Iwan Gontscharow
Oblomow
Iwan Gontscharow

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X.

Oblomow befand sich in dem Zustand eines Menschen, der im Sommer soeben mit den Augen den Untergang der Sonne verfolgt hat, nun ihren purpurnen Nachglanz genießt, den Blick von der Abendröte nicht losreißen kann, sich nicht dahin zurückwendet, von wo die Nacht herankommt, sondern nur an die morgige Wiederkehr der Wärme und des Lichtes denkt.

Er lag auf dem Rücken und genoß den letzten Nachklang des gestrigen Zusammenseins. »Ich liebe Sie, ich liebe Sie, ich liebe Sie!« diese Worte zitterten noch in seinen Ohren, schöner als jedes Lied, das Olga sang; die letzten Strahlen ihres tiefen Blickes ruhten noch auf ihm. Er suchte den Sinn, der in diesem Blicke gelegen hatte, zu erkennen, den Grad ihrer Liebe zu bestimmen und war schon nahe daran, einschlafend das Bewußtsein zu verlieren, als plötzlich . . .

Am andern Morgen stand Oblomow bleich und finster auf; sein Gesicht zeigte die Spuren einer schlaflosen Nacht; die ganze Stirn war voller Runzeln; in seinen Augen war kein Feuer und kein Wunsch. Aller Stolz, der heitere, mutige Blick, die maßvolle, selbstbewußte Schnelligkeit der Bewegungen eines tätigen Menschen – alles war dahin.

In matter Art trank er seinen Tee; er rührte kein Buch an und setzte sich nicht an den Tisch, sondern zündete sich nachdenklich eine Zigarre an und setzte sich auf das Sofa. In früheren Zeiten würde er sich hingelegt haben; aber jetzt hatte er sich dessen entwöhnt und fühlte sich nicht einmal zu dem Kissen hingezogen; jedoch stützte er sich mit dem Ellbogen darauf, ein Symptom, das auf seine früheren Neigungen hindeutete.

Er machte ein finsteres Gesicht, seufzte manchmal, zuckte plötzlich mit den Schultern und schüttelte bekümmert den Kopf.

In ihm arbeitete etwas heftig; aber was da arbeitete, war nicht die Liebe. Olgas Bild stand ihm vor Augen; aber es schien in der Ferne zu schweben, im Nebel, ohne Strahlen, als ob es ihm fremd wäre; er sah es mit einem schmerzlichen Blicke an und seufzte.

»›Lebe, wie es Gott befiehlt, und nicht wie du willst‹, das ist eine weise Lebensregel; aber . . .« Und er versank in Gedanken.

»Ja, man kann nicht leben, wie man will; das ist klar«, sagte in seinem Innern eine mürrische, trotzige Stimme; »man gerät in ein Chaos von Widersprüchen hinein, die der menschliche Verstand, mag er auch noch so tief und noch so kühn sein, für sich allein nicht entwirren kann! Gestern hat man etwas gewünscht; heute erreicht man das so leidenschaftlich, bis zur Erschöpfung Gewünschte, und übermorgen errötet man darüber, daß man es gewünscht hat, und verflucht – das kommt dabei heraus, wenn man eigenwillig und dreist im Leben einherschreitet: das ist die Folge des selbstherrlichen ›ich will‹. Man muß vorsichtig tastend gehen, zu vielen Dingen die Augen schließen und nicht vom Glücke phantasieren, sich nicht erdreisten zu murren, weil es einem entschlüpft – das ist das Leben! Wer hat sich das ausgedacht, daß das Leben Glück und Genuß sei? Die Toren! ›Das Leben ist Leben, eine Pflicht‹, sagte Olga, ›eine Schuldigkeit‹; aber eine Schuldigkeit pflegt nicht leicht zu sein. Tun wir also unsere Pflicht und Schuldigkeit . . .« Er seufzte.

»Ich werde mit Olga nicht mehr zusammenkommen . . . O Gott, du hast mir die Augen geöffnet und mir meine Pflicht gezeigt«, sagte er, gen Himmel blickend; »aber wo soll ich die Kraft hernehmen? Mich von ihr trennen! Jetzt ist es noch möglich, wenn auch nur mit Schmerz; dafür werde ich später mich nicht selbst verfluchen und mir Vorwürfe machen, warum ich mich nicht von ihr getrennt habe. Es wird gleich jemand von ihr kommen; sie wollte jemanden schicken . . . Sie erwartet das nicht . . .«

Was war die Ursache? Was für ein Wind hatte Oblomow plötzlich angeweht? Was für Wolken hatte dieser Wind herangetrieben? Und warum nahm Oblomow eine so traurige Last auf sich? Und doch hatte er ja wohl erst gestern einen Blick in Olgas Seele geworfen und dort eine lichte Welt und ein lichtes Schicksal gesehen und sein und ihr Horoskop gelesen. Was war denn geschehen?

Gewiß hatte er Abendbrot gegessen oder auf dem Rücken gelegen, und da hatte dann die poetische Stimmung so schrecklichen Gedanken den Platz geräumt.

Es begegnet einem im Sommer oft, daß man an einem stillen, wolkenlosen Abend bei sternenhellem Himmel einschläft und denkt, wie schön am nächsten Tage das Feld bei den lichten Farben des Morgens sein werde; wie vergnüglich es sein werde, in das tiefste Dickicht des Waldes einzudringen und sich da vor der Hitze zu verstecken! . . . Und auf einmal weckt einen das Trommeln des Regens, und der Himmel ist von grauen, traurigen Wolken bedeckt, und es ist kalt und feucht . . .

Oblomow hatte am Abend, wie das seine Gewohnheit war, dem Klopfen seines Herzens gelauscht; dann hatte er sein Herz mit den Händen befühlt, um festzustellen, ob sich da eine verhärtete Stelle auch nicht vergrößert habe; zuletzt hatte er sich in eine Analyse seines Glückes vertieft, war plötzlich auf einen bitteren Tropfen gestoßen und hatte sich vergiftet.

Das Gift wirkte stark und schnell. Er durchlief in Gedanken sein ganzes Leben: zum hundertsten Male ergriff Reue und ein spätes Bedauern über das Vergangene sein Herz. Er stellte sich vor, was er jetzt sein würde, wenn er frisch und munter vorwärts geschritten wäre, um wie viel inhaltreicher und vielseitiger sein Leben sich gestaltet hätte, wenn er tätig gewesen wäre, und ging zu der Frage über, was er jetzt sei, und wie es nur möglich sei, daß Olga ihn liebgewonnen habe und liebe, und wofür.

»Ist das auch nicht ein Irrtum?« fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf wie ein Blitz, und dieser Blitz traf ihn gerade ins Herz und zerschmetterte es. Er stöhnte auf. »Ein Irrtum! ja . . . das ist es!« Dieser Gedanke drehte sich in seinem Gehirne herum.

»Ich liebe Sie, ich liebe Sie, ich liebe Sie!« tönte es auf einmal wieder in seinem Gedächtnisse, und sein Herz begann sich zu erwärmen, wurde aber dann plötzlich wieder kalt. »Und dieser dreimalige Ausruf Olgas: ›Ich liebe Sie‹ – was ist das gewesen? Ein Irrtum ihrer Augen, eine hinterlistige Einflüsterung ihres noch unbeschäftigten Herzens; nicht Liebe, sondern nur ein Vorgefühl der Liebe!«

»Diese Stimme wird einmal ertönen, aber so laut erschallen, in einem solchen Akkorde erklingen, daß alle umher zusammenfahren werden! Auch die Tante wird es erfahren und der Baron, und der laute Hall dieser Stimme wird weithin dringen! Jenes Gefühl wird nicht so still seinen Weg nehmen wie ein Bach, der sich im Grase verbirgt und kaum hörbar murmelt.«

»Sie liebt jetzt in derselben Weise, wie sie auf Kanevas stickt: sachte und langsam kommt das Muster zum Vorschein; noch langsamer rollt sie das Fertiggestellte auf, betrachtet es mit Vergnügen, legt es dann beiseite und vergißt es. Ja, das ist nur eine Vorbereitung zur Liebe, ein Versuch, und ich bin das Objekt, das ihr zuerst unter die Hände gekommen ist, ein zum Versuche halbwegs brauchbares Objekt, das ihr der Zufall zugeführt hat . . .«

»Der Zufall hat uns ja zusammengeführt und uns einander näher gebracht. Sie hätte mich gar nicht beachtet: Stolz hat auf mich hingewiesen; er hat das junge empfängliche Herz mit seiner Sympathie für mich angesteckt; es wurde Mitleid mit meiner Lage in ihr rege und der ehrgeizige Wunsch, eine träge Seele aus der Schläfrigkeit aufzurütteln, um sie dann wieder zu verlassen.«

»So verhält sich das also!« sagte er voller Entsetzen, indem er sich vom Bette erhob und mit zitternder Hand das Licht anzündete. »Weiter ist nichts da, und weiter ist nie etwas dagewesen! Sie war bereit, die Liebe in sich aufzunehmen; ihr Herz wartete gespannt darauf, und da begegnete ich ihr unversehens und fiel durch einen Irrtum in ihre Hände . . . Sobald ein andrer erscheint, wird sie sich voll Entsetzen von ihrem Irrtum ernüchtern! Wie wird sie dann mich anblicken, wie wird sie sich von mir abwenden . . . das ist entsetzlich! Ich eigne mir fremdes Besitztum an! Ich bin ein Dieb! Was tue ich, was tue ich? Wie verblendet bin ich – o Gott!«

Er blickte in den Spiegel: er sah blaß und gelb aus, seine Augen waren trübe. Er erinnerte sich an jene glücklichen jungen Männer mit feuchtem, sinnendem, aber machtvollem, tiefem Blicke, wie ihn Olga selbst hatte, an die jungen Männer mit einem zitternden Funken in den Augen, mit einem Siegesbewußtsein im Lächeln, mit kühnem Gange und volltönender Stimme. Und er sagte sich, er werde es erleben, daß einer von diesen auf den Plan trete und sie plötzlich aufflamme und ihn, Oblomow, anblicke und . . . laut auflache!

Er sah noch einmal in den Spiegel. »Solche Menschen liebt man nicht!« sagte er.

Dann legte er sich hin und warf sich mit dem Gesichte auf das Kissen. »Lebe wohl, Olga; werde glücklich!« schloß er.

»Sachar!« rief er am Morgen.

»Wenn ein Diener von Iljinskis kommt und nach mir fragt, so sage, ich sei nicht zu Hause; ich sei gleich nach der Stadt gefahren.«

»Zu Befehl.«

»Aber . . . nein, ich will lieber an sie schreiben«, sagte er zu sich selbst; »sonst wird es ihr befremdlich erscheinen, daß ich auf einmal verschwunden bin. Eine offene Darlegung ist unumgänglich notwendig.«

Er setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben, schnell, eifrig, mit fieberhafter Hast, nicht so wie er Anfang Mai an den Hauswirt geschrieben hatte. Kein einziges Mal kam ein widerwärtiges zu nahes Zusammenstehen zweier »welcher« und zweier »daß« vor.

»Es wird Ihnen seltsam vorkommen, Olga Sergejewna«, schrieb er, »daß Sie statt eines persönlichen Besuches von mir diesen Brief erhalten, obgleich wir einander doch so oft sehen. Lesen Sie ihn bis zu Ende durch und Sie werden erkennen, daß ich nicht anders handeln kann. Ich hätte mit diesem Briefe beginnen sollen, dann hätten wir beide uns für die Zukunft viele Vorwürfe unseres Gewissens erspart; aber auch jetzt ist es noch nicht zu spät. Wir haben einander so plötzlich und so schnell liebgewonnen, als ob wir auf einmal beide krank geworden wären, und das hat mich gehindert, früher zur Besinnung zu kommen. Zudem, wer möchte wohl, wenn er ganze Stunden lang Sie ansieht und Ihnen zuhört, freiwillig die schwere Pflicht auf sich nehmen, sich von der Bezauberung zu ernüchtern? Wie könnte man in jedem Augenblick genug Vorsicht und Willenskraft aufbringen, um bei jedem Abhange stehenzubleiben und sich nicht die schiefe Ebene hinabziehen zu lassen? Tatsächlich habe ich gedacht: ›Weiter will ich mich nicht hinreißen lassen; hier will ich stehenbleiben; das hängt von mir ab;‹ aber ich habe mich trotzdem weiter hinreißen lassen, und jetzt beginnt ein Kampf, in dem ich Ihren Beistand fordere. Ich habe erst heute, in dieser Nacht, eingesehen, wie schnell meine Füße hinabgleiten; erst gestern ist es mir gelungen, tiefer in den Abgrund hineinzuschauen, in den ich falle, und ich habe den Entschluß gefaßt halt zu machen.

Ich spreche nur von mir – nicht aus Egoismus, sondern weil Sie, wenn ich auf dem Boden dieses Abgrundes liegen werde, immer noch wie ein reiner Engel hoch oben schweben werden und vielleicht kaum einen Blick in ihn werden hineinwerfen mögen. Hören Sie zu, ohne alle Umschweife sage ich es Ihnen geradeheraus und mit schlichten Worten: Sie lieben mich nicht und können mich nicht lieben. Hören Sie auf mich erfahrenen Menschen, und glauben Sie mir unbedingt! Mein Herz hat ja schon längst zu schlagen begonnen, allerdings falsch und zu unrechter Zeit; aber gerade das hat mich gelehrt, sein regelrechtes Schlagen von einem nur zufälligen zu unterscheiden. Ihnen ist es unmöglich, aber ich bin imstande und verpflichtet zu wissen, wo die Wahrheit und wo der Irrtum ist, und es ist meine Schuldigkeit, denjenigen, der das noch nicht hat erkennen können, zu warnen. So warne ich Sie denn: Sie sind fehlgegangen; schauen Sie um sich!

Solange die Liebe zwischen uns nur in der Gestalt einer leichtbeschwingten, lächelnden Vision erschien, solange sie nur in Casta diva erklang und nur im Dufte eines Fliederzweiges, in unausgesprochener Teilnahme, in schüchternen Blicken zum Ausdruck kam, hielt ich sie nicht für etwas Wahres, sondern nahm sie für ein Spiel der Phantasie und für eine Einflüsterung der Eitelkeit. Aber die Zeit der mutwilligen Scherze ist vergangen; ich bin an der Liebe erkrankt, habe die Symptome der Leidenschaft an mir verspürt; Sie sind nachdenklich und ernst geworden; Sie haben mir Ihre Mußestunden gewidmet; Ihre Nerven haben sich gemeldet; Sie haben angefangen sich aufzuregen, und da, das heißt erst jetzt, habe ich einen Schreck bekommen und gefühlt, daß es meine Pflicht und Schuldigkeit ist, haltzumachen und zu sagen, wie es steht.

Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Sie liebe, und Sie haben mir das Gleiche geantwortet – hören Sie wohl, was für eine Dissonanz darin erklingt? Hören Sie es nicht? Dann werden Sie es später hören, wenn ich schon im Abgrunde liegen werde. Sehen Sie mich an, denken Sie sich in mein Dasein hinein: Können Sie mich lieben, lieben Sie mich? ›Ich liebe Sie, ich liebe Sie, ich liebe Sie!‹ haben Sie gestern gesagt. ›Nein, nein, nein!‹ antwortete ich mit aller Bestimmtheit.

Sie lieben mich nicht; aber Sie lügen nicht (ich beeile mich, das hinzuzufügen), Sie wollen mich nicht betrügen; Sie können nicht ja sagen, wenn in Ihrem Innern eine Stimme nein sagt. Ich will Ihnen nur beweisen, daß Ihr jetziges ›Ich liebe Sie‹ keine jetzige Liebe ist, sondern eine zukünftige; das ist nur ein unbewußtes Bedürfnis zu lieben, das in Ermangelung wirklicher Nahrung und wirklichen Feuers in Gestalt eines falschen, nicht wärmenden Lichtes brennt und bei Frauen manchmal in Liebkosungen gegen ein Kind oder gegen eine andere Frau, oder sogar einfach in Tränen oder hysterischen Anfällen zum Ausdruck kommt. Ich hätte gleich von vornherein ernst zu Ihnen sagen sollen: ›Sie haben sich geirrt; vor Ihnen steht nicht der, den Sie erwartet, von dem Sie geträumt haben. Warten Sie, er wird sich schon einstellen, und dann werden Sie zur Besinnung kommen: Sie werden sich über Ihren Irrtum ärgern und sich seiner schämen; mir aber wird dann dieser Ärger und dieses Gefühl der Beschämung ein tiefer Schmerz sein‹, das ist's, was ich Ihnen hätte sagen müssen, wenn mir die Natur einen scharfsichtigeren Verstand, einen kühneren Geist und endlich mehr Aufrichtigkeit verliehen hätte . . . Ich habe es Ihnen auch gesagt; aber erinnern Sie sich, wie ich es Ihnen gesagt habe: mit Angst, Sie könnten es glauben und die Trennung könnte sich vollziehen. Ich sagte Ihnen im voraus alles, was nachher andere sagen könnten; aber ich tat es, um Sie vorzubereiten, damit Sie nachher nicht darauf hinhörten und es nicht glaubten; ich selbst aber trachtete danach, immer wieder mit Ihnen zusammenzukommen, und dachte: ›Später einmal wird der andre kommen; aber einstweilen bin ich glücklich.‹ Das ist so die Logik des Affekts und der Leidenschaft.

Jetzt denke ich darüber schon anders. Was wird geschehen, frage ich mich, wenn das Band, das mich mit ihr verknüpft, fester wird, wenn es für mich nicht mehr bloß ein Genuß, sondern eine Notwendigkeit ist, sie zu sehen, wenn die Liebe sich in meinem Herz festsaugt (es ist nicht bedeutungslos, daß ich am Herzen eine Verhärtung fühle)? Wie soll ich mich dann losreißen? Werde ich diesen Schmerz überleben? Es wird mir schlimm gehen, sehr schlimm. Schon jetzt kann ich nicht ohne Angst daran denken. Wenn Sie erfahrener und älter wären, so würde ich mein Glück preisen und Ihnen die Hand fürs Leben reichen. Aber so . . .

Warum schreibe ich Ihnen? Warum bin ich nicht zu Ihnen gekommen und habe Ihnen offen gesagt, daß mein Verlangen, mit Ihnen zusammenzusein, täglich wächst, daß ich aber nicht mehr mit Ihnen zusammensein darf? Urteilen Sie selbst, ob ich wohl Mut genug haben würde, Ihnen das ins Gesicht zu sagen! Manchmal möchte ich Ihnen wohl etwas Ähnliches sagen, sage dann aber etwas ganz anderes. Denn ich fürchte, es könnte sich vielleicht auf Ihrem Gesichte Traurigkeit malen (wenn es wahr ist, daß Sie sich mit mir nicht gelangweilt haben), oder Sie könnten in Verkennung meiner guten Absichten sich gekränkt fühlen: weder das eine noch das andere kann ich ertragen, und so sage ich denn wieder etwas anderes, und meine ehrlichen Absichten verflattern im Winde und enden mit einer Verabredung zu einer Zusammenkunft am nächsten Tage. Jetzt, wo Sie nicht bei mir sind, ist es eine ganz andere Sache: ich habe Ihre sanften Augen, Ihr gutes, hübsches Gesichtchen nicht vor mir; das Papier ist geduldig und schweigt, und ich schreibe ruhig (das ist gelogen): wir werden uns nicht mehr wiedersehen (das ist nicht gelogen).

Ein andrer würde hinzufügen: ›Ich schreibe das unter strömenden Tränen‹; aber ich lege es nicht darauf an, mir vor Ihnen ein Air zu geben, und drapiere mich nicht in meine Trauer: denn ich will den Schmerz nicht vergrößern, das Mitleid und den Kummer nicht noch mehr steigern. Hinter einer solchen Drapierung verbirgt sich gewöhnlich die Absicht, in dem Boden des Gefühls tiefer Wurzel zu schlagen: ich aber will sowohl bei Ihnen als auch bei mir den Keim des Gefühles vernichten. Und auch Tränen zu vergießen paßt nur entweder für Verführer, die durch Phrasen die unvorsichtige Eitelkeit der Frauen zu ködern suchen, oder für schmachtende Träumer. Ich sage das, indem ich von Ihnen Abschied nehme, so wie man von einem guten Freund Abschied nimmt, der eine weite Reise antritt. In drei Wochen, in einem Monat würde es schon zu spät, zu schwer sein: die Liebe macht unglaublich schnelle Fortschritte: sie ist eine Art von seelischer Brandkrankheit. Auch jetzt schon bin ich ein ganz anderer als früher; ich rechne nicht nach Stunden und Minuten und kümmere mich nicht um Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, sondern ich rechne so: ich habe sie gesehen, habe sie nicht gesehen, werde sie sehen, werde sie nicht sehen; sie ist gekommen, ist nicht gekommen, wird kommen . . . All das steht jungen Leuten wohl, die sowohl angenehme als auch unangenehme Aufregungen leicht ertragen; aber für mich paßt Ruhe, wenn auch eine langweilige, schläfrige Ruhe; die ist mir vertraut; mit Stürmen dagegen komme ich nicht zurecht.

Viele mögen sich über meine Handlung wundern: ›Warum läuft er davon?‹ werden sie sagen. Andere werden sich über mich lustig machen; meinetwegen, ich bin auch darauf gefaßt. Wenn ich mich schon dazu entschließe, Sie nicht mehr wiederzusehen, so bin ich auf alles gefaßt.

In meinem tiefen Kummer ist es mir ein kleiner Trost, daß diese kurze Episode unseres Lebens mir für alle Zeit eine reine, erquickende Erinnerung bleiben wird. Schon sie allein wird mich davor behüten, wieder in den früheren seelischen Schlaf zu versinken; Ihnen aber wird sie, ohne zu schaden, als Leitfaden in Ihrer künftigen normalen Liebe dienen. Leben Sie wohl, Sie Engel; fliegen Sie schnell fort, wie ein erschrockenes Vögelchen von einem Zweige fortfliegt, auf den es sich irrtümlich gesetzt hat; fliegen auch Sie ebenso leicht, munter und lustig wie ein solches Tierchen von dem Zweige fort, auf den Sie sich unversehens gesetzt haben!«

Oblomow hatte in lebhafter Erregung geschrieben; die Feder war nur so über die Seiten dahingeflogen. Seine Augen leuchteten, seine Backen brannten. Der Brief war etwas lang ausgefallen, wie alle Liebesbriefe: Liebhaber sind eben schrecklich redselig.

»Sonderbar! Es ist mir jetzt nicht mehr traurig ums Herz, ich fühle mich nicht mehr bedrückt!« dachte er. »Ich bin beinah glücklich . . . Woher kommt das? Gewiß daher, weil ich die Last von meiner Seele genommen und in den Brief gelegt habe.«

Er las den Brief noch einmal durch, faltete ihn zusammen und siegelte ihn zu.

»Sachar!« sagte er. »Wenn ein Diener kommt, so gib ihm diesen Brief für das gnädige Fräulein.«

»Zu Befehl«, antwortete Sachar.

Oblomow war tatsächlich beinah vergnügt. Er setzte sich auf das Sofa, legte die Beine darauf und fragte sogar, ob nichts zum Frühstück da sei. Er aß zwei Eier und zündete sich eine Zigarre an. Kopf und Herz, beide waren ihm voll; er lebte. Er stellte sich vor wie Olga den Brief erhalten, wie erstaunt sie sein und was für ein Gesicht sie beim Durchlesen machen werde. Was mochte dann kommen? . . .

Er genoß den Vorausblick auf diesen Tag und die Neuheit der Situation . . . Mit stark pochendem Herzen horchte er, ob an die Tür geklopft werde, ob ein Diener komme, ob Olga den Brief schon gelesen habe . . . Nein, im Vorzimmer blieb alles still.

»Was hat das zu bedeuten?« dachte er beunruhigt. »Es ist noch niemand dagewesen; wie geht das zu?«

Eine geheime Stimme flüsterte ihm sogleich zu: »Warum beunruhigst du dich? Das wolltest du ja gerade, daß nichts weiter geschehe und die Beziehungen abgebrochen seien!« Aber er erstickte diese Stimme.

Eine halbe Stunde darauf veranlaßte er durch wiederholtes Rufen Sachar vom Hofe hereinzukommen, wo er mit einem Kutscher saß.

»Ist niemand dagewesen?« fragte er. »Ist keiner gekommen?«

»Doch, es ist jemand gekommen«, antwortete Sachar.

»Was hast du denn gesagt?«

»Ich habe gesagt, Sie wären nicht zu Hause: Sie wären nach der Stadt gefahren.«

Oblomow starrte ihn mit weit geöffneten Augen an.

»Warum hast du denn das gesagt?« fragte er. »Was habe ich dir befohlen zu tun, wenn ein Diener kommt?«

»Es ist ja gar kein Diener gekommen, sondern das Stubenmädchen«, antwortete Sachar mit unerschütterlichem Gleichmute.

»Und hast du den Brief abgegeben?«

»Nein. Sie haben mir ja zuerst befohlen, ich sollte sagen, Sie wären nicht zu Hause, und dann, ich sollte den Brief abgeben. Wenn also ein Diener kommen wird, so werde ich ihn abgeben.«

»Nein, nein, du . . . du bist geradezu ein Mörder! Wo ist der Brief? Gib ihn her!« sagte Oblomow.

Sachar brachte den Brief, der schon erheblich beschmutzt war.

»Wasch dir doch die Hände; da sieh mal!« sagte Oblomow ärgerlich, auf einen Schmutzfleck hinzeigend.

»Meine Hände sind rein«, versetzte Sachar, zur Seite blickend.

»Anisja, Anisja!« rief Oblomow.

Anisja streckte vom Vorzimmer aus den Oberkörper durch die Tür herein.

»Sieh nur, was Sachar anrichtet!« beschwerte er sich bei ihr. »Da hast du einen Brief; den gib dem Diener oder dem Stubenmädchen, wer gerade von Iljinskis kommt; sie sollen ihn dem gnädigen Fräulein bringen – hast du gehört?«

»Sehr wohl, Väterchen. Ich werde ihn schon abgeben!«

Aber kaum war sie wieder ins Vorzimmer gekommen, als Sachar ihr den Brief aus der Hand riß.

»Scher' dich weg, scher' dich weg!« schrie er. »Kümmere dich um deine Weiberarbeit!«

Bald darauf kam das Stubenmädchen wieder gelaufen. Sachar öffnete ihr die Tür, und Anisja wollte zu ihr herantreten; aber Sachar blickte sie wütend an.

»Was willst du hier?« fragte er sie mit seiner heiseren Stimme.

»Ich wollte bloß zuhören, wie du . . .«

»Halt' den Mund!« schrie er sie an und holte mit dem Ellbogen gegen sie aus; »du hast nicht mitzureden!«

Sie lächelte und ging hinaus, beobachtete aber vom andern Zimmer aus durch die Türritze, ob Sachar auch tue, was der Herr befohlen hatte.

Ilja Iljitsch, der den Lärm gehört hatte, kam selbst herausgelaufen.

»Was willst du, Katja?« fragte er.

»Das gnädige Fräulein läßt fragen, wohin Sie gefahren sind. Aber Sie sind ja gar nicht weggefahren, Sie sind ja zu Hause! Ich werde hinlaufen und es ihr melden«, sagte sie und wollte davonlaufen.

»Ich bin zu Hause. Der da schwatzt immer Unsinn«, sagte Oblomow. »Da, gib dem gnädigen Fräulein den Brief!«

»Zu Befehl, ich werde ihn ihr geben.«

»Wo ist das gnädige Fräulein jetzt?«

»Sie ist ins Dorf gegangen und läßt sagen, wenn Sie mit dem Buche fertig wären, möchten Sie in den Park kommen, so zwischen eins und zwei.«

Sie ging weg.

»Nein, ich werde nicht hingehen . . . wozu soll ich mein Gefühl ausreizen, wenn doch alles beendet sein muß? . . .« dachte Oblomow, während er die Richtung nach dem Dorfe einschlug.

Er sah von weitem, wie Olga auf dem Berge hinging, und wie Katja sie einholte und ihr den Brief gab; er sah, wie Olga einen Augenblick stehenblieb, den Brief ansah, nachdachte, dann Katja zunickte und in eine Allee des Parks einbog.

Oblomow machte einen Umweg an dem Berge entlang, betrat dieselbe Allee von der andern Seite her, setzte sich, als er bis zur Mitte derselben gelangt war, zwischen den Büschen auf das Gras und wartete.

»Sie wird hier vorbeikommen«, dachte er; »ich will nur unbemerkt sehen, wie sie sich benimmt, und mich dann für immer entfernen.«

Er wartete mit Herzklopfen darauf, ihre Schritte zu hören. Aber es blieb alles still. Die Natur war von tätigem Leben erfüllt; ringsherum war eine unsichtbare Kleinarbeit eifrig im Gange; aber es hatte den Anschein, als liege alles in feierlicher Ruhe.

Im Grase war jedoch alles in Bewegung und kroch und hastete. Da liefen Ameisen unruhig und geschäftig nach verschiedenen Richtungen, stießen zusammen, zerstreuten sich, hatten es eilig, gerade wie wenn man von oben auf einen Markt von Menschen hinabblickte: da sieht man auch dieselben Zusammenhäufungen, dasselbe Gedränge und Gewimmel des Volkes.

Hier summte eine Hummel um eine Blume herum und kroch in ihren Kelch hinein; dort saßen Fliegen in dichter Menge um einen Safttropfen, der aus einer kleinen Ritze in der Rinde eines Lindenbaumes herausgetreten war; da wiederholte ein Vogel irgendwo im Dickicht schon lange immer ein und denselben Ton; er rief vielleicht einen andern.

Hier drehten sich zwei Schmetterlinge in der Luft umeinander herum, wie im Walzer umherwirbelnd, und jagten um die Baumstämme. Das Gras duftete stark; aus ihm ertönte ein nie verstummendes Zirpen . . .

»Was ist das hier für ein Getreibe!« dachte Oblomow, während er diese emsige Tätigkeit betrachtete und auf die kleinen Geräusche der Natur horchte; »aber von außen ist alles so still und ruhig! . . .«

Schritte aber waren immer noch nicht zu hören. Endlich, da . . . »Ach!« seufzte Oblomow, der die Zweige leise auseinandergebogen hatte. »Sie ist es, sie ist es . . . Aber was ist das? Sie weint! O Gott!«

Olga kam langsam gegangen und wischte sich mit dem Taschentuche die Tränen ab; aber kaum hatte sie sie weggewischt, so erschienen auch schon neue. Sie schämte sich, verschluckte sie und wollte sie sogar vor den Bäumen verbergen; aber sie vermochte es nicht. Oblomow hatte Olga noch nie weinen sehen; er hatte nicht erwartet, daß sie das tun werde, und ihre Tränen verbrannten ihn gleichsam, aber so, daß ihm davon nicht heiß, sondern warm wurde.

Er trat schnell zu ihr heran.

»Olga, Olga!« sagte er zärtlich, indem er ihr folgte.

Sie fuhr zusammen, schaute um sich, sah ihn erstaunt an, wendete sich dann ab und ging weiter.

Er ging neben ihr her.

»Sie weinen?« sagte er.

Ihre Tränen flössen noch stärker. Sie konnte sie nicht mehr zurückhalten, drückte sich das Taschentuch vor das Gesicht, brach in Schluchzen aus und setzte sich auf die erste Bank, zu der sie kam.

»Was habe ich angerichtet!« flüsterte er erschrocken, ergriff ihre Hand und suchte sie von ihrem Gesichte wegzuziehen.

»Lassen Sie mich!« sagte sie. »Gehen Sie weg! Warum sind Sie hier? Ich weiß, daß ich nicht weinen sollte: worüber auch? Sie haben ganz recht: ja, es könnte sich allerlei zutragen.«

»Was muß ich tun, damit Sie nicht mehr weinen?« fragte er und sank vor ihr auf die Knie. »Sprechen Sie, befehlen Sie: ich bin zu allem bereit . . .«

»Sie haben mich zum Weinen gebracht; aber meine Tränen zu stillen steht nicht in Ihrer Macht . . . So stark sind Sie nicht! Lassen Sie mich!« sagte sie und fächelte sich mit dem Taschentuche das Gesicht.

Er sah sie an und stieß innerlich Verwünschungen gegen sich aus.

»Der unglückselige Brief!« sagte er reuevoll.

Sie öffnete ihr Arbeitskörbchen, nahm den Brief heraus und reichte ihn ihm.

»Da haben Sie ihn zurück«, sagte sie; »nehmen Sie ihn wieder mit sich fort, damit ich nicht so lange bei seinem Anblicke weinen muß.«

Er steckte ihn schweigend in die Tasche, setzte sich neben sie und ließ den Kopf hängen.

»Wenigstens werden Sie doch meine Absichten Gerechtigkeit widerfahren lassen, Olga?« sagte er leise. »Mein Brief ist ja ein Beweis, wie teuer mir Ihr Glück ist.«

»Jawohl, mein Glück ist Ihnen teuer!« erwiderte sie seufzend. »Nein, Ilja Iljitsch, Sie haben mir mein stilles Glück gewiß nicht gegönnt und sich beeilt, es zu zerstören.«

»Es zu zerstören! Also haben Sie meinen Brief nicht gelesen? Ich will Ihnen darauf wiederholen . . .«

»Ich habe ihn nicht bis zu Ende gelesen, weil meine Augen sich mit Tränen füllten; ich bin noch ein dummes Ding! Aber ich habe das übrige erraten: wiederholen Sie es nicht, damit ich nicht noch mehr weinen muß . . .«

Die Tränen fingen ihr wieder an zu tropfen.

»Entsage ich Ihnen denn nicht deshalb«, begann er, »weil ich voraussehe, daß Sie später einmal an der Seite eines andern Ihr Glück finden werden, und weil ich mich Ihrem Glücke zum Opfer bringe? . . . Tue ich das etwa kalten Blutes? Weint etwa bei mir nicht alles innerlich? Warum tue ich es denn?«

»Warum?« sprach sie ihm nach, indem sie plötzlich aufhörte zu weinen und sich zu ihm wandte. »Aus demselben Grunde, aus dem Sie sich jetzt im Gebüsch versteckt haben: um zu sehen, ob ich weinen werde und wie ich weinen werde, – darum! Wenn Sie wirklich das wollten, was in dem Briefe steht, wenn Sie der Überzeugung wären, daß eine Trennung notwendig ist, dann wären Sie ins Ausland gereist, ohne mich noch einmal gesehen zu haben.«

»Welch ein Gedanke! . . .« erwiderte er vorwurfsvoll, ohne jedoch zu Ende zu sprechen. Diese Vermutung frappierte ihn; denn es wurde ihm auf einmal klar, daß dies richtig war.

»Ja«, fuhr sie fort, »gestern wollten Sie von mir die Worte: ›Ich liebe Sie‹ hören; heute trugen Sie nach meinen Tränen Verlangen, und morgen werden Sie vielleicht zu sehen wünschen, wie ich sterbe.«

»Olga, wie können Sie mich nur so kränken! Glauben Sie denn nicht, daß ich jetzt mein halbes Leben dafür hingeben würde, um Ihr Lachen zu hören und Sie nicht weinen zu sehen . . .«

»Ja, jetzt vielleicht, nachdem Sie schon gesehen haben, wie ein Weib um Sie weint . . . Nein«, fügte sie hinzu, »Sie haben kein Herz. Sie wollten mich nicht zum Weinen bringen, sagen Sie; nun, wenn Sie das nicht wollten, so hätten Sie anders gehandelt . . .«

»Habe ich das etwa gewußt?! . . .« rief er in fragendem Tone aus und legte beide Handflächen an seine Brust.

»Wenn das Herz liebt, so hat es seinen eigenen Verstand«, erwiderte sie; »es weiß, was es will, und weiß voraus, was die Folge sein wird. Ich durfte gestern eigentlich nicht hierher kommen, weil wir plötzlich Besuch bekommen hatten; aber ich wußte, daß Sie sich grämen würden, wenn Sie vergeblich auf mich warteten, und daß Sie vielleicht schlecht schlafen würden: so kam ich denn her, weil ich nicht wollte, daß Sie sich grämten . . . Aber Sie . . . Sie freuen sich darüber, daß ich weine. Sehen Sie her, sehen Sie her, genießen Sie Ihr Vergnügen! . . .«

Und sie brach wieder in Tränen aus.

»Ich habe trotzdem schlecht geschlafen, Olga; ich habe mich die ganze Nacht über gequält . . .«

»Und es hat Ihnen leid getan, daß ich gut geschlafen und mich nicht gequält habe – nicht wahr?« unterbrach sie ihn. »Wenn ich jetzt nicht geweint hätte, würden Sie auch heute schlecht schlafen.«

»Was soll ich denn jetzt tun? Um Verzeihung bitten?« fragte er mit demütiger Zärtlichkeit.

»Kinder bitten um Verzeihung, oder wenn man im Gedränge jemanden auf den Fuß getreten hat; aber hier hilft keine Bitte um Verzeihung«, sagte sie und fächelte sich wieder mit ihrem Taschentuche Luft ins Gesicht.

»Aber, Olga, wenn ich recht habe, wenn meine Auffassung zutrifft und Ihre Liebe ein Irrtum ist? Wenn Sie einen andern liebgewinnen werden und dann bei meinem Anblick erröten werden? . . .«

»Nun, was tut das?« fragte sie und sah ihn mit einem so ironischen, tiefen, durchdringenden Blicke an, daß er verlegen wurde.

»Sie will etwas aus mir herausholen!« dachte er. »Nimm dich zusammen, Ilja Iljitsch!«

»Was tut das!« wiederholte er mechanisch ihre Worte. »Wie meinen Sie das?« Er blickte sie beunruhigt an und konnte nicht erraten, was für ein Gedanke sich in ihrem Kopfe formulierte, und wie sie ihr »Was tut das?« rechtfertigen werde, da es doch augenscheinlich unmöglich war, die Folgen dieser Tat zu rechtfertigen, wenn sie ein Irrtum war.

Sie sah ihn selbstbewußt an, hatte sich, wie es schien, ihren Gedanken vollkommen zurechtgelegt und war von seiner Richtigkeit überzeugt.

»Sie fürchten«, erwiderte sie scharf, »auf den Boden eines Abgrundes zu fallen; es erschreckt Sie die Kränkung, die ich Ihnen später einmal dadurch zufügen werde, daß ich aufhöre, Sie zu lieben. ›Es wird mir schlimm gehen‹, schreiben Sie . . .«

Er verstand immer noch nicht recht, worauf sie hinauswollte.

»Aber mir wird es ja dann gut gehen, wenn ich einen andern liebgewonnen habe; dann werde ich glücklich sein! Und Sie sagen, Sie sähen das voraus, daß ich später einmal glücklich sein werde, und seien bereit, mir alles zum Opfer zu bringen, sogar das Leben?«

Er blickte sie unverwandt an; seine weitgeöffneten Augen zwinkerten nur ab und zu.

»Sieh mal an, was da für logische Schlüsse herauskommen!« flüsterte er. »Ich muß gestehen, das hatte ich nicht erwartet . . .«

Sie musterte ihn spöttisch vom Kopf bis zu den Füßen.

»Und das Glück, das Ihnen beinahe den Verstand raubt?« fuhr sie fort. »Und diese Morgen und Abende, dieser Park und meine Worte: ›Ich liebe Sie‹ – all das ist nichts wert, ist nicht wert, daß man einen Preis dafür bezahle, ein Opfer bringe, einen Schmerz erleide?«

»Ach, könnte ich doch in die Erde sinken!« dachte er. Seine innere Qual wuchs in demselben Maße, in welchem Olgas Gedanke sich vor seinem geistigen Blicke immer mehr enthüllte.

»Aber wenn Sie nun«, begann sie im Tone einer erregten Frage, »dieser Liebe müde werden, wie Sie der Bücher, der Amtstätigkeit und des gesellschaftlichen Lebens müde geworden sind; wenn Sie mit der Zeit, auch ohne daß ich eine Rivalin bekomme und Sie von einer andern Liebe ergriffen werden, an meiner Seite einschlafen, wie Sie es bei sich zu Hause auf dem Sofa tun, und meine Stimme Sie nicht aufzuwecken vermag; wenn die Verhärtung an Ihrem Herzen vergeht; wenn, ich will gar nicht einmal sagen eine andere Frau, sondern Ihr Schlafrock Ihnen teurer werden wird als ich? . . .«

»Olga, das ist unmöglich!« unterbrach er sie unzufrieden und rückte von ihr weg.

»Warum soll das unmöglich sein?« fragte sie. »Sie sagen, ich sei in einem Irrtum befangen und würde später einen andern liebgewinnen; ich aber denke manchmal, daß Sie einfach aufhören werden mich zu lieben. Und was dann? Wie werde ich das, was ich jetzt tue, rechtfertigen? Sehen wir selbst ab von dem, was die Menschen und die Welt dazu sagen werden; aber was werde ich mir selbst sagen? . . . Auch mich läßt dieser Gedanke manchmal nicht schlafen; aber ich quäle Sie nicht mit Vermutungen über die Zukunft, weil ich an eine bessere Gestaltung der Dinge glaube. Das Gefühl des Glückes ist bei mir stärker als die Furcht. Ich schätze es für nichts Geringes, wenn Ihre Augen bei meinem Anblick aufleuchten, wenn Sie auf Hügel steigen, um mich zu suchen, wenn Sie Ihre Trägheit vergessen und um meinetwillen in der Hitze nach der Stadt eilen, um ein Bukett oder ein Buch zu holen, wenn ich sehe, daß ich Sie dazu bringe, zu lächeln oder das Leben zu lieben . . . Ich warte nur auf eines, ich suche nur eines: das Glück, und ich glaube, daß ich es gefunden habe. Wenn ich mich irre, wenn es wahr ist, daß ich über meinen Irrtum weinen werde, so fühle ich wenigstens jetzt«, (sie legte die Hand auf das Herz) »daß ich an ihm unschuldig bin; ich sage mir: das Schicksal hat es nicht gewollt; Gott hat es nicht gegeben. Aber ich fürchte mich nicht vor zukünftigen Tränen; ich werde nicht ohne ein Entgelt weinen; ich werde für meine Tränen etwas gekauft haben . . . Es ist mir ja so wohl . . . gewesen! . . .« fügte sie hinzu.

»Lassen Sie dieses Gefühl des Wohlseins wiederkehren!« flehte Oblomow.

»Aber Sie sehen in der Zukunft nur Düsteres; Ihnen ist am Glücke nichts gelegen . . . Das ist Undankbarkeit«, fuhr sie fort; »das ist nicht Liebe, sondern . . .«

»Egoismus«, ergänzte Oblomow; er wagte nicht Olga anzusehen, wagte nicht zu reden, wagte nicht um Verzeihung zu bitten.

»Sehen Sie«, sagte sie leise, »wohin Sie gehen wollten.«

Er sah sie an; ihre Augen waren trocken geworden. Sie blickte nachdenklich nach unten und zeichnete mit dem Sonnenschirm im Sande.

»Legen Sie sich wieder auf den Rücken«, fügte sie dann hinzu; »dann werden Sie sich nicht irren und in keinen Abgrund stürzen.«

»Ich habe mich vergiftet und Sie vergiftet, statt in einfacher, natürlicher Weise glücklich zu sein«, murmelte er reuevoll.

»Trinken Sie etwas Kwaß; dann werden Sie sich nicht vergiften«, stichelte sie.

»Olga, das ist nicht großmütig!« sagte er. »Nachdem ich mich selbst durch das Bewußtsein bestraft habe . . .«

»Ja, in Worten bestrafen Sie sich, stürzen sich in Abgründe, geben Ihr halbes Leben hin; aber dann kommt ein Zweifel, eine schlaflose Nacht: wie zärtlich werden Sie dann gegen sich selbst, wie vorsichtig und besorgt, wie weit sehen Sie in die Zukunft voraus! . . .«

»Welch eine Wahrheit! Und wie einfach sie ist!« dachte Oblomow; aber er schämte sich, es laut zu sagen. Warum hatte er sich diese Wahrheit nicht selbst klargemacht, sondern sie sich von einer Frau klarmachen lassen, die erst zu leben begann? Und wie schnell war sie zum Verständnis gelangt! Noch vor kurzem hatte sie den Eindruck eines Kindes gemacht.

»Wir haben nun über nichts mehr miteinander zu reden«, schloß sie und stand auf. »Leben Sie wohl, Ilja Iljitsch, und seien Sie . . . ruhig; darin besteht ja Ihr Glück.«

»Olga! Nein, um Gotteswillen, nein! Treiben Sie mich jetzt nicht von sich, wo alles wieder klar geworden ist . . .« sagte er, indem er ihre Hand ergriff.

»Was wollen Sie noch von mir? Sie zweifeln, ob meine Liebe zu Ihnen nicht ein Irrtum ist; ich kann Sie inbetreff dieses Zweifels nicht beruhigen; vielleicht ist sie wirklich ein Irrtum – ich weiß es nicht . . .«

Er ließ ihre Hand los. Wieder war der Dolch gegen ihn gezückt.

»Wie ist es denn möglich, daß Sie das nicht wissen? Fühlen Sie das denn nicht?« fragte er, und sein Gesicht drückte wieder einen Zweifel aus. »Vermuten Sie es etwa?«

»Ich vermute nichts; ich habe Ihnen gestern gesagt, was ich fühle; aber was nach einem Jahre sein wird, das weiß ich nicht. Gibt es etwa nach einem Glücke ein zweites und dann ein drittes ebensolches?« fragte sie, ihn mit großen Augen ansehend. »Sprechen Sie; Sie haben mehr Erfahrung als ich.«

Aber er mochte sie in diesem Gedanken nicht noch bestärken und schwieg, indem er mit der einen Hand eine junge Akazie schüttelte.

»Nein, man liebt nur einmal!« sagte er wie ein Schüler, der einen auswendig gelernten Satz hersagt.

»Sehen Sie wohl; das glaube ich auch«, fügte sie hinzu. »Wenn es sich aber anders verhält, so werde vielleicht auch ich aufhören, Sie zu lieben, und der begangene Irrtum wird mir vielleicht Schmerz bereiten, und Ihnen ebenfalls; vielleicht werden wir uns dann trennen! . . . Zwei-, dreimal lieben . . . nein, nein . . . Ich mag nicht glauben, daß das möglich ist!«

Er seufzte. Von diesem »Vielleicht« drehte sich ihm das Herz im Leibe herum, und er schlich nachdenklich hinter ihr her. Aber mit jedem Schritte wurde ihm leichter zumute; der »Irrtum«, den er sich in der Nacht ausgenommen hatte, gehörte nun einer so fernen Zukunft an . . . »So ist es ja nicht allein mit der Liebe; so ist es ja mit dem ganzen Leben . . .« ging es ihm auf einmal durch den Kopf; »und wenn man alles, was einem begegnet, als Irrtum von sich stößt, wann wird dann etwas kommen, was kein Irrtum wäre? Was habe ich nur getan? Als ob ich blind geworden wäre . . .«

»Olga«, sagte er und berührte ihre Taille ganz sachte mit zwei Fingern (sie blieb stehen): »Sie sind klüger als ich.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin nur schlichter und kühner. Wovor fürchten Sie sich denn? Glauben Sie denn im Ernst, daß man aufhören kann zu lieben?« fragte sie mit stolzer Sicherheit.

»Jetzt fürchte auch ich mich nicht«, antwortete er mutig. »An Ihrer Seite ist mir kein Los schrecklich!«

»Diese Worte habe ich unlängst irgendwo gelesen . . . ich glaube, bei Sue«, erwiderte sie in ironischem Tone, indem sie sich zu ihm wandte. »Nur sagte sie da eine Frau zu einem Manne . . .«

Ihrem Begleiter stieg das Blut ins Gesicht.

»Olga! Lassen Sie alles wieder wie gestern sein!« flehte er. »Ich werde keine Irrtümer mehr befürchten.«

Sie schwieg.

»Nun, wenn Sie nicht sprechen wollen, so geben Sie mir irgendein Zeichen . . . einen Fliederzweig . . .«

»Der Flieder ist schon vorbei, verblüht!« antwortete sie. »Da, sehen Sie nur, was davon noch übrig ist: ganz verwelkt!«

»Er ist vorbei, verwelkt!« sprach er ihr nach, den Flieder betrachtend. »Aber auch der Brief ist vorbei!« sagte er plötzlich. Sie schüttelte verneinend den Kopf. Er ging hinter ihr her und stellte im stillen Betrachtungen an über den Brief, über das gestrige Glück und über den verwelkten Flieder.

»Der Flieder ist wirklich verwelkt!« dachte er. »Wozu war nur der Brief? Warum habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen und am Morgen geschrieben? Aber jetzt, wie ruhig mir jetzt wieder ums Herz geworden ist . . .« (er gähnte) ». . . ich bin furchtbar schläfrig. Aber wenn der Brief nicht gewesen wäre, so würde auch von alledem nichts geschehen sein: sie hätte nicht geweint; alles wäre wie gestern; wir säßen hier still in der Allee, sähen einander an und sprächen von unserm Glücke. Und wie es heute wäre, so wäre es auch morgen . . .« Er gähnte mit weit geöffnetem Munde.

Dann kam ihm plötzlich der Gedanken, was geschehen wäre, wenn dieser Brief seinen Zweck erreicht hätte, wenn sie seine Ansicht geteilt und, wie er, sich vor Irrtümern und zukünftigem Unglück gefürchtet hätte, wenn sie auf seine sogenannte Erfahrung und verständige Überlegung gehört und damit einverstanden gewesen wäre, daß sie sich trennten und einander vergäßen.

Um Gottes willen! Dann müßte er Abschied nehmen und nach der Stadt, in die neue Wohnung fahren! Und dann käme eine lange, lange Nacht, ein langweiliges Morgen, ein unerträgliches Übermorgen und eine Reihe immer blasserer Tage . . .

Wie sollte er das aushalten? Das wäre der Tod! Und es wäre so gekommen! Er wäre krank geworden. Er hatte ja auch gar keine Trennung gewollt; er hätte sie nicht ertragen; er wäre hingegangen und hätte um eine Zusammenkunft gebeten. »Warum habe ich nur den Brief geschrieben?« fragte er sich.

»Olga Sergejewna!« sagte er.

»Was wünschen Sie?«

»Zu allen meinen Geständnissen muß ich noch eines hinzufügen . . .«

»Nämlich?«

»Der Brief war ja ganz unnötig . . .«

»Das ist nicht wahr; er war unumgänglich notwendig«, antwortete sie in festem Tone.

Sie drehte sich herum und lachte, als sie sah, was er für ein Gesicht machte, wie seine Schläfrigkeit plötzlich vergangen war, und wie er vor Erstaunen die Augen weit aufriß.

»Unumgänglich notwendig?« wiederholte er langsam und richtete einen erstaunten Blick auf ihren Rücken; aber da war nichts zu sehen als die beiden Troddeln ihrer Mantille.

»Was bedeuteten denn diese Tränen und diese Vorwürfe? Ist das wirklich nur ein listiges Manöver gewesen?« dachte er. Aber das lag nicht in Olgas Wesen; das wußte er genau.

An listigen Manövern finden nur mehr oder weniger beschränkte Frauen ihr Vergnügen. In Ermangelung eines geraden Verstandes bedienen sie sich des im kleinlichen Alltagslebens üblichen Mittels der List und betreiben ihre häusliche Politik wie das Spitzenklöppeln, ohne zu bemerken, wie um sie herum die Hauptlinien des Lebens sich gestalten, welche Richtung sie nehmen, und wo sie sich vereinigen.

Mit der List ist es dieselbe Sache wie mit Kleingeld, für das man nicht viel kaufen kann. Wie man für Kleingeld eine oder zwei Stunden leben kann, so kann man mittels der List hier etwas verbergen, dort einen Betrug begehen oder etwas verdrehen; aber um einen weiten Horizont zu überblicken, ein großes, wichtiges Unternehmen in die Wege zu leiten und durchzuführen, dazu reicht sie nicht aus.

Die List ist kurzsichtig; gut sieht sie nur das, was sie unmittelbar vor der Nase hat, aber nicht das, was weiter entfernt ist, und daher fällt sie oft selbst in die Falle, die sie anderen gestellt hat.

Olga war einfach klug: so zum Beispiel gleich die vorliegende Frage, mit welcher Leichtigkeit und Klarheit hatte sie die gelöst; und so hätte sie es auch mit jeder anderen gemacht! Sie erkannte sogleich die wahre Bedeutung eines Ereignisses und trat an dasselbe auf geradem Wege heran. Aber die List ist wie eine Maus: sie läuft rings umher und versteckt sich. Da hatte Olga einen ganz anderen Charakter.

»Was heißt denn das?« dachte Oblomow. »Was steckt da wieder Neues dahinter?« – Und laut fragte er. »Warum war denn der Brief unumgänglich notwendig?«

»Warum?« antwortete sie und drehte sich schnell mit heiterem Gesichte zu ihm herum, erfreut darüber, daß sie es verstand, ihn auf Schritt und Tritt in Verlegenheit zu setzen. Sie machte eine kleine Pause und begann dann: »Weil Sie die Nacht über nicht geschlafen und dann in meinem Interesse so lang geschrieben haben; ich bin ebenfalls eine Egoistin! Das ist Nummer eins . . .«

»Warum haben Sie mir denn soeben Vorwürfe gemacht, wenn Sie jetzt selbst mit mir einverstanden sind?« unterbrach Oblomow sie.

»Zur Strafe dafür, daß Sie die Quälerei ersonnen haben. Ich habe sie nicht ersonnen; ich habe mich ihrer nur zufällig bedient und freue mich darüber, daß sie jetzt vorbei ist. Sie aber haben sie mit Bedacht vorbereitet und sich im voraus darauf gefreut. Sie sind boshaft! Deswegen habe ich Ihnen Vorwürfe gemacht. Ferner regen sich in Ihrem Briefe Gedanken und Gefühle . . . Sie haben in dieser Nacht und an diesem Morgen nicht in Ihrer üblichen Weise gelebt, sondern so, wie Sie nach Ihres Freundes und meinem Wunsche leben sollen – das ist Nummer zwei. Endlich drittens . . .«

Sie trat so nahe an ihn heran, daß ihm das Blut zum Herzen und zum Kopfe strömte; er atmete schwer und aufgeregt. Aber sie blickte ihm gerade in die Augen.

»Drittens, weil in diesem Briefe wie in einem Spiegel Ihre zärtliche Liebe, Ihre behutsame Sorge um mich, Ihre Besorgnis um mein Glück, Ihr reines Gewissen sichtbar sind . . . alles, was mir Andrei Iwanowitsch an Ihnen gezeigt hat, und was ich liebgewonnen habe, und um deswillen ich Ihre Trägheit und Ihre Apathie vergesse . . . Sie haben da, ohne es zu wollen, Ihr eigenes Wesen offen hingestellt: Sie sind kein Egoist, Ilja Iljitsch; Sie haben gar nicht geschrieben, um eine Trennung herbeizuführen (die wünschten Sie gar nicht), sondern weil Sie fürchteten, mich zu betrügen . . . in Ihrem Briefe sprach Ihre Rechtschaffenheit; sonst hätte er mich gekränkt, und ich hätte nicht geweint – vor Stolz geweint! Sehen Sie, ich weiß, warum ich Sie liebe, und befürchte keinen Irrtum: ich irre mich in Ihnen nicht . . .«

Oblomow hatte die Empfindung, als glänze und leuchte sie, während sie das sagte. In ihren Augen strahlte der Triumph der Liebe, das Bewußtsein ihrer Macht; auf ihren Wangen erschienen die beiden rosa Flecke. Und er, er war die Ursache alles dessen! Durch die Regung seines redlichen Herzens hatte er in ihrer Seele dieses Feuer, dieses Flammenspiel, diesen Glanz entzündet.

»Olga, Sie sind die beste aller Frauen; Sie sind das großartigste Weib der Welt!« sagte er entzückt, und seiner selbst nicht mächtig breitete er die Arme aus und beugte sich zu ihr.

»Um Gotteswillen . . . einen einzigen Kuß, als Pfand des unaussprechlichen Glückes«, flüsterte er wie im Fieber.

Sie trat sofort einen Schritt zurück; der triumphierende Glanz und die Röte verschwanden von ihrem Gesichte; ihre sanften Augen blitzten drohend.

»Niemals! Niemals! Kommen Sie mir nicht näher!« sagte sie erschrocken, beinahe entsetzt, streckte beide Hände und den Sonnenschirm zwischen sich und ihn vor und blieb wie angewurzelt und versteinert, ohne zu atmen, stehen, halb abgewendet, in drohender Haltung und mit drohendem Blicke.

Er wurde plötzlich wieder ruhig: vor ihm stand nicht die sanfte Olga, sondern die beleidigte Göttin des Stolzes und des Zornes, mit zusammengepreßten Lippen und funkelnden Augen.

»Verzeihen Sie mir! . . .« murmelte er verwirrt und wie vernichtet.

Sie wandte sich langsam um und ging wieder weiter, schielte aber ängstlich über die Schulter zurück, was er wohl machen möge. Aber er machte nichts Besonderes: er ging langsam, wie ein Hund, den man scharf angefahren hat, und der nun den Schweif hängen läßt.

Sie wollte eigentlich ihren Schritt beschleunigen; aber als sie sein Gesicht sah, unterdrückte sie ein Lächeln und ging ruhiger; nur zuckte sie ab und zu zusammen. Ein rosa Fleck erschien bald auf der einen Wange, bald auf der andern.

Je weiter sie ging, um so mehr hellte sich ihr Gesicht auf; ihr Atem wurde langsamer und ruhiger, und sie ging wieder mit gleichmäßigen Schritten. Sie sah, wie heilig ihr »Niemals« für Oblomow war; der Zornesausbruch ebbte allmählich ab und machte dem Gefühle des Mitleids Platz. Sie ging immer langsamer und langsamer . . .

Sie hätte ihr zorniges Aufbrausen gern nachträglich gemildert und suchte nach einem Vorwande, um das Gespräch wieder zu beginnen.

»Ich habe alles verdorben! Das war ein wirklicher Irrtum! ›Niemals!‹ O Gott! Der Flieder ist verwelkt«, dachte er bei einem Blicke auf die schlaff herunterhängenden Dolden. »Das Gestern ist verwelkt; der Brief ist ebenfalls verwelkt; und dieser Augenblick, der schönste meines Lebens, wo zum ersten Male eine Frau wie eine Stimme vom Himmel mir gesagt hat, was an mir Gutes ist, auch der ist verwelkt! . . .«

Er blickte nach Olga hin – sie war stehengeblieben und wartete auf ihn; die Augen hielt sie niedergeschlagen.

»Geben Sie mir den Brief!« sagte sie leise.

»Er ist verwelkt!« sagte er traurig und reichte ihn ihr hin.

Sie trat wieder nahe an ihn heran und beugte den Kopf noch mehr hinab; ihre Lider waren ganz heruntergelassen . . . Sie zitterte beinahe. Als er ihr den Brief gegeben hatte, hob sie den Kopf nicht in die Höhe und ging nicht weg.

»Sie haben mich erschreckt«, sagte sie sanft.

»Verzeihen Sie mir, Olga!« murmelte er.

Sie schwieg.

»Dieses harte ›Niemals!‹ . . .« sagte er traurig und seufzte.

»Es wird verwelken!« flüsterte sie kaum hörbar und errötete. Sie warf ihm einen verschämten, freundlichen Blick zu, nahm seine beiden Hände, drückte sie in den ihrigen fest zusammen und hielt sie dann an ihr Herz.

»Fühlen Sie nur, wie es klopft!« sagte sie. »Sie haben mich erschreckt! Lassen Sie mich gehen!«

Und ohne ihn anzusehen, wandte sie sich um und lief den Weg entlang, wobei sie ihr Kleid vorn ein wenig aufhob.

»Wo wollen Sie so schnell hin?« fragte er. »Ich bin müde und kann nicht mit Ihnen Schritt halten . . .«

»Lassen Sie mich nur allein! Ich laufe nach Hause, um zu singen, zu singen, zu singen! . . .« sagte sie mit flammendem Gesichte. »Mir ist die Brust zu eng; sie tut mir ordentlich weh!«

Er blieb auf seiner Stelle stehen und blickte ihr wie einem davonfliegenden Engel lange nach.

»Wird wirklich auch dieser Augenblick verwelken?« dachte er fast traurig und war sich selbst nicht bewußt, ob er ging oder auf demselben Flecke stillstand.

»Der Flieder ist vorbei«, dachte er wieder; »das Gestern ist vorbei, und die Nacht mit ihren Gespenstern und mit ihrem Alpdrücken ist ebenfalls vorbei . . . Ja! auch dieser Augenblick wird vergehen, wie der Flieder! Aber als die heutige Nacht verging, dämmerte schon der jetzige Morgen herauf . . .«

»Wie geht das zu?« sagte er laut in seiner Selbstvergessenheit. »Und wie ist es mit der Liebe . . . ist es mit ihr ebenso? Ich glaubte, sie hänge wie ein schwüler Mittag über den Liebenden und nichts bewege sich, nichts atme in ihrer Atmosphäre: und nun gibt es auch in der Liebe keine Ruhe, und sie bewegt sich immer irgendwohin vorwärts, vorwärts . . . ›wie das ganze Leben‹, sagt Stolz. Und noch ist der Josua nicht geboren, der zu ihr sagen könnte: ›Steh still und bewege dich nicht!‹ Was wird morgen sein?« fragte er sich unruhig und nachdenklich und ging träge nach Hause.

Als er an Olgas Fenstern vorbeikam, hörte er, wie sich ihre beengte Brust in Schuberts Tönen erleichterte und vor Glückseligkeit gleichsam schluchzte.

»O Gott! Wie schön ist es, auf der Welt zu leben!«

 


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