Iwan Gontscharow
Oblomow
Iwan Gontscharow

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XI.

Eines Tages gingen um die Mittagszeit auf der Wyborger Seite zwei Herren das Holztrottoir entlang; ein Wagen fuhr langsam hinter ihnen her. Der eine von ihnen war Stolz, der andre ein Freund von ihm, ein Schriftsteller, ein korpulenter Herr, mit einem apathischen Gesichte und nachdenklichen, scheinbar schläfrigen Augen. Sie kamen zur Kirche; die Messe war gerade zu Ende, und das Volk strömte auf die Straße, allen voran die Bettler. Diese bildeten eine große, buntscheckige Schar.

»Ich möchte gern wissen, wo die Bettler herkommen«, sagte der Schriftsteller, sie anblickend.

»Woher? Die kriechen aus allerlei Ritzen und Winkeln heraus . . .«

»Das meinte ich mit meiner Frage nicht«, erwiderte der Schriftsteller. »Ich möchte gern wissen, wie man zum Bettler werden, in diese Lage kommen kann. Geschieht das plötzlich oder allmählich, ist es Wahrheit oder Lüge? . . .«

»Warum willst du das wissen? Hast du etwa vor, Mystères de Pétersbourg zu schreiben?«

»Vielleicht . . .« versetzte der Schriftsteller mit trägem Gähnen.

»Da bietet sich dir hier Gelegenheit: frage den ersten besten; für einen Rubel wird er dir seine ganze Geschichte verkaufen; du schreibst sie dann nieder und verkaufst sie mit Profit weiter. Sieh mal diesen Alten; der scheint der normale Typus eines Bettlers zu sein. Heda, Alter, komm mal her!«

Der Alte wandte sich auf den Ruf um, nahm die Mütze ab und kam zu ihnen heran.

»Meine barmherzigen Herren!« sagte er mit heiserer Stimme, »helfen Sie einem armen, in dreißig Kämpfen verstümmelten Krieger . . .«

»Sachar!« rief Stolz erstaunt. »Bist du es?«

Sachar verstummte plötzlich; dann schützte er die Augen mit der Hand gegen die Sonne und blickte Stolz unverwandt an. »Verzeihen Sie, Exzellenz, ich erkenne Sie nicht . . . ich bin ganz blind geworden!«

»Hast du den Freund deines Herrn, Stolz, vergessen?« erwiderte Stolz vorwurfsvoll.

»Ach, ach, Väterchen Andrei Iwanowitsch! O Gott, ich war mit Blindheit geschlagen! Väterchen, teures Väterchen!«

Er geriet in hastige Bewegung, haschte nach Stolzens Hand, und da er sie nicht fassen konnte, so küßte er dessen Rockschoß.

»Daß Gott mich elenden Hund diese Freude hat erleben lassen . . .« heulte er, halb weinend, halb lachend. Sein ganzes Gesicht machte den Eindruck, als wäre es von der Stirn bis zum Kinn mit einem dunkelroten Brandmal bedeckt; die Nase war außerdem noch mit einer bläulichen Farbe überzogen. Der Kopf war ganz kahl, der Backenbart groß wie früher, aber zusammengedrückt und wirr wie Filz; es sah aus, als ob in jede Hälfte ein Schneeball hineingelegt wäre. Bekleidet war er mit einem alten, ganz verschossenen Mantel, an dem der eine Schoß fehlte; an den nackten Füßen trug er alte, schiefgetretenen Überschuhe; in der Hand hielt er eine ganz abgescheuerte Pelzmütze.

»Ach, du barmherziger Gott! Welche Gnade hast du mir heute zum Feiertage erwiesen . . .«

»In was für einem Zustande befindest du dich denn da? Woher kommt das? Schämst du dich nicht?« fragte ihn Stolz in strengem Tone.

»Ach, Väterchen Andrei Iwanowitsch! Was soll ich machen?« antwortete Sachar mit einem schweren Seufzer. »Wovon soll ich mich ernähren? Früher, solange Anisja noch lebte, da habe ich mich nicht so herumgetrieben; da hatte ich immer ein Stück Brot; aber als sie an der Cholera gestorben war (Gott schenke ihr das Himmelreich!), da wollte der Bruder der gnädigen Frau mich nicht im Hause behalten; er nannte mich einen Tagedieb. Michei Andrejewitsch Tarantjew paßte immer, wenn ich an ihm vorbeikam, die Gelegenheit ab, mir von hinten einen Fußtritt zu versetzen: es war nicht mehr auszuhalten! Wie viele Vorwürfe mußte ich über mich ergehen lassen! Glauben Sie mir, gnädiger Herr, jeder Bissen Brot blieb mir im Halse stecken. Wenn die gnädige Frau nicht gewesen wäre (Gott gebe ihr Gesundheit!)«, fügte Sachar, sich bekreuzend, hinzu, »so wäre ich schon längst in der Kälte umgekommen. Sie gab mir im Winter etwas anzuziehen und Brot, soviel ich wollte, und ein Plätzchen auf dem Ofen, all das gab sie mir aus ihrem guten Herzen. Aber sie fingen an, auch ihr um meinetwillen Vorwürfe zu machen, und da ging ich denn weg, wohin mich meine Füße trugen! Jetzt ist es schon das zweite Jahr, daß ich dieses elende Leben führe . . .«

»Warum hast du nicht eine Stelle angenommen?« fragte Stolz.

»Wo kann denn unsereiner heutzutage eine Stelle finden, Väterchen Andrei Iwanowitsch? Ich bin bei zwei Familien gewesen; aber ich konnte es den Leuten nicht zu Dank machen. Alles ist jetzt anders, nicht mehr so wie früher; es ist schlechter geworden. Sie verlangen als Diener Leute, die lesen und schreiben können; und selbst bei vornehmen Herrschaften ist es nicht mehr so, daß im Vorzimmer ein ganzer Haufe von Dienern sitzt. Sie halten sich alle nur einen, höchstens zwei Diener. Die Stiefel ziehen sie sich selbst aus: sie haben da so eine Maschine erfunden!« fuhr Sachar bekümmert fort. »Es ist eine Schmach und Schande; das edelmännische Wesen verschwindet aus der Welt!«

Er seufzte.

»Da trat ich bei einem Deutschen in den Dienst, einem Kaufmann; ich sollte im Vorzimmer sitzen. Es ging alles gut; aber da stellte er mich am Büfett an! Ist das eine Arbeit für mich? Eines Tages trug ich Glasgeschirr, so böhmisches; aber der Fußboden war so glatt und schlüpfrig, hol' ihn der Teufel! Auf einmal rutschte ich aus, und alle die Gläser, so viele auf dem Präsentierbrett standen, fielen auf die Erde; na, da wurde ich fortgejagt. Ein andermal fand eine alte Gräfin an meinem Äußern Gefallen: ›Er sieht so respektabel aus‹, sagte sie und nahm mich als Portier an. Das ist ein schönes, altertümliches Amt; man sitzt nur mit würdevoller Miene auf einem Stuhle, schlägt ein Bein über das andre und schaukelt langsam damit; und wenn jemand kommt, so antwortet man nicht gleich, sondern schreit ihn zuerst an und dann erst läßt man ihn herein oder packt ihn am Kragen und wirft ihn hinaus, je nachdem es nötig ist. Wenn aber vornehmer Besuch kommt, dann muß man mit dem Stabe salutieren, sehen Sie, so!« (Sachar machte es mit der bloßen Hand vor.) »Das ist eine angenehme Stellung; das kann man nicht anders sagen! Aber die gnädige Frau war so furchtbar heikel, Gott verzeihe es ihr! Einmal warf sie einen Blick in meine Kammer und sah da eine Wanze; da fing sie an, mit den Füßen zu stampfen und zu schreien, als ob ich die Wanzen erfunden hätte. Wo gibt es denn eine Hauswirtschaft ohne Wanzen? Ein andermal ging sie an mir vorbei, und es kam ihr so vor, als ob ich nach Branntwein röche . . . so eine war sie, wahrhaftig! Und da kündigte sie mir.«

»Du riechst aber tatsächlich nach Branntwein, und zwar ganz gehörig!« sagte Stolz.

»Vor Kummer, Väterchen Andrei Iwanowitsch, weiß Gott, vor Kummer!« erwiderte Sachar heiser und zog schmerzlich die Stirn in Falten. »Ich habe auch versucht, als Kutscher zu dienen. Ich vermietete mich bei einem Herrn; aber ich erfror mir die Füße; ich habe nicht Kraft genug, ich bin alt geworden! Und dann war ich an ein so böses Pferd geraten; einmal warf es sich unter den Wagen und zerbrach mir beinah die Knochen; ein andermal überfuhr es eine alte Frau, und ich wurde auf die Polizei gebracht . . .«

»Na, genug davon; gib das Herumtreiben und das Trinken auf und komm zu mir; ich werde dir ein Plätzchen geben; komm mit aufs Land! Hörst du?«

»Ich höre, Väterchen Andrei Iwanowitsch; aber . . .«

Er seufzte.

»Ich möchte nicht von hier fortziehen, von dem Grabe! Ach, unser Wohltäter Ilja Iljitsch!« heulte er. »Ich habe heute wieder für ihn gebetet; Gott gebe ihm das Himmelreich! Solch einen Herrn hat Gott von uns genommen! Er lebte zur Freude der Menschen; er hätte hundert Jahre leben sollen . . .« fügte Sachar schluchzend und die Stirn runzelnd hinzu. »Da war ich heute an seinem Grabe; wenn ich nach dieser Seite komme, dann gehe ich auch immer dorthin, setze mich da hin und sitze da lange; die Tränen laufen mir nur so aus den Augen . . . Manchmal versinke ich ganz in Gedanken; alles ist so still, und da kommt es mir so vor, als riefe er: ›Sachar, Sachar!‹ Und da läuft mir ein Schauer über den Rücken! So einen Herrn gibt es nicht wieder! Und wie lieb hat er Sie gehabt! Gedenke, o Gott, seiner Seele in deinem Reiche!«

»Nun, dann komm wenigstens, um dir den kleinen Andrei anzusehen; ich werde dir Essen und Kleidung geben lassen, und dann magst du tun, was du willst!« sagte Stolz und gab ihm Geld.

»Ich werde kommen; wie sollte ich nicht gern kommen, um Andrei Iljitsch anzusehen? Er ist gewiß schon hübsch groß geworden! O Gott! Welche Freude hat mich Gott erleben lassen! Ich werde kommen, Väterchen; Gott gebe Ihnen eine gute Gesundheit und ein langes, langes Leben . . .« rief Sachar dem davonfahrenden Wagen nach.

»Nun, hast du die Geschichte dieses Bettlers gehört?« sagte Stolz zu seinem Freunde.

»Was war denn das für ein Ilja Iljitsch, von dem er sprach?« fragte der Schriftsteller.

»Oblomow; ich habe dir oft von ihm erzählt.«

»Ja, ich erinnere mich des Namens: er war dein Kamerad und Freund. Was ist denn aus ihm geworden?«

»Er ist zugrunde gegangen, um nichts und wieder nichts.« Stolz seufzte und überließ sich seinen Gedanken.

»Und doch war er nicht dümmer als andere, und seine Seele war rein und klar wie Glas; er war ein vornehmdenkender, zartfühlender Mensch und – ist zugrunde gegangen!«

»Aber warum denn? Was war die Ursache?«

»Die Ursache . . . ja, die Ursache! Die Oblomowerei!« antwortete Stolz.

»Die Oblomowerei!« sprach ihm der Schriftsteller erstaunt nach. »Was ist denn das?«

»Ich werde es dir sogleich erzählen; laß mich nur erst meine Gedanken sammeln und in meinem Gedächtnisse Umschau halten. Du aber schreib es nieder: vielleicht hat jemand davon Nutzen.«

Und er erzählte ihm das, was hier geschrieben steht.

 


 


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