iwanowitsch so in Anspruch nehmen ... diese weite Strecke.«

»Daran bin ich ganz allein schuld«, versetzte Tuschin. »Sowie ich von Natalja Iwanowna hörte, daß Wera Wassiljewna nach Hause fahren wolle, bat ich gleich um die Ehre, sie hierherzubringen.«

Er blickte bescheiden, fast demütig, zu Wera hinüber.

»Eine schöne Ehre – bei solchem Unwetter.«

»Macht nichts, wir hatten es wenigstens hell genug, und Wera Wassiljewna hatte auch gar keine Angst.«

»Wie geht es denn Anna Iwanowna, ist sie gesund?«

»Ja, Gott sei Dank, sie läßt Sie vielmals grüßen. Sie schickt Ihnen auch etwas von ihren Früchten: Pfirsiche aus der Orangerie, und Kirschen und Pilze – es ist alles noch im Wagen.«

»Warum macht sie sich solche Umstände? Wir haben selbst so viel Obst; das heißt, für die Pfirsiche lasse ich bestens danken, die haben wir nicht«, sagte die Großtante. »Ich will ihr dafür etwas von meinem Tee schicken. Eine ausgezeichnete Sorte, Borjuschka hat ihn mir mitgebracht, und ich hab auch an Sie gedacht.«

»Meinen herzlichen Dank!«

»Daß Sie sich in dieser Finsternis hier auf den Berg gewagt haben! Wenn nun die Pferde durchgegangen wären ... Gott behüte!«

»Meine Pferde gehorchen mir wie die Hunde. Hätte ich sonst wohl gewagt, Wera Wassiljewna das Anerbieten zu machen, wenn ich eine Gefahr bei der Sache gesehen hätte?«

»Sie sind ein zuverlässiger Freund«, sagte Wera, »ich verlasse mich vollkommen auf Sie, und auch auf Ihre Pferde.«

Im Augenblick, da sie diese Worte sprach, trat Raiskij, der sich nach dem anstrengenden Abenteuer bereits erholt hatte, in einem eleganten Hausanzug ins Zimmer. Er hörte Weras Worte und sah den Blick, den sie Tuschin dabei zuwarf.

›Ich verlasse mich vollkommen auf Sie und Ihre Pferde‹, wiederholte er still für sich. ›Sie nennt ihn mit den Pferden in einem Atem!‹

»Ich danke Ihnen verbindlichst, Wera Wassiljewna«, antwortete Tuschin. »Vergessen Sie nicht, was Sie soeben gesagt haben. Wenn einmal der Augenblick eintreten sollte ... dann ...«

»Wenn wieder einmal solch ein Unwetter heraufziehen sollte«, sagte die Großtante.

»Oder sonst ein Ungemach«, fügte er hinzu.

»Ach ja, es gibt mancherlei Unwetter im Leben!« sagte Tatjana Markowna mit einem tiefen Seufzer.

»Was es auch sein mag«, sagte Tuschin, »sowie ein Wetter über Ihrem Haupt heraufzieht, retten Sie sich über die Wolga, in den Wald! Dort haust ein Bär, der Ihnen stets zu Diensten sein wird, wie es im Märchen heißt.«

»Gut, ich will es mir merken!« antwortete Wera lachend. »Sobald ein böser Zauberer, wie es im Märchen heißt, kommt, um mich zu entführen, flüchte ich mich bestimmt zu Ihnen in den Wald!«


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