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O Gott, wie trübe und jämmerlich sah es in Oblomows Wohnung anderthalb Jahre nach jenem Namenstage aus, an welchem Stolz unerwartet zu ihm zum Mittagessen gekommen war. Auch Ilja Iljitsch selbst war aufgedunsen, und in seinen Augen hatte sich die Langeweile heimisch gemacht und schaute wie eine Krankheit von dort hervor.
Er pflegte lange im Zimmer auf und ab zu gehen; dann legte er sich hin und blickte nach der Zimmerdecke; er nahm ein Buch von der Etagere, überflog ein paar Zeilen mit den Augen, gähnte und begann mit den Fingern auf dem Tische zu trommeln.
Sachar war noch plumper und unsauberer geworden; seine Ellbogen wiesen Flicken auf; er sah so armselig und hungrig aus, als ob er schlecht äße, wenig schliefe und für drei arbeitete.
Der Schlafrock, welchen Oblomow anhatte, war abgetragen, und wie sorgsam auch die Löcher an ihm zugenäht waren, so ging er doch überall entzwei, und die Nähte waren geplatzt: es wäre schon längst ein neuer nötig gewesen. Die Bettdecke war ebenfalls abgenutzt und stellenweise geflickt; die Fenstervorhänge waren längst verschossen und sahen, obwohl sie gewaschen waren, doch wie alte Lappen aus.
Sachar brachte ein altes Tischtuch herein und deckte es neben Oblomow über die Hälfte des Tisches; dann brachte er vorsichtig, sich auf die Zunge beißend, ein Gedeck mit einer Flasche Branntwein, legte Brot hin und ging wieder hinaus.
Die Tür zur Wohnung der Wirtin öffnete sich, und Agafja Matwjejewna kam herein; sie brachte hurtig eine zischende Pfanne mit Rührei.
Auch sie hatte sich sehr verändert, und nicht zu ihrem Vorteil. Sie war abgemagert. Die runden, weißen, weder errötenden noch erbleichenden Wangen waren nicht mehr da, die spärlichen Augenbrauen glänzten nicht mehr; ihre Augen waren eingesunken.
Sie trug ein altes Kattunkleid; ihre Arme waren von der Arbeit, vom Feuer oder vom Wasser, oder von dem einen und dem andern, dunkel und rauh geworden.
Akulina war nicht mehr im Hause. Anisja war in der Küche und im Gemüsegarten tätig, versorgte die Hühner, scheuerte die Stuben und wusch die Wäsche; aber sie wurde nicht mit allem allein fertig, und Agafja Matwjejewna mußte notgedrungen in der Küche mitarbeiten. Sie hatte jetzt wenig im Mörser zu stoßen, zu sieben und zu reiben; denn es wurde nur ein geringes Quantum Kaffee, Zimt und Mandeln verbraucht, und was Spitzen anlangt, so hatte sie schon längst vergessen, daran auch nur zu denken. Häufiger mußte sie jetzt Zwiebeln schneiden und Meerrettich und ähnliche scharfe Sachen reiben. Auf ihrem Gesichte lag ein Ausdruck von tiefer Niedergeschlagenheit.
Aber nicht um ihretwillen, nicht um ihres Kaffees willen seufzte sie; sie grämte sich nicht darüber, daß sie nicht mehr die Möglichkeit hatte, in größerem Stil tätig zu sein und zu wirtschaften, Zimt zu stoßen, Vanille an die Sauce zu tun oder dicke Sahne aufzukochen, sondern darüber, daß Ilja Iljitsch jetzt schon im zweiten Jahre nichts von alledem zu essen bekam, daß der Kaffee für ihn nicht mehr pudweise aus dem besten Geschäfte entnommen, sondern immer in kleinen Mengen zu zehn Kopeken im Kramladen gekauft wurde, daß die Sahne nicht mehr von einer Finnin gebracht, sondern aus demselben Kramladen geholt wurde, daß sie dem gnädigen Herrn statt eines saftigen Koteletts zum Frühstück nur ein Rührei brachte, das mit hartem Schinken zurechtgemacht war, der im Kramladen schon wer weiß wie lange gelegen hatte.
Woher kam denn das? Das kam daher, daß schon seit länger als einem Jahre die Einkünfte aus Oblomowka, die Stolz regelmäßig schickte, zur Befriedigung der Forderungen verwendet wurden, die auf dem Schuldschein beruhten, welchen Oblomow der Wirtin gegeben hatte.
Die »gesetzliche« Sache des Bruders war über alles Erwarten gut gelungen. Bei der ersten Anspielung Tarantjews auf die skandalöse Angelegenheit wurde Ilja Iljitsch dunkelrot und verlegen; dann kamen sie auf einen gütlichen Vergleich zu sprechen; dann tranken sie alle drei zusammen, und Oblomow unterschrieb einen Schuldschein, der nach vier Jahren fällig sein sollte; einen Monat darauf aber unterschrieb Agafja Matwjejewna einen ebensolchen auf den Namen ihres Bruders lautenden Schuldschein, ohne zu ahnen, was sie da unterschrieb und warum. Der Bruder sagte ihr, das sei ein auf das Haus bezügliches notwendiges Schriftstück und befahl ihr, es zu unterschreiben: »Diesen Schuldschein habe ich« (Stand, Vor- und Familienname) »eigenhändig unterschrieben.«
Sie wurde nur darüber verlegen, daß sie so viel schreiben sollte und bat den Bruder, lieber den kleinen Wanja schreiben zu lassen; der schreibe so hübsch, und sie würde am Ende noch etwas verderben. Aber der Bruder hatte hartnäckig auf seinem Verlangen bestanden, und sie hatte krumm und schief mit plumpen Buchstaben unterschrieben. Weiter war davon nie mehr die Rede gewesen.
Oblomow hatte sich, als er den Schuldschein unterschrieb, zum Teil mit dem Gedanken getröstet, daß dieses Geld den vaterlosen Kindern zugute kommen werde; und als ihm dann am andern Tage der Kopf wieder hell geworden war, hatte er sich voll Scham an diese Sache erinnert, sich bemüht, sie zu vergessen, Begegnungen mit dem Bruder vermieden und, wenn Tarantjew davon zu sprechen anfing, gedroht, er werde unverzüglich aus der Wohnung ausziehen und nach dem Gute fahren.
Als er dann Geld vom Gute empfing, kam der Bruder zu ihm und sagte, es werde für ihn (Ilja Iljitsch) zweckmäßig sein, wenn er sogleich begänne, die Schuld aus den Einkünften zurückzuzahlen; dann werde in drei Jahren die Forderung gedeckt sein. Wenn dagegen der Fälligkeitstermin herankomme und der Schuldschein protestiert werde, so müsse das Gut subtrahiert werden, da Oblomow soviel bares Geld nicht habe und voraussichtlich nie haben werde.
Oblomow merkte, in welchen Schraubstock er geraten war, da alles, was Stolz schickte, zur Bezahlung der Schuld draufging und ihm nur ganz wenig Geld zum Lebensunterhalte übrigblieb.
Der Bruder beeilte sich, damit ihm nicht irgendein Hindernis in die Quere käme, die freiwillige Vereinbarung mit seinem Schuldner im Laufe von zwei Jahren vollständig durchzuführen, und infolgedessen geriet Oblomow plötzlich in eine schwierige Lage.
Anfangs war es ihm nicht sehr fühlbar, dank seiner Gewohnheit, nicht zu wissen, wieviel Geld er in der Tasche hatte; aber Iwan Matwjejewitsch kam auf den Einfall, sich um die Tochter eines Mehlhändlers zu bewerben, mietete sich eine eigene Wohnung, und Agafja Matwjejewnas schwunghafte Wirtschaft kam plötzlich zum Stillstande: der Stör, das weiße, zarte Kalbfleisch und die Puten erschienen nun in einer andern Küche, in Muchojarows neuer Wohnung.
Dort brannten abends viele Kerzen, und es versammelten sich die künftigen Verwandten des Bruders, seine Kollegen und Tarantjew; der ganze Wohlstand befand sich nun dort. Agafja Matwjejewna und Anisja blieben auf einmal mit offenem Munde und müßig herabhängenden Armen bei leeren Kasserollen und Töpfen zurück.
Agafja Matwjejewna erfuhr zum ersten Male, daß sie nur ein Haus, einen Gemüsegarten und Hühner besaß, und daß weder Zimt noch Vanille in ihrem Gemüsegarten wuchsen; sie sah, daß auf den Märkten die Verkäufer allmählich aufhörten, sich lächelnd vor ihr zu verbeugen, und daß diese Verbeugungen und dieses Lächeln nun der neuen, dicken, geputzten Köchin ihres Bruders zuteil wurden.
Oblomow lieferte der Wirtin alles Geld ab, das ihm der Bruder zum Lebensunterhalte beließ, und sie mahlte drei, vier Monate lang gedankenlos wie früher den Kaffee pudweise, stieß Zimt, briet Kalbfleisch und Puten und machte das so bis zum letzten Tage, an dem sie die letzten siebzig Kopeken ausgegeben hatte und nun zu ihm kam, um ihm zu sagen, daß sie kein Geld mehr habe.
Er drehte sich bei dieser Nachricht dreimal auf dem Sofa herum; dann blickte er in seinen Tischkasten hinein: es war kein Geld darin. Er suchte sich zu erinnern, wo er es gelassen habe, vermochte sich aber nicht zu besinnen. Er fuhr mit der Hand über den Tisch, ob nicht Kupfergeld darauf liege; er fragte Sachar: dieser hatte nicht einmal davon geträumt. Sie ging zum Bruder und sagte ihm naiv, es sei kein Geld im Hause.
»Aber wofür habt ihr, du und der vornehme Herr, denn die tausend Rubel ausgegeben, die ich ihm zum Leben gegeben habe?« fragte er. »Wo soll ich denn das Geld hernehmen? Du weißt, daß ich mich verheiraten werde: zwei Familien kann ich nicht unterhalten; du und der gnädige Herr müßt euch nach der Decke strecken.«
»Warum machen Sie mir den Herrn zum Vorwurf, Bruder?« erwiderte sie. »Was tut er Ihnen zuleide? Er rührt niemanden an, sondern lebt still für sich. Nicht ich habe ihn in die Wohnung gelockt, sondern Sie und Michei Andrejewitsch.«
Er gab ihr zehn Rubel und sagte, mehr habe er nicht. Nachdem er aber nachher die Sache mit dem Gevatter im »Etablissement« überlegt hatte, kam er zu der Ansicht, es gehe doch nicht an, die Schwester und Oblomow so im Stich zu lassen; die Sache könne am Ende diesem Stolz zu Ohren kommen, der werde sie überfallen, eine Untersuchung anstellen und ihnen womöglich einen Strich durch die Rechnung machen, so daß sie trotz der »Gesetzlichkeit« der Sache nicht Zeit hätten, die ganze Schuld einzutreiben; er sei ein Deutscher, folglich ein geriebener Patron!
Er traf die Einrichtung, ihnen fünfzig Rubel monatlich zu geben, und nahm sich vor, sich für dieses Geld aus Oblomows Einkünften im dritten Jahre schadlos zu halten; aber dabei erklärte er seiner Schwester, indem er sich sogar verschwor, weiter werde er auch nicht einen Groschen geben; und er rechnete ihr vor, was für einen Tisch sie führen und wie sie die Ausgaben vermindern müßten; er bestimmte sogar, welche Gerichte sie an jedem Tage kochen solle, rechnete aus, wieviel sie für junge Hühner und für Kohl einnehmen könne, und kam zu dem Resultat, daß sie mit alledem recht wohl leben könnten.
Zum erstenmal in ihrem Leben dachte Agafja Matwjejewna nicht über die Wirtschaft, sondern über etwas anderes nach; zum erstenmal weinte sie aus einem andern Grunde als aus Ärger über Akulina, weil sie Geschirr zerschlagen hatte, oder weil der Bruder über den nicht gargekochten Fisch schimpfte; zum erstenmal stand ihr eine drohende Not vor Augen; aber von dieser Not sah sie nicht sich, sondern Ilja Iljitsch bedroht.
»Wie soll dieser gnädige Herr«, dachte sie, »auf einmal statt des Spargels Rüben mit Butter essen, statt der Schneehühner Hammelfleisch, statt der Forellen aus Gatschina und des bernsteinfarbenen Störs Salzzander, vielleicht sogar Sülze aus dem Kramladen?«
Entsetzlich! Sie dachte diesen Gedanken nicht bis zu Ende, sondern zog sich eilig an, nahm eine Droschke und fuhr zu den Verwandten ihres verstorbenen Mannes, nicht zu einem österlichen oder weihnachtlichen Familiendiner, sondern früh morgens, mit Sorgen im Kopfe, um ihnen etwas Ungewöhnliches zu sagen, sie zu fragen, was sie tun solle, und von ihnen Geld zu leihen.
»Die haben viel Geld«, dachte sie; »wenn sie hören, daß es für Ilja Iljitsch ist, werden sie mir sogleich etwas geben.«
Wäre es für sie selbst zu Kaffee oder Tee gewesen oder für die Kinder zu Kleidern oder Schuhen oder anderen ähnlichen Gegenstandes eines Gelüstes – sie würde keinen Ton gesagt haben; so aber befand sie sich in ärgster Notlage und brauchte unumgänglich Geld, um für Ilja Iljitsch Spargel und Schneehühner zu kaufen; auch aß er so gern die kleinen französischen Erbsen . . .
Aber dort war man erstaunt; man gab ihr kein Geld, sondern sagte ihr, wenn Ilja Iljitsch irgendwelche Wertsachen habe, von Gold oder allenfalls auch von Silber, es könnten selbst Pelzsachen sein, so könne er die versetzen; es gebe Wohltäter, die den dritten Teil der erbetenen Summe bis zu der Zeit vergeben würden, wo er wieder Geld vom Gute bekomme. Diese praktische Anweisung würde zu anderer Zeit über den Kopf der genialen Hausfrau hinweggeflogen sein, ohne ihn zu berühren, und man würde sie ihr auf keine Weise haben verständlich machen können; aber jetzt begriff sie sie mit dem Verstande des Herzens, legte sich alles zurecht – und versetzte ihre Perlen, die sie einst als Aussteuer bekommen hatte.
Ilja Iljitsch nahm am andern Tage ahnungslos einen Imbiß vom vorzüglichen Lachs zu sich, wozu er Johannisbeerschnaps trank, und aß sein geliebtes Gekröse und ein frisches Schneehuhn. Agafja Matwjejewna und die Kinder aßen mit den Dienstboten Kohlsuppe und Grütze, und nur um Ilja Iljitsch Gesellschaft zu leisten, trank die Wirtin zwei Tassen Kaffee.
Bald nach den Perlen holte sie aus einem geheimen Kasten ihre Halskette hervor; dann kam das Silberzeug, dann der Pelzmantel an die Reihe . . .
Es kam der Termin heran, an welchem Geld von dem Gute übersandt wurde; Oblomow händigte es ihr vollzählig ein. Sie löste die Perlen aus, bezahlte die Zinsen für die Halskette, das Silber und den Pelz, kochte ihm wieder Spargel, briet ihm Schneehühner und trank nur um des Aussehens willen mit ihm Kaffee. Die Perlen kamen wieder an ihren Platz.
Von einer Woche zur andern, von einem Tage zum andern strengte sie sich über ihre Kräfte an, quälte sich ab und schlug sich kümmerlich durch; sie verkaufte ihren Schal, desgleichen ihr bestes Kleid und ging nun immer in dem kattunenen Alltagskleide, mit nackten Armen, und schlug Sonntags ein altes, abgetragenes Tuch um den Hals.
Dies war der Grund, weshalb sie so abgemagert war, weshalb ihre Augen eingesunken waren, und weshalb sie ihrem Mieter das Frühstück selbst brachte.
Sie fand sogar Mut genug, ein heiteres Gesicht zu machen, wenn Oblomow ihr mitteilte, daß am folgenden Tage Tarantjew oder Alexejew oder Iwan Gerasimowitsch zum Mittagessen kommen würden. Es kam dann ein schmackhaftes, sauber serviertes Essen auf den Tisch. Sie machte dem Gastgeber keine Schande. Aber wie viele Aufregungen, Laufereien, Bitten in den Kramläden, und dann wie viele schlaflose Nächte, ja Tränen kosteten ihr diese Sorgen!
Wie tief war sie auf einmal in die Widerwärtigkeiten des Lebens hineingeraten, und wie gut lernte sie nun nach seinen glücklichen auch seine unglücklichen Tage kennen! Aber sie liebte dieses Leben trotz aller Bitterkeit ihrer Tränen und Sorgen und würde es nicht mit dem früheren stillen Dasein vertauscht haben, als sie Oblomow noch nicht kannte und würdevoll mitten unter gefüllten prasselnden und zischenden Kasserollen, Pfannen und Töpfen herrschte und der Magd Akulina und dem Hausknechte ihre Befehle gab.
Sie fuhr entsetzt zusammen, wenn ihr einmal der Gedanke an den Tod kam, obwohl der Tod mit einem Male ihren nie versiegenden Tränen, ihrer täglichen Lauferei und ihrer nächtlichen Schlaflosigkeit ein Ende gemacht hätte.
Ilja Iljitsch frühstückte, hörte zu, wie Mascha Französisch las, saß ein Weilchen bei Agafja Matwjejewna in deren Zimmer, sah zu, wie sie Wanjas Jacke ausbesserte, die sie dabei wohl zehnmal bald auf die eine, bald auf die andre Seite drehte, und wie sie gleichzeitig fortwährend in die Küche lief, um zuzusehen, wie das Hammelfleisch zum Mittagessen briet, und ob es nicht Zeit sei, die Fischsuppe zu kochen.
»Warum quälen Sie sich immer so ab? Im Ernst!« sagte Oblomow. »Lassen Sie das doch!«
»Wer wird dann die Arbeit machen, wenn ich es nicht tue?« erwiderte sie. »Ich will hier nur noch zwei Flicken aufsetzen, und dann werde ich die Fischsuppe kochen. Was für ein unartiger Junge dieser Wanja ist! In der vorigen Woche habe ich ihm seine Jacke vollständig ausgebessert, und nun ist sie schon wieder zerrissen! Was lachst du?« wandte sie sich an Wanja, der in Hemd und Hosen mit nur einem Hosenträger am Tische saß. »Warte nur, ich werde dir deine Jacke bis morgen früh nicht ausbessern, dann kannst du nicht vors Tor laufen. Gewiß haben die andern Jungen sie dir zerrissen; du hast dich geprügelt: gestehe es nur!«
»Nein, Mamachen, sie ist von selbst zerrissen«, antwortete Wanja.
»So so, von selbst! Du solltest lieber zu Hause sitzen und deine Aufgaben lernen, statt dich auf den Straßen herumzutreiben! Wenn Ilja Iljitsch wieder sagen wird, daß du schlecht Französisch lernst, werde ich dir auch noch die Stiefel wegnehmen; dann wirst du notgedrungen beim Buche sitzen, ob du nun willst oder nicht!«
»Ich mag nicht Französisch lernen.«
»Warum denn nicht?« fragte Oblomow.
»Im Französischen gibt es so viele häßliche Wörter . . .« Agafja Matwjejewna wurde rot, Oblomow lachte. Offenbar war auch früher schon bei ihnen von den »häßlichen Wörtern« die Rede gewesen.
»Schweig still, unartiger Junge!« sagte sie. »Wisch dir lieber die Nase; merkst du das nicht?«
Wanja schnob, wischte sich aber nicht die Nase.
»Warten Sie nur«, mischte sich Oblomow hinein, »wenn ich das Geld von dem Gute bekomme, werde ich ihm zwei Anzüge machen lassen, eine blaue Jacke und für das nächste Jahr eine Uniform; da tritt er ins Gymnasium ein.«
»Na, er kann noch mit dem alten Anzuge gehen«, versetzte Agafja Marwjejewna, »und das Geld brauchen wir für die Wirtschaft. Ich werde Ihnen Fleisch einpökeln und Kompott einkochen . . . Ich muß gehen und nachsehen, ob Anisja auch die Sahne gebracht hat . . .« Sie stand auf.
»Was gibt es denn heute?« fragte Oblomow.
»Fischsuppe von Kaulbars. Hammelbraten und Quarkpasteten.«
Oblomow schwieg.
Auf einmal fuhr eine Kutsche vor; es wurde an das Pförtchen geklopft, und es erscholl das Gebell des an der Kette umherspringenden Hundes.
Oblomow ging in sein Zimmer, weil er dachte, es käme jemand zur Wirtin: der Fleischer, der Gemüsehändler oder eine andre derartige Persönlichkeit. Bei einem solchen Besuche folgten gewöhnlich diese einzelnen Momente aufeinander: Bitten um Geld, abschlägige Antwort von Seiten der Wirtin, dann Drohungen von Seiten des Lieferanten, dann Bitten um Geduld von Seiten der Wirtin, dann Schimpfen, Zuschlagen der Stubentür und des Pförtchens und wütendes Umherspringen und Bellen des Hundes – alles zusammen eine unerquickliche Szene. Aber es war eine Kutsche vorgefahren – was hatte das zu bedeuten? Fleischer und Gemüsehändler kamen nicht in Kutschen.
Auf einmal kam die Wirtin ganz erschrocken zu ihm hereingelaufen. »Sie bekommen Besuch!« sagte sie.
»Wer ist es denn? Tarantjew oder Alexejew?«
»Nein, nein, der Herr, der am Eliastage zum Mittagessen kam.«
»Stolz?« sagte Oblomow aufgeregt und blickte um sich, wohin er verschwinden könnte. »O Gott, was wird er sagen, wenn er sieht . . . Sagen Sie, ich sei weggefahren!« fügte er eilig hinzu und ging in das Zimmer der Wirtin.
Anisja hatte gerade noch Zeit, dem Besucher entgegenzugehen. Stolz wunderte sich, daß Oblomow nicht zu Hause war, glaubte ihr aber.
»Nun, dann bestelle, daß ich in zwei Stunden wiederkommen und mit ihm zu Mittag essen werde!« sagte er und ging in den nahegelegenen öffentlichen Garten.
»Er wird bei uns zu Mittag essen!« bestellte Anisja voll Entsetzen.
»Er wird bei uns zu Mittag essen!« wiederholte Agafja Matwjejewna, zu Oblomow kommend, ängstlich.
»Da müssen wir ein anderes Mittagessen herrichten«, entschied er nach kurzem Stillschweigen.
Sie richtete auf ihn einen Blick voll Entsetzen. Sie hatte nur noch einen halben Rubel, und bis zum Ersten, wo der Bruder ihr wieder Geld gab, war es noch zehn Tage hin. Geborgt bekam sie von niemand mehr etwas.
»Dazu ist keine Zeit mehr, Ilja Iljitsch«, bemerkte sie schüchtern. »Mag er essen, was da ist . . .«
»Das ißt er nicht, Agafja Matwjejewna. Fischsuppe mag er nicht; er ißt sie nicht einmal, wenn sie von Sterlet gekocht ist; und Hammelfleisch nimmt er ebenfalls nicht in den Mund.«
Ich könnte im Wurstgeschäft Zunge nehmen«, sagte sie plötzlich wie infolge einer höheren Eingebung. »Das ist hier in der Nähe.«
»Das ist gut, das geht; und lassen Sie irgendein Gemüse holen, etwa frische Bohnen . . .«
»Bohnen kosten achtzig Kopeken das Pfund!« diese Worte bewegten sich in ihrer Kehle, kamen aber nicht auf die Zunge.
»Schön, das werde ich tun . . .« sagte sie, nahm sich aber vor, die Bohnen durch Kohl zu ersetzen.
»Lassen Sie ein Pfund Schweizerkäse holen«, befahl er, ohne eine Ahnung von Agafja Matwjejewnas Geldnot zu haben; »weiter nichts! Ich werde um Entschuldigung bitten und sagen, wir hätten ihn nicht erwartet . . . Ja, und wenn es möglich ist eine Bouillon.« Sie wollte hinausgehen.
»Und wie ist es mit Wein?« fiel ihm noch plötzlich ein.
Sie antwortete mit einem neuen Blicke des Entsetzens.
»Es muß Lafitte geholt werden«, schloß er kaltblütig.