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Als Sachar am andern Tage das Zimmer aufräumte, fand er auf dem Schreibtische einen kleinen Handschuh, betrachtete ihn lange, lächelte und reichte ihn dann Oblomow.
»Gewiß hat ihn das Iljinskische Fräulein verloren«, sagte er.
»Du Teufel!« fuhr ihn Ilja Iljitsch an und riß ihm den Handschuh aus den Händen. »Du redest sinnlos! Wie kann ihn das Iljinskische Fräulein verloren haben? Die Näherin aus dem Ladengeschäft ist hergekommen, damit ich die Hemden anprobieren möchte. Wie kannst du es wagen, dir so etwas auszudenken!«
»Wieso bin ich ein Teufel? Was denke ich mir aus? Da in der Wohnung der Wirtin, da reden sie schon davon . . .«
»Wovon reden sie?« fragte Oblomow.
»Sie sagen, daß das Iljinskische Fräulein mit ihrem Stubenmädchen dagewesen ist . . .«
»O Gott!« rief Oblomow ganz entsetzt. »Aber woher kennen sie denn das Iljinskische Fräulein? Da mußt doch du oder Anisja geschwatzt haben . . .«
Auf einmal schob Anisja ihren Oberkörper durch die nach dem Vorzimmer führende Tür.
»Schämst du dich denn nicht, Sachar Trofimowitsch, solchen Unsinn zu plappern? Hören Sie nicht auf ihn, Väterchen«, sagte sie. »Niemand hat das gesagt, niemand weiß das; das kann ich bei Jesus Christus . . .«
»Schweig still!« schrie Sachar ihr mit seiner heisern Stimme zu und holte mit dem Ellbogen gegen ihre Brust aus. »Du mußt doch deine Nase überall da hineinstecken, wo du nicht gefragt wirst!«
Anisja verschwand. Oblomow drohte seinem Diener mit beiden Fäusten; dann öffnete er schnell die Tür zu der Wohnung der Wirtin.
Agafja Matwjejewna saß auf dem Fußboden und musterte allerlei Kram in einem alten Kasten; um sie herum lagen Haufen von Lappen, von Watte, von alten Kleidern, Knöpfen und Pelzflicken.
»Hören Sie«, begann Oblomow in freundlichem Tone, aber in starker Aufregung, »meine Dienstboten schwatzen allerlei dummes Zeug; ich bitte Sie dringend, glauben Sie ihnen nicht!«
»Ich habe nichts gehört«, erwiderte die Wirtin. »Was schwatzen sie denn?«
»In betreff des gestrigen Besuches«, fuhr Oblomow fort. »Sie sagen, es wäre irgendein Fräulein zu mir gekommen . . .«
»Was geht uns das an, wer zu den Mietern kommt?« versetzte die Wirtin.
»Nein, bitte, glauben Sie es nicht; es ist die reine Verleumdung! Es ist kein Fräulein dagewesen; es ist ganz einfach eine Näherin gekommen, die für mich Hemden näht. Sie kam, damit ich sie anprobieren möchte . . .«
»Wo haben Sie sich denn Hemden bestellt? Wer näht sie Ihnen?« fragte die Wirtin lebhaft.
»Im Französischen Magazin . . .«
»Zeigen Sie mir die Hemden doch, wenn sie geliefert werden. Ich kenne zwei junge Mädchen, die nähen und steppen so gut, daß es keine Französin besser machen kann. Ich habe ihre Arbeit selbst gesehen; sie haben sie hergebracht, um sie mir zu zeigen; sie nähen für den Grafen Melinski. Niemand näht so gut. Dagegen kommen Ihre Hemden, die Sie da anhaben, nicht auf . . .«
»Schön, schön, ich werde daran denken. Glauben Sie nur um Gotteswillen nicht, daß ein Fräulein hier gewesen wäre . . .«
»Was geht uns das an, wer zu unserem Mieter kommt? Selbst wenn es ein Fräulein ist . . .«
»Nein, nein!« widersprach Oblomow. »Ich bitte Sie, das Fräulein, von dem Sachar schwatzt, ist von riesiger Statur, und hat eine Baßstimme; aber diese, die Näherin, Sie haben wohl selbst gehört, mit was für einer hellen Stimme sie spricht: sie hat eine wundervolle Stimme. Bitte, glauben Sie nicht . . .«
»Was geht uns das an?« sagte die Wirtin, als er im Begriff war wegzugehen. »Vergessen Sie also nicht, wenn Sie in die Lage kommen, Hemden nähen zu lassen, es mir zu sagen; die jungen Mädchen, die ich kenne, steppen ganz vorzüglich . . . sie heißen Lisaweta Nikolajewna und Marja Nikolajewna.«
»Gut, gut, ich werde es nicht vergessen; glauben Sie nur, bitte, nicht . . .«
Er ging hinaus, zog sich dann an und fuhr zu Olga.
Als er am Abend nach Hause zurückkehrte, fand er auf seinem Tische einen Brief von seinem Gutsnachbar, seinem Bevollmächtigten. Er stürzte zur Lampe hin, las ihn durch – und die Arme sanken ihm am Leibe herab.
»Ich bitte Sie ergebenst, die Vollmacht auf einen andern zu übertragen«, schrieb der Nachbar; »bei mir hat sich die Arbeit dermaßen angehäuft, daß ich (ich sage das auf mein Gewissen) nicht imstande bin, Ihr Gut so, wie es sich gehört, zu beaufsichtigen. Das Beste wäre, wenn Sie selbst herkämen, und noch besser, wenn Sie auf dem Gute Ihren dauernden Wohnsitz nähmen. Das Gut ist schön, aber arg vernachlässigt. Vor allen Dingen müssen die Fronleistungen und der Pachtzins genauer festgesetzt werden; ohne Anwesenheit des Besitzers ist das nicht möglich: die Bauern sind übermütig geworden und gehorchen dem neuen Dorfschulzen nicht; der alte aber ist ein Gauner, auf den man aufpassen muß. Die Höhe der Einnahme läßt sich nicht vorherbestimmen. Bei der jetzt herrschenden Unordnung werden Sie kaum mehr als dreitausend Rubel erhalten, und auch das nur, wenn Sie persönlich anwesend sind. Ich rechne dabei die Einnahme vom Getreide; von den Zinsbauern ist wenig zu hoffen: die muß man fest im Zaum halten und die Rückstände eintreiben – zu alledem sind etwa drei Monate erforderlich. Das Getreide ist gut geraten und steht hoch im Preise, und im März oder April werden Sie Geld bekommen, wenn Sie den Verkauf selbst beaufsichtigen. Jetzt aber ist kein Groschen bares Geld vorhanden. Was die Fahrstraße über Werchlowo und die Brücke anlangt, so habe ich, da ich von Ihnen lange Zeit keine Antwort erhielt, bereits beschlossen, mit Odonzow und Bjelowodow zusammen die Straße von mir aus über Nelki zu bauen, so daß Oblomowka weit seitwärts liegen bleibt. Zum Schlusse wiederhole ich die Bitte, daß Sie so bald wie möglich herkommen möchten: in drei Monaten werden Sie feststellen können, was für das folgende Jahr zu hoffen ist. Dabei fällt mir ein: es finden jetzt die Wahlen statt; hätten Sie nicht Lust, sich zum Kreisrichter wählen zu lassen? Beeilen Sie sich! Ihr Haus ist sehr schlecht« (dies war in einem Postskriptum hinzugefügt). »Ich habe der Viehmagd, dem Kutscher und zwei alten Mägden befohlen, von dort in ein Bauernhaus zu ziehen; denn es wäre gefährlich, länger darin zu bleiben.«
Dem Briefe war ein Zettel beigelegt mit Angaben darüber, wieviel Getreide gemäht und ausgedroschen war, wie viele Scheffel im Speicher aufgeschüttet und wie viele davon zum Verkaufe bestimmt waren, und mit mehr dergleichen wirtschaftlichen Einzelheiten.
»Kein Groschen Geld, drei Monate, selbst hinfahren, die Angelegenheiten der Bauern ordnen, die Einnahmen feststellen, als gewählter Beamter fungieren«, alle diese Schrecknisse umringten Oblomow wie Gespenster. Er befand sich gleichsam bei Nacht in einem Walde, wo man hinter jedem Busche und Baume einen Räuber, einen Geist oder ein wildes Tier zu sehen glaubt.
»Aber es wäre eine Schande: ich werde mich nicht unterkriegen lassen!« nahm er sich vor und bemühte sich, sich mit diesen Gespenstern bekannt zu machen, so wie auch ein Feigling sich anstrengt, durch die zusammengekniffenen Lider die Gespenster anzusehen, aber dabei nur eine Kälte am Herzen und eine Schwäche in den Armen und Beinen fühlt. Worauf hatte Oblomow eigentlich gehofft? Er hatte gemeint, in dem Briefe werde gesagt sein, wieviel Einnahme in einer bestimmten Zahl ausgedrückt, er erhalten werde (und selbstverständlich hatte er auf eine recht hohe Summe gerechnet, etwa auf sechs-, siebentausend Rubel); daß das Haus noch gut sei, so daß man nötigenfalls darin wohnen könne, bis das neue fertig gebaut sei; endlich daß der Bevollmächtigte ihm drei-, viertausend Rubel schicke – kurz, er hatte erwartet, daß auch dieser Brief voll Heiterkeit, Lebenslust und Liebe sein werde, wie die Briefchen, die er von Olga empfangen hatte.
Er ging jetzt nicht mehr eine Viertelelle über dem Fußboden im Zimmer hin und her, scherzte nicht mit Anisja, schwelgte nicht in Hoffnungen auf Glück; diese Hoffnungen mußte er für drei Monate verschieben. Nein: in drei Monaten würde er erst die geschäftlichen Angelegenheiten geordnet und sein Gut kennengelernt haben; aber die Hochzeit . . . »An die Hochzeit ist vor einem Jahre gar nicht zu denken«, sagte er ängstlich; »ja, ja, in einem Jahre, nicht früher!« Er mußte doch auch erst noch seinen Reformplan fertigstellen, mußte mit dem Baumeister alles festsetzen: dann erst . . . dann erst . . . Er seufzte.
»Geld borgen!« schoß es ihm durch den Kopf: aber er wies diesen Gedanken von sich.
»Unmöglich! Wenn ich nun am Termin nicht zahlen kann? wenn die Geschäfte schlecht gehen, dann wird der Wechsel protestiert, und der bisher reine und unantastbare Namen Oblomow . . .« Um Gotteswillen nicht! Dann konnte er nur seiner Ruhe und seinem Stolze Lebewohl sagen . . . nein, nein! Andere Leute borgen sich ja allerdings Geld; aber dann hasten sie sich ab und arbeiten, ohne sich Schlaf zu gönnen; es ist, als hätten sie einen bösen Dämon in sich aufgenommen. Ja, Schulden, die sind ein böser Dämon, ein Teufel, den man durch nichts vertreiben kann als durch Geld!
Es gibt forsche Kerle, die ihr ganzes Leben lang auf fremde Kosten leben, von rechts und links her nehmen und erraffen und sich darüber keine Sorgen machen! Wie sie es fertigbringen, ruhig zu schlafen und zu Mittag zu essen, das ist unbegreiflich! Schulden machen! Die Folge davon ist entweder endlose Arbeit wie im Zuchthause oder Ehrlosigkeit. Eine Hypothek auf das Gut aufnehmen? Wären das nicht ebensolche Schulden, nur von unerbittlicher, unaufschiebbarer Art? Da muß man jedes Jahr die Zinsen bezahlen, und es bleibt womöglich nicht genug zum Lebensunterhalt übrig.
Noch um ein Jahr war das Glück hinausgerückt! Oblomow stöhnte schmerzlich auf und warf sich schon auf das Bett; aber auf einmal kam er wieder zur Besinnung und stand auf. Was hatte Olga gesagt? Sie hatte seine Mannhaftigkeit angerufen und auf seine Kraft vertraut. Sie erwartete, daß er vorwärts schreiten, zu einer herrlichen Höhe gelangen, ihr dann die Hand hinstrecken und sie führen, ihr den Weg weisen werde! Ja, ja! Aber wie sollte er das anfangen?
Lange, lange dachte er nach; dann schlug er sich plötzlich vor die Stirn und ging in die Wohnung der Wirtin.
»Ist Ihr Bruder zu Hause?« fragte er die Wirtin.
»Ja, aber er hat sich schlafen gelegt.«
»Dann bitten Sie ihn, morgen zu mir zu kommen«, sagte Oblomow; »ich muß mit ihm sprechen.«