Iwan Gontscharow
Oblomow
Iwan Gontscharow

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VI.

Er merkte es gar nicht, daß das Mittagessen, das ihm Sachar auftrug, vollständig kalt geworden war, merkte es gar nicht, wie er nachher ins Bett gekommen war und in einen festen, totenähnlichen Schlaf versank.

Am andern Tage fuhr er bei dem Gedanken zusammen, daß er zu Olga fahren solle: wie war das überhaupt möglich? Er stellte sich lebhaft vor; wie ihn alle bedeutsam anblicken würden.

Der Portier empfing ihn auch ohnehin schon immer mit besonderer Freundlichkeit; Semjon stürzte Hals über Kopf davon, wenn er um ein Glas Wasser bat; Katja und die Kinderfrau begleiteten ihn mit einem freundschaftlichen Lächeln hinaus.

»Der Bräutigam, der Bräutigam!« war allen auf dem Gesichte geschrieben; und er hatte die Tante noch nicht um ihre Einwilligung gebeten, besaß keinen Groschen Geld und wußte nicht, wann er welches bekommen werde, wußte nicht einmal, wie hoch sich die Einnahmen von dem Gute in diesem Jahre belaufen würden; auf dem Gute war kein Haus vorhanden – ein schöner Bräutigam!

Er beschloß, bis zum Empfang positiver Nachrichten von seinem Gutsnachbar mit Olga nur Sonntags in Gegenwart von Zeugen zusammenzukommen. Als es daher Tag geworden war, dachte er gar nicht daran, sich am Morgen zu dem Besuche bei Olga zurechtzumachen.

Er rasierte sich nicht, kleidete sich nicht an, blätterte träge in den französischen Zeitungen, die er in der vorhergehenden Woche von Iljinskis mitgenommen hatte, sah nicht fortwährend nach der Uhr und machte kein finsteres Gesicht, daß sich der Zeiger so lange Zeit nicht vorwärts bewegte.

Sachar und Anisja glaubten, er werde wie gewöhnlich außer dem Hause Mittagbrot essen, und fragten ihn nicht, was gekocht werden solle.

Er schalt sie und erklärte, er habe keineswegs jeden Mittwoch bei Iljinskis Mittagbrot gegessen; das sei eine »Verleumdung«; er habe bei Iwan Gerasimowitsch gegessen, und in Zukunft werde er, höchstens den Sonntag, und auch nicht jeden, ausgenommen, immer zu Hause essen.

Anisja lief Hals über Kopf auf den Markt, um Gekröse für Oblomows Lieblingssuppe zu holen.

Die Kinder der Wirtin kamen zu ihm: er sah Wanjas Additions- und Subtraktionsexempel durch und fand darin zwei Fehler; auch linierte er Maschas Heft und schrieb ihr einige große A vor. Dann hörte er zu, wie die Kanarienvögel schmetterten; und sah durch die halbgeöffnete Tür, wie sich die Arme der Wirtin hurtig bewegten.

Bald nach ein Uhr fragte die Wirtin durch die Tür, ob er einen kleinen Imbiß möge; sie hätten Quarkkuchen gebacken. Es wurde ihm eine Portion davon, sowie ein Glas Johannisbeerschnaps gebracht.

Ilja Iljitschs Aufregung legte sich allmählich, und es überkam ihn nur eine stumpfe Melancholie, in der er bis zum Mittagessen verblieb.

Nach dem Mittagessen hatte er auf dem Sofa liegend, von Müdigkeit überwältigt, soeben angefangen einzunicken, da öffnete sich die Tür, die in die Wohnung der Wirtin führte, und es erschien von dort Agafja Matwjejewna mit zwei Pyramiden von Strümpfen auf beiden Armen.

Sie legte sie auf zwei Stühle, Oblomow aber sprang auf und bot ihr selbst einen dritten Stuhl an; aber sie setzte sich nicht hin; das lag nicht in ihrer Gewohnheit: sie war immer auf den Beinen, immer in Tätigkeit und Bewegung.

»Da habe ich heute Ihre Strümpfe durchgesehen«, sagte sie. »Es sind fünfundfünfzig Paar, aber fast alle schon schlecht . . .«

»Was sind Sie für eine gute Frau!« sagte Oblomow, indem er an sie herantrat und sie scherzend leise an die Ellbogen faßte.

Sie lächelte.

»Warum machen Sie sich damit soviel Mühe? Ich muß mich wirklich schämen.«

»Das hat nichts zu sagen; das Wirtschaften ist eben mein Beruf. Sie haben niemand, der Ihre Wäsche durchsieht, und mir macht das Spaß«, fuhr sie fort. »Diese zwanzig Paar taugen gar nichts mehr; es lohnt nicht, sie noch zu stopfen.«

»Das ist ja auch nicht nötig; bitte, werfen Sie sie alle weg! Wozu wollen Sie sich mit diesem Zeug abmühen. Ich kann mir ja neue kaufen . . .«

»Warum sollen sie denn weggeworfen werden? Diese hier kann man alle noch anstricken.« Sie fing die Strümpfe flink zu zählen an.

»Aber setzen Sie sich doch, bitte; warum stehen Sie?« sagte er auffordernd.

»Nein, danke bestens; ich habe keine Zeit, mich hinzusetzen«, antwortete sie, den Stuhl nochmals ablehnend. »Heute ist bei uns Wäsche; da muß ich alles zurechtmachen.«

»Sie sind ein wahres Muster von Wirtschaftlichkeit!« sagte er und heftete dabei seine Augen auf ihren Hals und auf ihre Brust.

Sie lächelte.

»Also, wie ist das?« fragte sie. »Soll ich die Strümpfe anstricken? Dann werde ich Baumwolle und Zwirn bestellen. Diese Sachen bringt uns immer eine alte Frau vom Lande: sie hier zu kaufen ist unpraktisch; was man hier bekommt, ist alles mürbes Zeug.«

»Wenn Sie so gut sein wollen, so erweisen Sie mir, bitte, diese Gefälligkeit«, sagte Oblomow; »aber ich schäme mich wirklich, daß Sie sich damit soviel Arbeit machen.«

»Das tut nichts; was haben wir denn sonst zu tun? Diese hier werde ich selbst anstricken; die da werde ich der Großmutter geben; morgen kommt meine Schwägerin auf Logierbesuch: da haben wir abends nichts weiter zu tun und werden die Strümpfe anstricken. Meine Mascha fängt auch schon an zu stricken; aber sie zieht die Nadeln immer heraus: sie sind zu groß für ihre Hände.«

»Wird auch Mascha wirklich schon angelernt?« fragte Oblomow.

»Bei Gott, es ist die Wahrheit.«

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Oblomow, der sie mit demselben Vergnügen ansah, mit dem er am Vormittag den heißen Quarkkuchen angesehen hatte.

»Sehr, sehr dankbar bin ich Ihnen und werde nicht in Ihrer und namentlich nicht in Maschas Schuld bleiben: ich werde ihr seidne Kleider kaufen und sie wie eine Puppe anputzen.«

»Was reden Sie? Nicht Anlaß zur Dankbarkeit. Und was soll sie mit seidenen Kleidern? Nicht einmal Kattunkleider kann man ihr genug anschaffen; es ist, als ob ihr alles auf dem Leibe verbrennt, besonders die Schuhe: kaum hat man ein Paar auf dem Markte gekauft, dann ist es auch schon entzwei.«

Sie stand auf und nahm die Strümpfe.

»Wohin wollen Sie denn so eilig?« sagte er. »Setzen Sie sich doch ein Weilchen hin; ich habe nichts zu tun.«

»Ein andermal, an einem Festtage; und erweisen Sie uns die Ehre, zu uns zu kommen und ein Täßchen Kaffee bei uns zu trinken! Aber jetzt ist Wäsche; ich muß hingehen und nachsehen, ob Akulina schon angefangen hat . . .«

»Na, es tut mir leid, aber ich wage nicht, Sie zurückzuhalten«, sagte Oblomow und blickte von hinten nach ihrem Rücken und nach ihren Armen.

»Ich habe auch Ihren Schlafrock aus der Kammer geholt«, fuhr sie fort; »den kann man noch ausbessern und waschen: es ist ein ganz vorzüglicher Stoff! Er kann noch lange dienen.«

»Das wäre unnötige Mühe! Ich trage ihn nicht mehr: ich habe ihn mir abgewöhnt; ich brauche ihn nicht mehr.«

»Na, ganz egal, wir wollen ihn doch auswaschen: vielleicht ziehen Sie ihn doch noch einmal an zur Hochzeit!« fügte sie hinzu, lachte und schlug die Tür zu.

Ihm verging plötzlich alle Müdigkeit; er horchte hoch auf und öffnete weit die Augen.

»Auch sie weiß es, alle wissen es!« sagte er und ließ sich auf den Stuhl niedersinken, den er ihr zurechtgeschoben hatte. »O Sachar. Sachar!«

Wieder strömte ein Platzregen von »kläglichen Worten« auf Sachars Haupt hernieder; wieder redete Anisja mit der Nase los: sie höre zum erstenmal von der Wirtin etwas von einer Hochzeit; in den Gesprächen mit ihr sei davon mit keinem Worte die Rede gewesen; und es finde ja auch gar keine Hochzeit statt: und ob das überhaupt möglich sei. Das habe gewiß der Feind des Menschengeschlechtes ersonnen: sie wolle gleich in die Erde versinken, und auch die Wirtin sei bereit, das Heiligenbild von der Wand zu nehmen und zu beschwören, daß sie von dem Iljinskischen Fräulein gar nichts gehört habe; sie habe vielmehr irgendwelche andre Braut gemeint . . .

Und noch viel dergleichen redete Anisja, so daß Ilja Iljitsch ihr mit der Hand winkte hinauszugehen. Sachar bat für den folgenden Tag um die Erlaubnis, nach ihrem alten Hause in der Gorochowaja-Straße zu gehen und dort einen Besuch zu machen; aber Oblomow kanzelte ihn so ab, daß er ganz bedrückt aus dem Zimmer schlich.

»Da wissen sie noch nichts davon, und darum möchtest du da die Verleumdung ausbreiten. Bleib zu Hause!« fügte Oblomow drohend hinzu.

Der Mittwoch verging. Am Donnerstag erhielt Oblomow wieder einen Stadtbrief von Olga, in dem sie fragte, wie es zugehe, was sich begeben habe, daß er nicht gekommen sei. Sie schrieb, sie hätte den ganzen Abend geweint und in der Nacht fast gar nicht geschlafen.

»Sie weint, sie schläft nicht, der Engel!« rief Oblomow aus. »O Gott, warum liebt sie mich? Warum liebe ich sie? Warum sind wir einander begegnet? An alledem ist Andrei schuld: er hat uns die Liebe eingeimpft wie die Pocken, uns allen beiden. Und was ist das für ein Leben? Immer Aufregung und Unruhe! Wann wird endlich die Zeit des friedlichen Glückes und der Ruhe kommen?«

Er legte sich laut seufzend nieder, stand wieder auf, ging sogar auf die Straße und malte sich immer eine Lebensweise, eine Existenz aus, die sowohl von einem Inhalte erfüllt wäre, als auch still dahinflösse, Tag für Tag, tropfenweise, in stummer Betrachtung der Natur und stillen, unmerklich dahinschleichenden Ereignissen eines friedlichen, geschäftigen Familienlebens. Er mochte sich das Leben nicht als einen breiten, rauschend dahinströmenden Fluß mit schäumenden Wogen vorstellen, wie das Stolz tat.

»Das ist eine Krankheit«, sagte Oblomow, »ein Fieber, eine hastige Fahrt mit Stromschnellen, Dammbrüchen und Überschwemmungen.«

Er schrieb Olga, er habe sich im Sommergarten ein bißchen erkältet, habe heißen Kräutertee trinken und ein paar Tage zu Hause bleiben müssen; aber jetzt sei alles vorüber, und er hoffe, sie am Sonntag wiederzusehen.

Sie schrieb ihm eine Antwort, lobte ihn, daß er sich in acht genommen hätte, riet ihm, auch noch am Sonntag zu Hause zu bleiben, wenn es nötig sein würde, und fügte hinzu, sie wolle sich lieber eine Woche langweilen, damit er sich nur recht schonen könne.

Diese Antwort hatte Nikita gebracht, eben derjenige, der nach Anisjas Angabe die Hauptschuld an dem Geschwätz trug. Er brachte vom Fräulein auch neue Bücher; Olga ließ Oblomow bitten, er möchte die Bücher durchlesen und ihr beim nächsten Zusammentreffen sagen, ob es der Mühe wert sei, daß sie sie ebenfalls lese.

Sie verlangte eine Rückäußerung über sein Befinden. Oblomow schrieb ihr eine Antwort, übergab sie eigenhändig Nikita, begleitete ihn vom Vorzimmer direkt auf den Hof hinaus und verfolgte ihn mit den Augen bis zum Pförtchen, damit er sich nicht beikommen lasse, nach der Küche heranzugehen und dort die »Verleumdung« zu wiederholen, und damit Sachar ihn nicht auf die Straße hinausbegleiten könne.

Er freute sich über Olgas Vorschlag, daß er sich recht in acht nehmen und auch am Sonntag noch nicht hinkommen solle, und hatte ihr geschrieben, er müsse zum Zwecke vollständiger Wiederherstellung wirklich noch mehrere Tage zu Hause bleiben.

Am Sonntag war er bei seiner Wirtin zu Besuch, trank Kaffee, aß eine heiße Pastete und schickte vor dem Mittagessen Sachar nach der andern Seite der Newa, um Gefrorenes und Konfekt für die Kinder zu holen.

Auf dem Rückwege wurde Sachar nur unter Schwierigkeiten im Kahne über den Fluß gesetzt; die Schiffbrücken waren schon abgefahren, und die Newa begann zuzufrieren. Es war für Oblomow gar nicht daran zu denken, daß er auch nur am Mittwoch werde zu Olga fahren können.

Allerdings wäre es ihm möglich gewesen, unverzüglich nach der anderen Seite hinüberzueilen, sich dort für einige Tage bei Iwan Gerasimowitsch einzuquartieren und jeden Tag bei Olga zu sein und sogar dort zu Mittag zu essen.

Er hätte dann einen triftigen Grund gehabt: der Eisgang der Newa habe ihn auf jener Seite überrascht, und er habe nicht zurückkehren können.

Dieser Gedanke war Oblomows erste Regung, und er nahm schnell die Beine vom Sofa und setzte sie auf den Fußboden; aber nach kurzer Überlegung legte er sich mit sorgenvollem Gesichte und mit einem Seufzer langsam wieder auf seinen Platz.

»Nein, mögen erst die Gerüchte verstummen«, dachte er, »mögen erst die fremden Leute, die in Olgas Hause verkehren, mich ein wenig vergessen und mich erst dann wieder täglich dort sehen, wenn wir öffentlich als Bräutigam und Braut proklamiert sein werden.«

»Es ist langweilig zu warten; aber es läßt sich nichts dagegen tun«, fügte er mit einem Seufzer hinzu und machte sich an die Bücher heran, die ihm Olga geschickt hatte.

Er las ungefähr fünfzehn Seiten. Dann kam Mascha, um ihn aufzufordern, ob er nicht mit an die Newa gehen wolle; die ganze Familie wolle hingehen, um zu sehen, wie der Fluß zum Stehen komme. Er ging mit und kam zum Tee zurück.

So vergingen die Tage. Ilja Iljitsch langweilte sich, las, ging auf der Straße umher und blickte zu Hause durch die Tür zu der Wirtin hinein, um aus Langerweile ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Er mahlte ihr sogar einmal drei Pfund Kaffee mit solchem Eifer, daß ihm die Stirn von Schweiß feucht wurde.

Er versuchte es, ihr ein Buch zum Lesen zu geben. Langsam die Lippen bewegend, las sie still für sich den Titel und gab ihm dann das Buch zurück mit der Bemerkung, wenn erst die Christwoche käme, dann werde sie es sich von ihm wieder ausbitten und es sich von Wanja vorlesen lassen; dann könne auch die Großmutter zuhören; jetzt aber habe sie keine Zeit.

Unterdessen waren über die Newa Brettersteige gelegt worden, und eines Tages verkündeten das Herumspringen des Hundes an der Kette und sein wütendes Gebell die nochmalige Ankunft Nikitas mit einem Briefchen, mit einer Erkundigung nach Oblomows Befinden und mit einem Buche. Oblomow fürchtete, auch er werde über die Bretter nach jener Seite hinübergehen müssen, ließ sich vor Nikita nicht blicken und schrieb als Antwort, es hätte sich bei ihm eine kleine Geschwulst in der Kehle gebildet; er wage noch nicht auszugehen; ein grausames Schicksal beraube ihn noch für einige Tage des Glückes, seine innig geliebte Olga wiederzusehen.

Er schärfte seinem Sachar streng ein, er solle sich nicht unterstehen, mit Nikita zu schwatzen, begleitete diesen letzteren wieder mit den Augen bis zum Pförtchen und drohte Anisja mit dem Finger, als sie ihre Nase aus der Küche heraussteckte und sich bei Nikita nach etwas erkundigen wollte.

 


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