Iwan Gontscharow
Oblomow
Iwan Gontscharow

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V.

Jetzt oder nie! Diese drohenden Worte klangen Oblomow noch in den Ohren, als er am Morgen erwachte. Er stand vom Bette auf, ging etwa dreimal im Zimmer auf und ab und warf dann einen Blick in den Salon: Stolz saß da und schrieb.

»Sachar!« rief er.

Der Sprung vom Ofen wurde nicht hörbar; Sachar kam nicht: Stolz hatte ihn nach der Post geschickt.

Oblomow trat an seinen verstaubten Tisch heran, setzte sich hin, nahm eine Feder und steckte sie in das Tintenfaß; aber es war keine Tinte darin. Er suchte nach Papier; auch das war nicht vorhanden.

Er versank in Gedanken und begann mechanisch mit dem Finger im Staube zu malen; dann blickte er hin, was er geschrieben hatte: es war das Wort »Oblomowerei« geworden. Er wischte das Geschriebene eilig mit dem Ärmel weg. Von diesem Worte hatte er in der Nacht geträumt; es hatte mit feuriger Schrift an der Wand gestanden wie bei Belsazars Fest.

Sachar kam zurück, und als er Oblomow nicht im Bette fand, blickte er seinen Herrn mit trüben Augen an, erstaunt darüber, daß er schon auf den Beinen war. In diesem stumpfen Blicke des Erstaunens stand geschrieben: »Oblomowerei!«

»Es ist nur ein einziges Wort«, dachte Ilja Iljitsch, »aber was für ein giftiges Wort! . . .«

Sachar nahm wie gewöhnlich den Kamm, die Bürste und das Handtuch und trat an Ilja Iljitsch heran, um ihn zu frisieren.

»Scher dich zum Teufel!« sagte Oblomow und schlug ihm die Bürste aus der Hand, worauf Sachar selbst den Kamm auf den Boden fallen ließ.

»Wollen Sie sich nicht wieder hinlegen?« fragte Sachar. »Dann würde ich Ihnen das Bett zurechtmachen.«

»Bring mir Tinte und Papier!« antwortete Oblomow.

Oblomow dachte über die Worte: »Jetzt oder nie!« nach. Indem er auf diesen energischen Appell an seine Vernunft und an seine Kraft hinhorchte, suchte er sich darüber klarzuwerden und abzuwägen, wieviel Wille ihm noch übriggeblieben sei, und was er mit diesem spärlichen Reste anfangen, wozu er ihn verwenden solle.

Nach qualvollem Nachdenken ergriff er die Feder, holte aus einer Ecke ein Buch herbei und wollte in einer Stunde all das lesen, schreiben und durchdenken, was er in zehn Jahren nicht gelesen, geschrieben und durchdacht hatte.

Was sollte er jetzt tun? Vorwärtsgehen oder stehenbleiben? Diese Oblomowsche Frage war für ihn tiefsinniger als die Hamletsche. Vorwärtsgehen, das bedeutete, auf einmal den bequemen Schlafrock nicht nur von den Schultern, sondern auch von der Seele, vom Verstande abwerfen; wie den Staub und die Spinnweben von den Wänden, so auch zugleich die Spinnweben von den Augen wegfegen und sehend werden!

»Welches ist der erste Schritt, den ich dazu tun muß? Womit muß ich anfangen? Ich weiß es nicht, ich kann es nicht . . . nein, das sind Ausflüchte, ich weiß es, und . . . Und auch Stolz ist da, ganz in der Nähe; der wird es mir sogleich sagen.

Aber was wird er mir sagen? Er wird mir sagen, ich solle binnen einer Woche eine detaillierte Instruktion für einen Bevollmächtigten entwerfen und ihn nach dem Gute schicken; ich solle eine Hypothek auf Oblomowka aufnehmen, noch Land dazukaufen, einen Plan der Neubauten hinsenden, die Wohnung räumen, mir einen Paß ausstellen lassen und auf ein halbes Jahr ins Ausland fahren, mich von dem überflüssigen Fette befreien, die Schwerfälligkeit abwerfen, meine Seele durch jene Luft erfrischen, von der ich manchmal mit ihm phantasiert habe, ohne Schlafrock, ohne Sachar und ohne Tarantjew leben, mir selbst die Strümpfe und die Stiefel an- und ausziehen, nur nachts schlafen, dahin fahren, wohin alle fahren, auf Eisenbahnen und Dampfschiffen. Dann . . . dann, wird er sagen, solle ich mich in Oblomowka niederlassen, mir Kenntnis davon verschaffen, was Aussaat und Korndrusch sind, wovon der Bauer arm und reich wird; ich solle aufs Feld gehen, zu den Wahlen, nach der Fabrik, nach der Mühle, nach dem Anlegeplatze fahren. Zu gleicher Zeit solle ich Zeitungen und Bücher lesen, mir darüber Gedanken machen, warum die Engländer ein Schiff nach dem Osten geschickt hätten . . .

Das ist's, was er sagen wird! Das ist's, was vorwärtsgehen bedeutet . . . Und so das ganze Leben lang! Lebe wohl, du poetisches Ideal des Lebens! Das ist eine Art Schmiede, kein Leben; da ist ein fortwährend loderndes Feuer, pochende Hämmer, Hitze, Lärm . . . wann soll man denn da leben? Ist es da nicht besser stehenzubleiben?«

Stehenzubleiben, das bedeutete: das Hemd verkehrt anziehen, hören, wie Sachar mit den Beinen von der Ofenbank sprang, mit Tarantjew zu Mittag essen, an alles möglichst wenig denken, die Reise nach Afrika nicht zu Ende lesen, friedlich in der Wohnung bei Tarantjews Gevatterin altern . . .

»Jetzt oder nie! Sein oder nicht sein!« Oblomow schickte sich schon an, sich von dem Sessel zu erheben, traf aber mit dem Fuße nicht gleich in den Pantoffel hinein und setzte sich wieder hin.

Nach vierzehn Tagen reiste Stolz schon nach England ab; Oblomow hatte ihm sein Wort darauf geben müssen, direkt nach Paris zu fahren. Ilja Iljitsch besaß bereits einen fertigen Paß; er hatte sich sogar einen Reisepaletot bestellt und sich eine Mütze gekauft. Soweit war die Sache gediehen.

Sachar bewies schon scharfsinnig, daß es ausreichend sei, ein Paar neue Stiefel anfertigen und ein anderes Paar besohlen zu lassen. Oblomow kaufte sich eine Reisedecke, eine wollene Unterjacke und ein Reisenecessaire; er wollte sich auch einen Sack für Eßwaren kaufen; aber ein Dutzend Leute versicherten ihm, daß man ins Ausland keine Eßwaren mitzunehmen brauche.

Sachar rannte, in Schweiß gebadet, bei den Handwerkern und in den Läden umher, und obgleich er viele Zehn- und Fünfkopekenstücke von dem in den Läden herausbekommenen Gelde in seine Tasche steckte, so verfluchte er doch Andrei Iwanowitsch und alle, die das Reisen erfunden hätten.

»Was wird er da alleine anfangen?« sagte er im Laden. »Es heißt, daß die Herren da immer von Mädchen bedient werden. Aber wie soll ihm ein Mädchen die Stiefel ausziehen? Und wie wird ein Mädchen dem Herrn die Strümpfe auf die nackten Beine ziehen? . . .«

Er lächelte sogar, so daß sein Backenbart sich seitwärts in die Höhe zog, und schüttelte mit dem Kopfe. Oblomow ließ es sich nicht verdrießen, aufzuschreiben, was er mitnehmen und was er zu Hause lassen wollte. Tarantjew wurde beauftragt, die Möbel und die andern Sachen in die Wohnung bei der Gevatterin auf der Wyborger Seite zu schaffen, sie in drei Zimmern unter Verschluß zu halten und bis zu Oblomows Rückkehr aus dem Auslande aufzubewahren.

Schon sagten von Oblomows Bekannten manche zweifelnd, andere lachend, wieder andere gewissermaßen erschrocken: »Er will wegfahren; denken Sie sich nur: Oblomow hat sich vom Flecke gerührt!«

Aber Oblomow fuhr weder nach einem Monat noch nach drei Monaten weg.

Am Tage vor der Abreise schwoll ihm in der Nacht die Lippe an. »Eine Fliege hat mich gebissen; ich kann doch nicht mit einer solchen Lippe auf die See gehen!« sagte er und wollte einen andern Dampfer abwarten. Es war bereits August; Stolz befand sich schon längst in Paris und schrieb ihm zornige Briefe, bekam aber keine Antwort.

Warum bekam er keine Antwort? Wohl weil in Oblomows Tintenfaß die Tinte eingetrocknet war und er kein Papier hatte? Oder vielleicht weil in Oblomows Stil die Wörtchen »welcher« und »daß« sich oft zu bald wiederholten, oder endlich weil Ilja Iljitsch angesichts der bedrohlichen Alternative: »Jetzt oder nie!«, bei dem letzteren stehengeblieben war, die Hände unter den Kopf legte und Sachar sich vergebens bemühte, ihn zu wecken?

Nein, sein Tintenfaß war voller Tinte; auf dem Tische lag Papier, sogar Stempelpapier, und überdies von seiner Hand vollgeschrieben.

Wenn er ein paar Seiten geschrieben hatte, so hatte er niemals das Wort »welcher« zweimal dicht hintereinander gebraucht; sein Stil hatte einen freien Fluß und war stellenweise von ausdrucksvoller Energie und rhetorischer Schönheit, wie in jenen Tagen, als er mit seinem Freunde Stolz von einem arbeitsvollen Leben und von weiten Reisen geträumt hatte.

Er stand der Regel nach um sieben Uhr auf, las und trug seine Bücher irgendwohin. Auf seinem Gesichte war weder Schläfrigkeit, noch Müdigkeit, noch Langeweile zu sehen. Es hatte sogar lebhaftere Farben angenommen; die Augen hatten Glanz gewonnen, und es prägte sich in ihnen eine Art von Kühnheit oder wenigstens von Selbstvertrauen aus. Den Schlafrock sah man nicht mehr an seinem Leibe; Tarantjew hatte ihn mit den übrigen Sachen zu der Gevatterin geschafft.

Oblomow saß mit einem Buche da oder schrieb in einer Hausjoppe; um den Hals hatte er ein leichtes Tuch geschlungen, über welches der schneeweiße Hemdkragen herüberfiel. Wenn er ausging, trug er einen gut gearbeiteten Rock und einen eleganten Hut . . . Er war vergnügt und sang . . . Woher kam das? . . .

Da saß er am Fenster seiner Sommerwohnung (er wohnte in einem Landhause, einige Werst von der Stadt); neben ihm lag ein Blumenbukett. Er schrieb hurtig etwas fertig, blickte dabei fortwährend durch die Büsche nach dem Steige hin und schrieb wieder eilig weiter.

Auf einmal knirschte auf dem Steige der Sand unter leichten Schritten; Oblomow warf die Feder hin, ergriff das Bukett und lief zum Fenster.

»Sind Sie es, Olga Sergejewna? Sofort, sofort!« sagte er, ergriff seine Mütze und sein Spazierstöckchen, lief zur Pforte, reichte einem schönen Mädchen den Arm und verschwand mit ihr im Walde, im Schatten der gewaltigen Tannen . . .

Sachar kam aus irgendwelchem Winkel hervor, sah ihm nach, schloß das Zimmer zu und ging in die Küche.

»Er ist weggegangen!« sagte er zu Anisja.

»Wird er zum Mittagessen hier sein?«

»Wer kann's wissen?« antwortete Sachar schläfrig.

Sachar war unverändert geblieben: er hatte noch denselben gewaltigen Backenbart, das unrasierte Kinn, dieselbe graue Weste und das Loch im Rock; aber er war mit Anisja verheiratet, sei es infolge eines Bruches mit der Gevatterin oder bloß so infolge seiner Anschauung, daß der Mensch verheiratet sein müsse; er hatte sich verheiratet, sich aber dem Sprichworte zum Trotz nicht verändert.

Stolz hatte Oblomow mit Olga und ihrer Tante bekannt gemacht. Als Stolz Oblomow zum erstenmal zu Olgas Tante ins Haus brachte, waren dort Gäste. Oblomow fühlte sich wie gewöhnlich bedrückt und unbehaglich.

»Es wäre gut, wenn man sich die Handschuhe ausziehen könnte«, dachte er. »Es ist ja warm im Zimmer. Wie sehr ich mich all dieser Dinge entwöhnt habe!«

Stolz setzte sich neben Olga, die allein unter der Lampe abseits vom Teetisch saß, den Rücken gegen den Sessel lehnte und an dem, was um sie herum vorging, wenig teilnahm.

Sie freute sich sehr über sein Kommen; wenn auch ihre Augen nicht in lebhaftem Glanze aufleuchteten und ihre Wangen sich nicht mit flammender Röte überzogen, so verbreitete sich doch eine gleichmäßige, ruhige Helligkeit über ihr ganzes Gesicht, und es wurde auf ihm ein Lächeln sichtbar. Sie nannte ihn ihren Freund und mochte ihn gern, weil er sie immer zum Lachen brachte und ihr die Langeweile vertrieb; aber sie fürchtete sich auch ein bißchen vor ihm, weil sie sich ihm gegenüber gar zu sehr als Kind vorkam.

Wenn in ihrem Geiste eine Frage, ein Zweifel auftauchte, so konnte sie sich nicht sofort entschließen, ihm das anzuvertrauen: er war ihr zu weit voraus, stand zu hoch über ihr, so daß ihr Ehrgefühl manchmal unter dieser Unreife und unter dem Abstand zwischen ihrem und Stolzens Verstande und Lebensalter litt.

Stolz hatte an ihr ebenfalls eine uneigennützige Freude als an einem wundervollen Geschöpfe mit einer erquickenden Frische des Verstandes und der Empfindung. Sie war in seinen Augen nur ein reizendes, zu den größten Hoffnungen berechtigendes Kind.

Indes redete er mit ihr lieber und häufiger als mit anderen Frauen, weil sie, wenn auch unbewußt, einen einfachen, natürlichen Lebensweg verfolgte und dank ihrer glücklichen Naturanlage sowie dank ihrer vernünftigen, ungekünstelten Erziehung sich nicht scheute, ihre Gedanken, ihre Gefühle und ihren Willen in natürlicher Weise zu äußern, was sich sogar bis auf die kleinsten, kaum wahrnehmbaren Bewegungen der Augen, Lippen und Hände erstreckte.

Vielleicht verfolgte sie diesen Weg gerade deshalb mit solcher Sicherheit, weil sie mitunter neben sich andere, noch sichrere Schritte, die Schritte ihres »Freundes« hörte, dem sie vertraute, und dessen Schritten sie die ihrigen anpaßte.

Wie dem auch sein mochte, war es doch eine Seltenheit, bei einem Mädchen eine solche Einfachheit und natürliche Freiheit des Blickes, der Rede und des Benehmens zu finden. Man las nie in ihren Augen: »Jetzt will ich einmal die Lippe ein wenig einziehen und ein nachdenkliches Gesicht machen – das steht mir gut. Ich werde dorthin blicken, erschrocken tun und leicht aufschreien; dann werden alle sofort zu mir gelaufen kommen. Ich werde mich ans Klavier setzen und die Fußspitze ein klein wenig vorstrecken . . .« Weder Ziererei, noch Koketterie, noch Unwahrheit, noch Blendwerk, noch Absichtlichkeit, nichts derartiges hatte sie an sich! Die Folge davon war, daß Stolz fast der einzige war, der sie zu schätzen wußte, und daß sie bei mancher Masurka ohne einen Tänzer sitzen blieb, wobei sie dann ihren Verdruß nicht verbarg, und daß bei ihrem Anblicke die liebenswürdigsten jungen Männer ihre Redegewandtheit verloren, da sie nicht wußten, was und wie sie mit ihr sprechen sollten . . .

Die einen hielten sie für einfältig, beschränkt und oberflächlich, weil weder weise Sentenzen über das Leben und über die Liebe, noch rasche, unerwartete, kecke Erwiderungen, noch aus Büchern geschöpfte oder im Gespräche aufgefangene Urteile über Musik und Literatur von ihren Lippen strömten; sie sprach wenig, nur Eigenes, nicht Bedeutsames – und daher mieden die klugen, gewandten »Kavaliere« sie; die ungewandten dagegen hielten sie für gar zu klug und fürchteten sich ein bißchen vor ihr. Nur Stolz redete mit ihr, ohne je zu verstummen, und brachte sie zum Lachen.

Sie liebte die Musik, sang aber meist nur, wenn niemand oder nur Stolz oder eine Freundin aus der Pensionszeit zugegen war; sie sang aber nach Stolzens Worten besser als die beste berufsmäßige Sängerin.

Kaum hatte Stolz sich damals neben sie gesetzt, als sie das Zimmer mit einem Lachen erfüllte, das so klangvoll, herzlich und ansteckend war, daß jeder, der es hörte, unfehlbar selbst anfing zu lachen, ohne den Grund zu kennen.

Aber Stolz brachte sie nicht dauernd zum Lachen: nach einer halben Stunde hörte sie ihm interessiert zu und richtete ihre Augen mit verdoppelter Neugier auf Oblomow; Oblomow aber wäre unter diesen Blicken am liebsten in die Erde versunken.

»Was reden die da über mich?« dachte er und warf voll Unruhe einen schrägen Blick nach ihnen. Er wollte schon fortgehen; aber Olgas Tante rief ihn an den Tisch heran und wies ihm einen Platz neben sich an, unter dem Kreuzfeuer der Blicke aller Gäste.

Er wandte sich ängstlich nach Stolz um, aber der war nicht mehr da; er schaute nach Olga hin und begegnete ihrem immer noch mit derselben Neugier auf ihn gerichteten Blicke. »Sie sieht mich immer noch an!« dachte er und musterte verlegen seinen Anzug.

Er fuhr sich sogar mit dem Taschentuche über das Gesicht, weil er dachte, er hätte vielleicht einen Fleck auf der Nase; er berührte seine Krawatte, ob sie auch nicht aufgegangen sei, was ihm manchmal passierte; nein, es schien alles in Ordnung zu sein, und doch sah sie ihn an!

Aber der Diener reichte ihm eine Tasse Tee und hielt ihm ein Präsentierbrett mit Brezeln hin. Er wollte seine Verlegenheit unterdrücken und sich ungeniert zeigen und nahm Biskuits und Brezeln, daß ein junges Mädchen, welches neben ihm saß, loslachte. Auch andere betrachteten den Haufen Gebäck mit Neugierde.

»Mein Gott, auch sie sieht her!« dachte Oblomow. »Was soll ich nur mit diesem Haufen anfangen?«

Ohne hinzusehen, bemerkte er, daß Olga von ihrem Platze aufstand und nach einer anderen Ecke ging. Es fiel ihm ein Stein vom Herzen.

Das junge Mädchen aber blickte ihn höchst gespannt an und wartete, was er mit den Zwiebacken machen werde.

»Ich will sie möglichst schnell aufessen«, dachte er und begann, hurtig die Biskuits zu vertilgen; zum Glück zerschmolzen sie ihm ordentlich im Munde. Es blieben nur zwei Zwiebacke übrig; er seufzte befreit auf und wagte es, dahin zu blicken, wohin Olga gegangen war . . .

O Gott! Sie stand neben einer Büste, auf deren Sockel sie sich stützte, und beobachtete ihn. Sie war, wie es schien, aus ihrer Ecke nur in der Absicht fortgegangen, ungenierter nach ihm hinsehen zu können: sie hatte seine Ungeschicklichkeit mit den Zwiebacken bemerkt.

Beim Abendessen saß sie am andern Ende des Tisches, redete, aß und schien sich gar nicht mit ihm zu beschäftigen. Aber sowie Oblomow sich ängstlich nach ihrer Seite hinwandte in der Hoffnung, daß sie wohl nicht nach ihm hinsehe, begegnete er ihrem neugierigen, aber zugleich herzensguten Blicke . . .

Oblomow verabschiedete sich nach dem Abendessen eilig von der Tante: sie lud ihn für den folgenden Tag zum Mittagessen ein und bat ihn, diese Einladung auch seinem Freunde Stolz zu übermitteln. Ilja Iljitsch verbeugte sich und schritt, ohne die Augen aufzuschlagen, durch den ganzen Saal. Gleich hinter dem Flügel befand sich ein Wandschirm und die Tür. Er blickte auf – am Flügel saß Olga und sah ihn mit der größten Neugier an. Es kam ihm so vor, als ob sie lächelte.

»Gewiß hat ihr Andrei erzählt, daß ich gestern verschiedene Strümpfe anhatte und das Hemd verkehrt trug!« dachte er und fuhr arg verstimmt nach Hause, sowohl wegen dieser Vermutung als auch in noch höherem Grade wegen der Einladung zum Mittagessen, die er mit einer Verbeugung beantwortet, also angenommen hatte.

Von diesem Augenblicke an kam ihm Olgas beharrlicher Blick nicht aus dem Sinne. Vergeblich legte er sich seiner ganzen Länge nach auf den Rücken; vergeblich nahm er die trägsten, ruhigsten Stellungen ein – er konnte nicht einschlafen, schlechterdings nicht. Auch sein Schlafrock war ihm zuwider, und Sachar kam ihm dumm und unausstehlich vor und der Staub und die Spinnweben unerträglich.

Er befahl, ein paar elende Bilder hinauszuschaffen, die ihm ein Protektor armer Künstler aufgedrängt hatte, brachte selbst ein Rouleau in Ordnung, das schon seit langer Zeit nicht mehr in die Höhe gegangen war, rief Anisja, befahl ihr, die Fenster zu putzen, und fegte selbst die Spinnweben ab – aber dann legte er sich auf die Seite und dachte eine Stunde lang an Olga.

Er beschäftigte sich zunächst anhaltend mit ihrem Äußern und entwarf beharrlich in der Erinnerung ihr Porträt.

Olga war keine Schönheit im strengen Sinne des Wortes, das heißt, sie hatte keine blendend weiße Hautfarbe und keine rosenfarbenen Wangen, auch sprühten aus ihren Augen nicht Strahlen eines inneren Feuers; ihre Lippen glichen nicht Korallen, ihre Zähne nicht Perlen; ihre Hände waren nicht von miniaturhafter Kleinheit wie bei einem fünfjährigen Kinde, mit rundlich gedrechselten Fingern.

Aber wenn man sie in eine Statue verwandelt hätte, so wäre sie eine Statue voller Anmut und Ebenmaß gewesen. Ihrem ziemlich hohen Wuchse entsprach genau die Größe des Kopfes, der Größe des Kopfes das Oval und die Dimensionen des Gesichtes; all dies zusammen harmonierte seinerseits mit den Schultern, und die Schultern mit der Taille . . .

Jeder, der ihr begegnete, mochte er auch zerstreut sein, blieb einen Augenblick vor diesem gleichsam mit streng künstlerischer Überlegung geschaffenen Wesen stehen.

Diese Nase bildete eine kaum merklich gekrümmte, anmutige Linie; die feinen Lippen waren meist geschlossen, ein Zeichen ununterbrochen auf etwas gerichteter Denktätigkeit. Von dem Vorhandensein einer regen Denktätigkeit zeugte auch der helle, scharfe, immer lebhafte, nichts unbeachtet lassende Blick der dunklen graublauen Augen. Die Brauen verliehen den Augen eine besondere Schönheit: sie waren nicht bogenförmig, umgaben die Augen nicht wie zwei schmale, mit den Fingern zurechtgezupfte Fädchen – nein, sie waren zwei dunkelblonde, flaumige, fast gerade Streifen, die nur selten symmetrisch lagen: der eine war meist um eine Linie höher als der andre, und infolgedessen lag über der Braue eine kleine Falte, die so aussah, als ob in ihr ein Gedanke ruhte.

Olga ging mit ein wenig nach vorn gebeugtem Kopfe, der ebenmäßig und vornehm auf dem schlanken, stolzen Halse ruhte; sich mit dem ganzen Körper gleichmäßig bewegend, schritt sie leicht, fast unhörbar einher . . .

»Warum hat sie gestern so unverwandt nach mir hingesehen?« dachte Oblomow. »Andrei schwört, er habe von den Strümpfen und dem Hemde noch nichts gesagt, sondern nur von seiner Freundschaft mit mir gesprochen, davon, wie wir zusammen aufgewachsen seien und zusammen gelernt hätten, nur von solchen schönen Dingen. Und dabei habe er auch erzählt, wie unglücklich ich sei, wie alles Gute in mir infolge des Mangels an regem Interesse und an Tätigkeit zugrunde gehe, wie schwach mein Lebenslicht glimme, und wie . . .«

»Worüber hat sie denn gelächelt?« dachte Oblomow weiter. »Wenn sie nur ein bißchen Herz besäße, so müßte es ihr bluten und weh tun vor Mitleid; aber sie . . . nun, Gott verzeihe es ihr! Ich will nicht mehr an sie denken! Ich will nur noch heute zum Mittagessen hinfahren und dann keinen Fuß mehr über ihre Schwelle setzen.«

Es verging ein Tag nach dem andern – und er war mit beiden Füßen dort und mit den Händen und mit dem Kopfe.

Eines schönen Morgens transportierte Tarantjew Oblomows ganzen Hausrat nach der Wyborger Seite in eine Seitenstraße zu seiner Gevatterin, und Oblomow verbrachte drei Tage in einer Art, wie es bei ihm lange nicht vorgekommen war: ohne Bett und ohne Sofa; zu Mittag aß er bei Olgas Tante.

Auf einmal stellte sich heraus, daß dem Landhause der beiden Damen gegenüber ein anderes Landhaus frei war. Oblomow mietete es unbesehen und wohnte nun dort. Mit Olga war er vom Morgen bis zum Abend zusammen; er las ihr vor, schickte ihr Blumen und ging mit ihr am See und in den Bergen spazieren . . . er, Oblomow!

Was passiert nicht alles in der Welt! Wie hatte das nur zustande kommen können? Der Hergang war folgender gewesen:

Als er mit seinem Freunde bei Olgas Tante zu Mittag aß, litt er bei Tische dieselben Folterqualen wie tags zuvor; er aß und redete in dem Bewußtsein und Gefühle, daß ihr Blick wie eine Sonne über ihm stand, ihn versengte, beunruhigte, seine Nerven und sein Blut in Aufregung versetzte. Nur dadurch, daß er sich auf den Balkon zurückzog, um eine Zigarre zu rauchen, gelang es ihm mit Not und Mühe, sich für eine Weile vor diesem stummen, beharrlichen Blicke zu verbergen.

»Was stellt das vor?« sagte er sich selbst, indem er sich nach allen Seiten hin und her drehte. »Das ist ja eine Pein! Macht sie sich etwa über mich lustig? Sie sieht keinen andern so an: das wagt sie nicht. Ich bin demütiger, darum tut sie es bei mir . . . Ich werde mit ihr reden!« beschloß er. »Ich will ihr lieber selbst mit Worten das sagen, was sie mit ihren Augen mir ordentlich aus der Seele herauszieht.«

Auf einmal erschien sie vor ihm auf der Schwelle des Balkons; er rückte ihr einen Stuhl zurecht, und sie setzte sich neben ihn. »Ist es wahr, daß Sie sich zu Hause sehr langweilen?« fragte sie ihn.

»Ja, es ist wahr«, antwortete er, »nur nicht sehr . . . Ich habe meine Beschäftigungen.«

»Andrei Iwanowitsch hat mir gesagt, Sie seien dabei, einen Plan zu entwerfen?«

»Ja, ich will auf mein Gut fahren und dort wohnen; da bereite ich mich denn allmählich darauf vor.«

»Werden Sie auch ins Ausland fahren?«

»Ja, unbedingt; sowie Andrei Iwanowitsch fertig sein wird.«

»Fahren Sie gern hin?« fragte sie.

»Ja, sehr gern . . .«

Er sah sie an: ein Lächeln glitt über ihr Gesicht; bald erleuchtete es die Augen, bald verbreitete es sich über die Wangen; nur die Lippen blieben geschlossen wie immer. Er hatte nicht den Mut, richtig zu lügen.

»Ich bin ein wenig träg«, sagte er; »aber . . .«

Gleichzeitig ärgerte er sich darüber, daß sie mit solcher Leichtigkeit, beinahe schweigend, ihm das Geständnis seiner Trägheit entlockt hatte. »Was ist sie mir denn? Fürchte ich mich etwa vor ihr?« dachte er.

»Träge!« erwiderte sie mit kaum merklicher Schelmerei. »Ist das möglich? Ein Mann ist träge? Das verstehe ich nicht.«

»Was ist dabei unverständlich?« dachte er. »Das scheint doch eine einfache Sache zu sein.« Und laut sagte er: »Ich sitze meist zu Hause, daher denkt Andrei, daß ich . . .«

»Aber wahrscheinlich schreiben und lesen Sie viel«, sagte sie. »Ja, da würde ich Sie gern nach einigen Büchern fragen, ob Sie die gelesen haben . . .«

Dabei sah sie ihn unverwandt an.

»Nein, ich habe sie nicht gelesen«, entfuhr es ihm plötzlich vor Angst, sie könnte sich beikommen lassen, ihn zu examinieren.

»Was denn?« fragte sie lachend. Auch er lachte.

»Ich glaubte, Sie wollten mich nach irgendwelchen Romanen fragen; ich lese keine Romane.«

»Nein, da haben Sie falsch geraten. Ich wollte Sie nach Reisebeschreibungen fragen . . .«

Er blickte sie scharf an; ihr ganzes Gesicht lachte, nur die Lippen nicht.

»Oh!« dachte Oblomow. »Das ist eine . . . mit der muß man sich in acht nehmen . . .«

»Was lesen Sie denn?« fragte sie neugierig.

»Ich habe gerade Reisebeschreibungen am liebsten.«

»Von Reisen nach Afrika?« fragte sie leise in schelmischem Tone.

Er wurde rot, da er nicht ohne Grund vermutete, daß ihr nicht nur bekannt war, was er las, sondern auch wie er las.

»Sind Sie musikalisch?« fragte sie, um ihm über die Verlegenheit hinwegzuhelfen.

In diesem Augenblicke trat Stolz zu ihnen heran.

»Ilja, ich habe Olga Sergejewna erzählt, daß du die Musik leidenschaftlich liebst, und sie gebeten, etwas zu singen . . . etwa Casta diva

»Warum verleumdest du mich denn?« antwortete Oblomow. »Ich liebe die Musik durchaus nicht leidenschaftlich . . .«

»Was sagen Sie dazu?« unterbrach ihn Stolz. »Er fühlt sich beleidigt, wie es scheint! Ich stelle ihn als einen anständigen Menschen dar, und er beeilt sich, die dadurch erweckte günstige Meinung zu seinem Schaden wieder zu zerstören!«

»Ich lehne nur die Rolle eines Musikliebhabers ab; das ist eine bedenkliche, schwierige Rolle!«

»Welche Musik gefällt Ihnen denn am besten?« fragte Olga.

»Das ist eine schwer zu beantwortende Frage: jede Musik! Manchmal höre ich mit Vergnügen einen heiseren Leierkasten an, der eine Melodie spielt, die mir im Gedächtnis haften geblieben ist; ein andermal gehe ich mitten aus einer Oper fort; dann wieder ergreift mich Meyerbeer oder sogar das Lied eines Kahnschiffers: das kommt ganz auf die Stimmung an! Mitunter halte ich mir auch bei Mozarts Musik die Ohren zu . . .«

»Also lieben Sie die Musik wahrhaft.«

»Singen Sie uns doch etwas, Olga Sergejewna!« bat Stolz.

»Aber wenn sich nun Monsieur Oblomow in solcher Stimmung befindet, daß er sich die Ohren zuhält?« sagte sie, sich zu ihm wendend.

»Jetzt müßte ich irgendein Kompliment sagen«, erwiderte Oblomow. »Aber ich verstehe mich nicht darauf, und wenn ich mich auch darauf verstände, so würde ich es doch nicht wagen . . .«

»Warum denn nicht?«

»Wenn Sie nun schlecht sängen?« antwortete Oblomow naiv. »Dann käme ich doch in Verlegenheit . . .«

»Wie gestern mit den Zwiebäcken . . .« entfuhr es ihr plötzlich; sie errötete selbst und hätte Gott weiß was darum gegeben, es nicht gesagt zu haben. »Verzeihen Sie, ich war unartig! . . .« sagte sie.

Oblomow hatte dergleichen nicht erwartet und verlor die Fassung.

»Das ist ein boshafter Verrat!« sagte er halblaut.

»Nein, höchstens eine kleine Rache und zudem, weiß Gott, eine unbeabsichtigte, dafür, daß Sie nicht einmal ein Kompliment für mich finden konnten.«

»Vielleicht werde ich eines finden, wenn ich Sie singen höre.«

»Also wünschen Sie, daß ich singe?« fragte sie.

»Nein, der hier wünscht es«, antwortete Oblomow, auf Stolz zeigend.

»Und Sie?«

Oblomow schüttelte verneinend den Kopf.

»Ich kann nicht etwas wünschen, was ich nicht kenne.«

»Du bist ein Grobian, Ilja!« bemerkte Stolz. »Das kommt davon, wenn man zu Hause herumliegt und Strümpfe anzieht, die . . .«

»Ich bitte dich, Andrei«, unterbrach ihn Oblomow lebhaft, um ihn nicht ausreden zu lassen; »es würde mich ja nichts kosten zu sagen: »Ach, ich werde mich sehr freuen, ich werde glücklich sein; Sie singen gewiß ausgezeichnet«, fuhr er, sich zu Olga wendend, fort; »›das wird mir einen außerordentlichen Genuß bereiten‹, und so weiter. Aber ist das denn nötig?«

»Aber Sie könnten wenigstens aus Neugierde den Wunsch aussprechen, daß ich sänge.«

»Das wage ich nicht«, antwortete Oblomow; »Sie sind keine Schauspielerin.«

»Nun, dann werde ich für Sie singen«, sagte sie zu Stolz.

»Ilja, bereite ein Kompliment vor.«

Unterdessen war es Abend geworden. Die Lampe wurde angezündet; sie schimmerte durch das mit Efeu umrahmte Gitterwerk hindurch, wie wenn sie der Mond wäre. Die Dämmerung verbarg die Umrisse des Gesichtes und der Gestalt Olgas und warf gleichsam einen Florschleier um sie; ihr Gesicht war im Schatten; man hörte nur die weiche, aber kräftige Stimme, die vor Empfindung nervös zitterte.

Sie sang viele Arien und Lieder, die Stolz ihr angab; in manchen kam Leid zum Ausdruck, mit einer unklaren Ahnung von Glück, in anderen Freude; aber in den Tönen dieser Lieder lag schon ein Keim der Traurigkeit verborgen.

Die Worte des Textes, die Melodien und diese reine, kräftige Mädchenstimme bewirkten, daß dem Hörer das Herz stärker schlug, die Nerven zitterten, die Augen glänzten und sich mit Tränen füllten. Man wäre am liebsten gestorben und nach diesen Tönen nicht mehr erwacht; aber doch dürstete fast in demselben Augenblicke das Herz wieder danach zu leben . . .

Oblomow flammte auf, wurde ganz matt, hielt mit Mühe die Tränen zurück, und noch schwerer wurde es ihm, den freudigen Aufschrei zu unterdrücken, der sich aus seiner Seele losringen wollte. Seit langer Zeit hatte er nicht mehr eine solche Frische und eine solche Kraft in sich gefühlt; diese Kraft schien aus dem tiefsten Grunde seiner Seele heraufzusteigen und sich in einer Großtat bekunden zu wollen.

Er wäre in diesem Augenblicke sogar ins Ausland gereist, wenn er dazu nichts weiter hätte zu tun brauchen als sich hinzusetzen und abzufahren.

Zum Schlusse sang sie Casta diva. Durch alle die Empfindungen des Entzückens, durch die blitzartig ihm durch den Kopf gehenden Gedanken, durch das Zittern, das ihm wie Nadelstiche über den Leib lief – durch all dies war Oblomow wie vernichtet, seine Kraft war erschöpft.

»Sind Sie heute mit mir zufrieden?« fragte Olga plötzlich Stolz, als sie aufgehört hatte zu singen.

»Fragen Sie Oblomow, was er dazu sagt«, erwiderte Stolz.

»Ach!« rief dieser unwillkürlich.

Er ergriff auf einmal Olga bei der Hand, ließ sie aber sofort wieder los und wurde höchst verlegen.

»Verzeihen Sie . . .« murmelte er.

»Hören Sie?« sagte Stolz zu ihr. »Sage mal auf dein Gewissen, Ilja: wie lange ist dir das nicht passiert?«

»Das hätte heute früh passieren können, wenn vor dem Fenster ein heiserer Leierkasten vorbeigekommen wäre . . .« mischte sich Olga in so gutherzigem, sanftem Tone ein, daß sie dem Spotte den Stachel nahm.

Er blickte sie vorwurfsvoll an.

»Er hat noch immer nicht die Doppelfenster herausnehmen lassen; er kann nicht hören, was draußen geschieht«, fügte Stolz hinzu.

Oblomow richtete nun seinen vorwurfsvollen Blick auf Stolz.

Stolz ergriff Olgas Hand.

»Ich weiß nicht, welchem Umstände ich es zuschreiben soll, daß Sie heute gesungen haben wie noch nie, Olga Sergejewna; wenigstens habe ich Sie seit langer Zeit nicht so singen hören. Das ist mein Kompliment!« sagte er und küßte ihr jeden einzelnen Finger.

Stolz brach auf. Oblomow wollte das gleiche tun; aber Stolz und Olga hielten ihn davon zurück.

»Ich habe geschäftlich zu tun«, sagte Stolz; »aber du würdest ja doch nur weggehen, um dich hinzulegen, und dafür ist es noch zu früh . . .«

»Andrei! Andrei!« sagte Oblomow in flehendem Tone.

»Nein, ich kann heute nicht hierbleiben; ich muß fort!« fügte er hinzu und ging wirklich.

Er schlief die ganze Nacht nicht. Traurig und nachdenklich ging er im Zimmer auf und ab; bei Tagesanbruch verließ er das Haus und wanderte an der Newa und auf den Straßen umher, Gott weiß mit welchen Empfindungen und Gedanken . . .

Nach zwei Tagen war er wieder dort, und als am Abend die übrigen Gäste sich zum Kartenspiel hinsetzten, befand er sich mit Olga allein am Flügel. Die Tante hatte Kopfschmerzen, saß auf ihrem Zimmer und roch an ihrem Riechfläschchen.

»Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Ihnen die Sammlung von Zeichnungen zeigen, die mir Andrei Iwanowitsch aus Odessa mitgebracht hat?« fragte Olga. »Hat er sie Ihnen gezeigt?«

»Sie bemühen sich, wie es scheint, mich als Wirtin pflichtmäßig zu unterhalten«, bemerkte Oblomow. »Das ist nicht nötig.«

»Warum ist es nicht nötig? Ich möchte, daß Sie sich nicht langweilten, sondern sich hier wie zu Hause fühlten, daß es Ihnen behaglich, frei und leicht zumute wäre und Sie nicht weggingen . . . um sich hinzulegen.«

»Sie ist ein boshaftes, spottsüchtiges Geschöpf!« dachte Oblomow, betrachtete aber wider seinen Willen voll Bewunderung jede ihrer Bewegungen.

»Sie möchten, daß mir frei und leicht zumute sei und ich mich nicht langweile?« wiederholte er ihre Worte.

»Ja«, antwortete sie und sah ihn in derselben Weise wie das vorige Mal, aber mit einem noch gesteigerten Ausdruck von Neugier und Gutherzigkeit an.

»Zu diesem Zweck ist erstens nötig, daß Sie mich nicht so ansehen, wie Sie es jetzt tun, und wie Sie es neulich taten . . .«

Die Neugier in ihren Augen verdoppelte sich.

»Da haben wir's! Gerade bei diesem Blick wird mir sehr unbehaglich zumute . . . Wo ist mein Hut?«

»Warum wird Ihnen denn unbehaglich zumute?« fragte sie ihn sanft, und ihr Blick verlor den Ausdruck von Neugier; er wurde nur gutherzig und freundlich.

»Ich weiß es nicht; aber es scheint mir, als zögen Sie mit diesem Blicke aus mir alles das heraus, was ich andere Menschen und besonders Sie nicht wissen lassen möchte . . .«

»Warum wollen Sie es mich denn nicht wissen lassen? Sie sind Andrei Iwanowitschs Freund, und er ist mein Freund; folglich . . .«

»Folglich brauchen Sie über mich nicht all das zu erfahren, was Andrei Iwanowitsch über mich weiß«, beendete er ihren Satz.

»Nein, ich brauche es nicht zu erfahren; aber es kann doch kommen, daß ich es erfahre . . .«

»Dank der Offenherzigkeit meines Freundes. Das ist von seiner Seite ein schlechter Dienst! . . .«

»Haben Sie etwa Geheimnisse?« fragte sie. »Vielleicht haben Sie irgendwelche Verbrechen begangen?« fügte sie lachend hinzu und bewegte sich von ihm weg.

»Ja, vielleicht«, antwortete er seufzend.

»Ja, das ist ein großes Verbrechen«, sagte sie schüchtern und leise, »verschiedenartige Strümpfe anzuziehen.«

Oblomow griff nach seinem Hute.

»Ich kann das nicht ertragen!« sagte er. »Und Sie möchten, daß ich mich behaglich fühle! Ich werde Andrei die Freundschaft aufkündigen . . . Er hat Ihnen also auch das gesagt?«

»Er hat mich heute dadurch furchtbar zum Lachen gebracht«, fügte Olga hinzu; »er bringt mich immer zum Lachen. Verzeihen Sie mir, ich werde es nicht wieder tun, gewiß nicht, und ich werde mir Mühe geben, Sie in andrer Art anzusehen . . .«

Sie machte eine schelmisch-ernste Miene.

»Das alles ist noch ›erstens‹«, fuhr sie fort. »Nun, ich sehe Sie nicht mehr so an wie das vorige Mal; also wird Ihnen jetzt frei und leicht zumute sein. Jetzt kommt: was muß ich ›zweitens‹ tun, damit Sie sich nicht langweilen?«

Er blickte ihr geradezu in die graublauen, freundlichen Augen.

»Da! Nun sehen Sie selbst mich so seltsam an . . .« sagte sie.

Er blickte sie tatsächlich sozusagen nicht mit den Augen, sondern mit seinen Gedanken, mit seinem ganzen Willen an, wie ein Magnetiseur; aber er tat es unwillkürlich und hatte nicht die Kraft, es zu unterlassen.

»O Gott, wie hübsch sie ist! Daß es solche weiblichen Wesen auf der Welt gibt!« dachte er, während er sie mit beinah ängstlichen Augen ansah. »Diese weiße Haut, diese Augen, in denen es wie in einem Abgrunde dunkel ist und doch etwas leuchtet, wohl die Seele! In dem Lächeln kann man wie in einem Buche lesen; und hinter dem Lächeln stehen diese Zähne . . . Und der ganze Kopf, wie zart er auf den Schultern ruht; er wiegt sich wie eine Blume hin und her und haucht süßen Duft . . .«

»Ja, ich empfange etwas von ihr«, dachte er; »es geht von ihr etwas auf mich über. Hier, in meinem Herzen, fängt es gleichsam zu brodeln und unruhig zu werden an . . . O Gott, welch ein Glück ist es, sie anzusehen! Es wird einem sogar schwer zu atmen.«

Diese Gedanken wirbelten in seinem Kopfe herum, und er blickte Olga immer so an, wie man in eine endlose Ferne oder in einen bodenlosen Abgrund schaut, selbstvergessen, voll Wonne.

»Aber nun hören Sie auf, Monsieur Oblomow; wie sehen Sie selbst mich jetzt an!« sagte sie, verlegen den Kopf abwendend; aber die Neugier überwog doch, und sie lenkte die Augen nicht von seinem Gesichte weg.

Er hatte nichts gehört.

Er blickte sie tatsächlich immerzu an, hörte nicht, was sie sagte, und kontrollierte schweigend, was in ihm vorging. Er berührte seinen Kopf – auch da wogte etwas und bewegte sich mit Geschwindigkeit dahin. Es gelang ihm nicht, die Gedanken zu haschen: sie flatterten davon wie ein Schwarm Vögel; im Herzen aber, auf der linken Seite, fühlte er einen Schmerz.

»Sehen Sie mich doch nicht so seltsam an«, sagte sie. »Auch mir ist das unbehaglich . . . Sie wollen gewiß etwas aus meiner Seele herausholen . . .«

»Was könnte ich aus Ihnen herausholen?« fragte er mechanisch.

»Ich habe ebenfalls Pläne, angefangene und unvollendete Pläne«, antwortete sie.

Bei dieser Anspielung auf seinen unvollendeten Plan kam er zur Besinnung.

»Seltsam!« bemerkte er: »Sie sind boshaft; aber Ihr Blick ist gutherzig. Nicht ohne Grund sagt man, daß man den Frauen nicht trauen kann: sie lügen sowohl absichtlich mit der Zunge als auch unabsichtlich mit dem Blicke, mit dem Lächeln, mit dem Erröten, sogar mit ihren Ohnmachten . . .«

Sie ließ diesem Eindrucke nicht Zeit, sich zu verstärken, sondern nahm Oblomow leise den Hut weg und setzte sich selbst auf einen Stuhl.

»Ich werde es nicht wieder tun, bestimmt nicht!« sagte sie lebhaft. »Ach, verzeihen Sie mir; ich habe eine unausstehliche Zunge! Aber, weiß Gott, es ist keine Spötterei!« fügte sie in beinah singendem Tone hinzu, und in dem singenden Tone dieses Satzes zitterte wirkliche Empfindung.

Oblomow beruhigte sich.

»Dieser Andrei! . . .« sagte er vorwurfsvoll.

»Und nun, bitte, sagen Sie: was soll ich zweitens tun, damit Sie sich nicht langweilen?« fragte sie.

»Singen Sie!« antwortete er.

»Da haben wir ja das Kompliment, auf das ich wartete!« unterbrach sie ihn, freudig auffahrend. »Wissen Sie«, fuhr sie dann mit Lebhaftigkeit fort: »wenn Sie vorgestern nach meinem Gesange nicht dieses ›Ach!‹ gesagt hätten, so glaube ich, ich würde die ganze Nacht nicht geschlafen und vielleicht geweint haben.«

»Warum denn?« fragte Oblomow erstaunt.

Sie dachte nach.

»Ich weiß es selbst nicht«, sagte sie dann.

»Sie sind ehrgeizig, das ist der Grund.«

»Ja, das ist gewiß der Grund«, versetzte sie und fuhr, in Gedanken verloren, mit einer Hand über die Tasten; »aber der Ehrgeiz ist ja überall zu finden und in großer Menge. Andrei Iwanowitsch sagt, der Ehrgeiz sei fast das einzige Motiv, das den Willen lenke. Sehen Sie, Sie selbst haben wohl keinen Ehrgeiz, und das ist der Grund, weswegen Sie immer . . .«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

»Was denn?« fragte er.

»Nein, ich meinte nur, weiter nichts«, antwortete sie ausweichend. »Ich habe Andrei Iwanowitsch gern«, fuhr sie fort, »nicht nur weil er mich zum Lachen bringt (manchmal weine ich auch, wenn er spricht), auch nicht weil er mich gern hat, sondern, wie ich glaube, weil er mir mehr zugetan ist als anderen: da sehen Sie, wo sich der Ehrgeiz überall einschleicht!«

»Sie haben Andrei gern?« fragte Oblomow und senkte einen gespannten, forschenden Blick in ihre Augen.

»Ja, gewiß; wenn er mir mehr zugetan ist als anderen, so erwidere ich ihm das in noch höherem Grade«, versetzte sie ernst.

Oblomow sah sie schweigend an; sie antwortete ihm mit einem natürlichen, schweigenden Blicke.

»Er hat auch Anna Wasiljewna und Sinaida Michailowna gern, aber doch nicht so«, fuhr sie fort; »er wird mit ihnen nicht zwei Stunden lang sitzen, sucht sie nicht zum Lachen zu bringen und erzählt ihnen nichts, was ihn tiefer berührt; er spricht mit ihnen von seinen Geschäften, vom Theater, von Neuigkeiten; aber mit mir redet er wie mit einer Schwester . . . nein, wie mit einer Tochter«, fügte sie eilig hinzu. »Manchmal schilt er mich sogar, wenn ich etwas nicht gleich verstehe oder ihm nicht gehorche oder mit ihm nicht einverstanden bin. Die andern aber schilt er nicht, und ich glaube, ich mag ihn eben deswegen noch mehr leiden. Ehrgeiz!« fügte sie nachdenklich hinzu: »aber ich weiß nicht, wie der hier hereingeraten ist, in meinen Gesang. Über meinen Gesang sagen mir die Leute schon lange viel Schönes; Sie aber wollten mich nicht einmal hören; Sie mußten beinahe mit Gewalt dazu gezwungen werden. Und wenn Sie nachher weggegangen wären, ohne mir ein Wort zu sagen, und wenn ich auf Ihrem Gesichte nichts wahrgenommen hätte . . . so wäre ich, glaube ich, krank geworden . . . ja, wahrhaftig, das ist Ehrgeiz!« schloß sie in entschiedenem Tone.

»Haben Sie denn auf meinem Gesichte etwas wahrgenommen?« fragte er.

»Ja, Tränen, obwohl Sie sie zu verbergen suchten; es ist ein schlechter Charakterzug an den Männern, daß sie sich ihres Herzens schämen. Das ist ebenfalls ein Ehrgeiz, aber ein falscher. Die Männer würden besser tun, sich manchmal ihres Verstandes zu schämen: der irrt häufiger. Sogar Andrei Iwanowitsch schämt sich seines Herzens. Ich habe ihm das gesagt, und er gab es mir zu. Und Sie?«

»Was sollte man nicht zugeben, wenn man Sie ansieht!« versetzte er.

»Noch ein Kompliment! Und was für ein . . .«

Sie hatte Schwierigkeit, einen passenden Ausdruck zu finden.

»Fades!« ergänzte Oblomow, ohne die Augen von ihr abzuwenden.

Sie bestätigte mit einem Lächeln, daß der Ausdruck zutraf.

»Gerade davor habe ich mich gefürchtet, als ich Sie nicht bitten wollte zu singen . . . Was soll man sagen, wenn man jemanden zum ersten Male hört? Und sagen muß man doch etwas. Es ist schwer, verständig und aufrichtig zu gleicher Zeit zu sein, besonders wo man fühlt und unter dem Eindrucke einer solchen Empfindung steht wie ich damals . . .«

»Ich aber habe damals tatsächlich so gesungen, wie lange nicht, ja ich glaube sogar, wie nie vorher . . . Bitten Sie mich nicht wieder zu singen; ich werde nie mehr so singen . . . Warten Sie, ein Lied will ich Ihnen noch singen . . .« sagte sie, und in demselben Augenblicke flammte ihr Gesicht auf, ihre Augen leuchteten; sie setzte sich auf den Klaviersessel, griff kräftig zwei, drei Akkorde und fing an zu singen.

O Gott, was lag nicht alles in diesem Gesange! Hoffnungen und unklare Furcht vor schwerer Zeit, und die schwere Zeit selbst, und jubelnde Glückseligkeit, all das erklang nicht sowohl im Liede als in ihrer Stimme.

Sie sang lange; von Zeit zu Zeit wandte sie sich nach ihm um und fragte kindlich: »Ist es genug? Nein, dieses noch!« Und sie sang wieder weiter.

Ihre Wangen und Ohren röteten sich vor Erregung; manchmal leuchteten auf ihrem frischen Gesichte wie spielende Blitze die Empfindungen ihres Herzens, und es flammte ein Strahl einer so gereiften Leidenschaft auf, als ob sie mit ihrem Herzen eine ferne, zukünftige Zeit ihres Lebens durchlebte, und dann erlosch dieser flüchtige Strahl auf einmal wieder, und die Stimme klang wieder frisch und silberhell. Auch in Oblomows Innern spielte sich derselbe Vorgang ab; es schien ihm, als durchlebe und empfinde er das alles nicht eine oder zwei Stunden lang, sondern ganze Jahre lang . . .

Beide wurden sie bei äußerlicher Regungslosigkeit von einer inneren Explosion zerrissen; sie zitterten und bebten in gleicher Weise; in ihren Augen standen Tränen, die durch dieselben Empfindungen hervorgerufen waren. All das waren Symptome jener Leidenschaften, die, wie es schien, die junge Seele des Mädchens später einmal erfüllen sollten; aber einstweilen zeigte diese Seele nur momentane, flüchtige Andeutungen davon, nur ein vorübergehendes Aufflackern der noch schlafenden Lebenskräfte.

Sie schloß mit einem lang ausklingenden Akkorde, und ihre Stimme erstarb in ihm. Sie hielt auf einmal inne, legte die Hände auf die Knie und blickte, selbst gerührt und aufgeregt, Oblomow an: was er wohl empfinde.

Auf seinem Gesichte glänzte das Morgenrot des erwachenden, vom Grunde seiner Seele emporsteigenden Glückes; sein von Tränen erfüllter Blick war auf sie gerichtet.

Jetzt ergriff sie ihn, wie er sie bei dem vorigen Besuche, ebenso unwillkürlich bei der Hand.

»Was ist Ihnen?« fragte sie. »Was machen Sie für ein Gesicht? Warum denn?«

Aber sie wußte, warum er ein solches Gesicht machte; sie weidete sich an dem Anblicke dieser Wirkung ihrer Macht und empfand im Innern ein bescheidendes Triumphgefühl.

»Sehen Sie nur in den Spiegel«, fuhr sie fort und zeigte ihm lächelnd sein Gesicht im Spiegel. »Ihre Augen glänzen, und, o Gott, Sie haben Tränen darin! Wie tief Sie die Musik empfinden! . . .«

»Nein, ich empfinde . . . nicht die Musik . . . sondern . . . Liebe!« sagte Oblomow leise.

Sie ließ seine Hand augenblicklich los, und ihr Gesichtsausdruck änderte sich. Ihr Blick begegnete seinem auf sie gerichteten Blicke: dieser Blick war starr, beinah irrsinnig; so blickte nicht Oblomow, sondern ein von heftiger Leidenschaft ergriffener Mensch.

Olga begriff, daß ihm dieses Wort unwillkürlich entfahren war, daß er keine Macht darüber gehabt hatte, und daß es die Wahrheit war.

Er kam zur Besinnung, ergriff seinen Hut und lief, ohne sich umzusehen, aus dem Zimmer. Jetzt begleitete sie ihn nicht mit einem neugierigen Blicke; sie stand lange, ohne sich zu bewegen, wie eine Bildsäule am Klavier und blickte unverwandt auf den Fußboden; nur ihre Brust hob und senkte sich heftig.

 


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