Iwan Gontscharow
Oblomow
Iwan Gontscharow

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IV.

Wir müssen uns jetzt etwas zurückversetzen, in die Zeit, ehe Stolz an Oblomows Namenstage zu diesem kam, und an einen andern Ort, fern von der Wyborger Seite. Es werden uns dort Personen begegnen, die dem Leser bekannt sind, Personen, über welche Stolz seinem Freunde nicht alles, was er wußte, mitgeteilt hatte, entweder infolge gewisser besonderer Erwägungen, oder vielleicht weil Oblomow ihn nicht über alles, was diese Personen betraf, ausfragte, wahrscheinlich ebenfalls infolge besonderer Erwägungen.

Eines Tages promenierte Stolz in Paris auf dem Boulevard und ließ seine Augen zerstreut über die Passanten und die Ladenschilder hinlaufen, ohne sie auf irgendeinen Gegenstand zu heften. Er hatte seit langer Zeit keine Briefe aus Rußland erhalten, weder aus Kiew; noch aus Odessa, noch aus Petersburg. Er langweilte sich, hatte soeben drei Briefe auf die Post getragen und war nun auf dem Wege nach Hause.

Auf einmal blieben seine Augen regungslos und erstaunt auf etwas haften, nahmen aber dann wieder ihren gewöhnlichen Ausdruck an. Zwei Damen bogen vom Boulevard ab und traten in einen Laden ein.

»Nein, es ist nicht möglich«, dachte er. »Welch ein Gedanke! Ich würde es doch wissen! Sie sind es nicht!«

Indes trat er doch an das Fenster des betreffenden Ladens heran und betrachtete die Damen durch die Scheibe; aber er konnte ihre Gesichter nicht sehen; sie standen mit dem Rücken nach dem Fenster zu.

Stolz ging in den Laden hinein und fragte nach einer Ware und dem Preise. Eine der Damen wandte sich um, nach dem Lichte zu, und er erkannte Olga Iljinskaja – und erkannte sie auch wieder nicht! Er wollte zu ihr hinstürzen, blieb aber stehen und begann sie unverwandt anzusehen.

O Gott! Welch eine Veränderung! Sie war es, und sie war es nicht! Es waren ihre Gesichtszüge; aber sie war blaß; die Augen schienen etwas eingesunken zu sein, und auf den Lippen lag kein kindliches Lächeln mehr, nicht mehr der frühere Ausdruck naiver Sorglosigkeit. Über den Augenbrauen schwebte ein halb ernster, halb trauriger Gedanke; die Augen sagten vieles, was sie früher nicht gewußt und nicht gesagt hatten. Ihr Blick war nicht wie früher offen, hell und ruhig; auf ihrem ganzen Gesichte lag eine Wolke, die entweder geradezu Gram und Kummer zum Ausdruck brachte oder wenigstens diese Empfindungen verschleierte.

Er trat zu ihr hin. Ihre Augenbrauen zogen sich ein wenig zusammen; sie blickte ihn einen Augenblick lang erstaunt an; dann erkannte sie ihn: die Brauen zogen sich wieder auseinander und nahmen eine symmetrische Stellung ein; die Augen leuchteten in einem stillen Lichte, in einer nicht ungestümen, aber tiefen Freude auf. Jeder Bruder wäre glücklich gewesen, wenn sich eine geliebte Schwester so über ihn gefreut hätte.

»Mein Gott! Sie sind es?« sagte sie in einem zu Herzen gehenden Tone inniger Freude.

Die Tante wandte sich schnell um, und alle drei begannen zugleich zu sprechen. Er machte den Damen Vorwürfe, daß sie nicht an ihn geschrieben hätten; aber sie rechtfertigten sich: sie seien erst vor zwei Tagen angekommen und hätten ihn überall gesucht. In einer Wohnung sei ihnen gesagt worden, er wäre nach Lyon gereist, und sie hätten nun nicht gewußt, was sie tun sollten.

»Aber wie sind Sie überhaupt auf den Einfall gekommen, ins Ausland zu reisen? Und mir haben Sie kein Wort darüber mitgeteilt!« sagte er vorwurfsvoll.

»Wir haben uns so schnell dazu entschlossen, daß wir Ihnen nicht erst darüber schreiben wollten«, sagte die Tante. »Olga wollte Ihnen eine Überraschung bereiten.«

Er sah Olga an: ihr Gesicht bestätigte die Worte der Tante nicht. Er blickte sie noch aufmerksamer an: aber sie war undurchdringlich und seiner Beobachtung nicht zugänglich.

»Was ist nur mit ihr?« dachte Stolz. »Ich habe früher immer auf den ersten Blick erraten, was in ihr vorging: aber jetzt . . . welche Veränderung!«

»Wie Sie sich entwickelt haben, Olga Sergejewna; Sie sind gewachsen und reifer geworden«, sagte er laut. »Ich erkenne Sie gar nicht wieder! Und doch ist es nur ein Jahr, daß wir uns nicht gesehen haben. Was haben Sie gemacht? Wie ist es Ihnen ergangen? Erzählen Sie, erzählen Sie!«

»Ach . . . es ist nichts Besonderes zu erzählen«, antwortete sie und besah dabei einen Kleiderstoff.

»Wie steht es denn mit Ihrem Gesange?« fragte Stolz, der fortfuhr, diese ihm neue Olga zu studieren, und sich bemühte, ihr ihm unbekanntes Mienenspiel zu verstehen; aber dieses Mienenspiel erschien blitzartig und verschwand wieder.

»Ich habe lange nicht gesungen, seit zwei Monaten nicht«, erwiderte sie in lässigem Tone.

»Und was macht Oblomow?« fragte er plötzlich. »Lebt er noch? Er schreibt gar nicht.«

Hier hätte Olga vielleicht unwillkürlich ihr Geheimnis verraten, wenn ihr nicht die Tante zu Hilfe gekommen wäre.

»Denken Sie sich nur«, sagte sie, während sie aus dem Laden hinausgingen, »alle Tage ist er bei uns gewesen, und dann blieb er auf einmal fort. Als wir uns zu unserer Reise ins Ausland rüsteten, schickte ich zu ihm; es wurde mir aber geantwortet, er sei krank und könne niemanden empfangen. So haben wir uns denn nicht mehr gesehen.«

»Und auch Sie wissen nichts von ihm?« erkundigte Stolz sich besorgt bei Olga.

Olga sah unverwandt durch die Lorgnette nach einem vorüberfahrenden Wagen.

»Er ist tatsächlich krank«, antwortete sie und betrachtete mit erheuchelter Aufmerksamkeit die vorüberfahrende Equipage.

»Sehen Sie mal, ma tante, ich glaube, da fuhren eben unsere Reisegefährten vorbei.«

»Nein, erstatten Sie mir Bericht über meinen Ilja!« sagte Stolz, beharrlich bei demselben Gegenstande verbleibend. »Was haben Sie mit ihm angefangen? Warum haben Sie ihn nicht mitgebracht?«

»Mais ma tante vient de dire«, erwiderte sie.

»Er ist furchtbar träge«, bemerkte die Tante, »und so menschenscheu, daß er immer gleich fortging, wenn drei oder vier Menschen bei uns zu Besuch waren. Stellen Sie sich das vor: er hat ein Abonnement in der Oper genommen und nicht die Hälfte der Abonnementsvorstellungen gehört.«

»Er hat RubiniBerühmter Tenor. 1785-1854; in Petersburg sang er im Jahre 1844. Anm. d. Übers. nicht gehört«, fügte Olga hinzu.

Stolz schüttelte den Kopf und seufzte.

»Wie geht es nur zu, daß Sie sich zu einer solchen Reise entschlossen haben? Beabsichtigen Sie lange von Hause fortzubleiben? Wie ist Ihnen nur plötzlich dieser Einfall gekommen?« fragte Stolz.

»Wir haben es um ihretwillen getan, auf den Rat des Arztes«, sagte die Tante, auf Olga weisend. »Petersburg fing an, recht ungünstig auf sie zu wirken: wir wollen den Winter über fortbleiben, haben uns aber noch nicht entschieden, wo wir ihn verleben wollen, ob in Nizza oder in der Schweiz.«

»Ja, Sie haben sich sehr verändert«, sagte Stolz nachdenklich; er sog sich mit seinen Blicken ordentlich an Olga fest, studierte jedes Äderchen ihres Gesichtes und sah ihr in die Augen.

Die Iljinskischen Damen blieben ein halbes Jahr in Paris; Stolz war ihr täglicher und einziger Gesellschafter und Führer.

Olga begann sich merklich wieder zu erholen: von der Melancholie ging sie zu ruhigem Gleichmut über, wenigstens äußerlich.

Was in ihrem Innern vorging, das mochte Gott wissen; aber sie wurde für Stolz allmählich wieder die frühere Freundin, wiewohl ihr früheres lautes, kindliches, silberhelles Lachen aufgehört hatte und sie nur still lächelte, wenn Stolz sich Mühe gab, sie zum Lachen zu bringen. Manchmal schien sie sich selbst darüber zu ärgern, daß sie nicht ordentlich lachen konnte.

Er sah sofort, daß es nicht mehr möglich war, sie zum Lachen zu bringen. Oft hörte sie eine komische Darstellung mit stillem Blick ohne zu lächeln an; ihre Augenbrauen lagen unsymmetrisch, die eine höher als die andre, und auf ihrer Stirn zeigte sich die bekannte Falte. So sah sie ihn längere Zeit schweigend an, als ob sie ihm seine Leichtfertigkeit zum Vorwurf mache oder ungeduldig sei; oder sie stellte auch plötzlich, statt auf seinen Scherz zu antworten, eine Frage tieferen Inhalts und begleitete sie mir einem so nachdrücklichen Blicke, daß er sich seiner geringwertigen, leeren Reden schämte.

Manchmal war ihr eine solche innerliche Ermüdung von dem täglichen öden Gelaufe und Gerede der Menschen anzumerken, daß Stolz plötzlich in eine andere Sphäre übergehen mußte, in die er sich im Gespräche mit Frauen nur selten und ungern begab. Wieviel Gedankenarbeit und Geistesgewandtheit war einzig und allein zu dem Zwecke erforderlich, damit Olgas tiefer, fragender Blick klar und ruhig werde, nicht durstig bleibe, nicht etwas irgendwo in weiter Ferne an ihm vorbei suche!

Wie regte er sich darüber auf, wenn bei einer nachlässigen Erklärung ihr Blick trocken und finster wurde, die Brauen sich zusammenzogen und der Schatten einer schweigsamen, aber tiefen Unzufriedenheit sich über ihr Gesicht breitete. Und er mußte zwei, drei Tage lang die feinsten Springfedern seines Geistes, sogar List und Feuer und seine ganze Kunst des Umganges mit Frauen zur Anwendung bringen, um (und auch das nur mit Mühe) allmählich aus Olgas Herzen die Morgenröte der Klarheit auf ihr Gesicht und den sanften Ausdruck der Versöhnlichkeit in ihren Blick und in ihr Lächeln zurückzubringen.

Manchmal, wenn er am Abend eines Tages nach Hause zurückkehrte, fühlte er sich ganz erschöpft von diesem Kampfe und war glücklich, wenn er aus ihm als Sieger hervorgegangen war.

»Wie sie herangereift ist, o Gott! wie dieses Mädchen sich entwickelt hat! Wer ist nur ihr Lehrer gewesen? Wo hat sie Unterricht in der Lebenskunst erhalten? Bei dem Baron? Bei dem ist alles so glatt; aus seinen stutzerhaften Phrasen kann man nichts schöpfen Doch nicht bei Ilja? . . .«

Er konnte Olga nicht begreifen, eilte am nächsten Tage wieder zu ihr und suchte vorsichtig und ängstlich auf ihrem Gesichte zu lesen, wobei er oft Schwierigkeiten fand und nur mit Hilfe seines ganzen Verstandes und seiner ganzen Lebenskenntnis alle die Fragen, Zweifel und Forderungen, die in Olgas Gesichtszügen auftauchten, zu besiegen vermochte.

Er drang mit der Leuchte der Erfahrung in der Hand in das Labyrinth ihres Geistes und Charakters ein und entdeckte und erforschte täglich immer neue Züge und Tatsachen, ohne jedoch auf den tiefsten Grund hinabsehen zu können, und beobachtete nur mit Erstaunen und Unruhe, wie ihr Geist fortwährend sein tägliches Brot verlangte, und wie ihre Seele nicht verstummte, sondern immer um Unterricht in der Lebenserfahrung bat.

Mit Stolzens ganzer Tätigkeit und ganzem Leben verwuchs täglich noch eine andre Tätigkeit und ein andres Leben. Wenn er Olga mit Blumen, Büchern, Noten und Albums versorgt hatte, beruhigte er sich in der Voraussetzung, daß er die freie Zeit seiner Freundin für lange Zeit ausgefüllt habe, und ging zu seiner Arbeit, oder er fuhr weg, um ein Bergwerk, ein Mustergut zu besichtigen, oder er begab sich in einen Gesellschaftszirkel, um mit neuen oder bedeutenden Persönlichkeiten bekannt zu werden und in Verkehr zu treten; dann kehrte er ermüdet zu Olga zurück, um neben ihrem Flügel zu sitzen und sich bei dem Klange ihrer Stimme zu erholen. Aber plötzlich gewahrte er auf ihrem Gesichte eine Menge von Fragen, die schon auf ihn warteten, und in ihrem Blicke ein beharrliches Verlangen nach Aufklärung. Und ohne es selbst zu merken und zu wollen, kam er allmählich dazu, ihr auseinanderzusetzen, was er besichtigt habe, und warum.

Manchmal drückte sie den Wunsch aus, dasjenige selbst zu sehen und kennenzulernen, was er gesehen und kennengelernt hatte. Und er wiederholte seine Arbeit: er fuhr mit ihr hin, um ein Gebäude, eine Örtlichkeit, eine Maschine zu besichtigen und von den Mauern und Steinen das ehemals dort Geschehene abzulesen. Allmählich und unvermerkt gewöhnte er sich daran, in ihrer Gegenwart laut zu denken und zu fühlen, und erkannte eines Tages, als er sich selbst streng kontrollierte, plötzlich, daß er angefangen hatte nicht allein, sondern zu zweien zu leben, und daß er dieses Leben seit dem Tage führte, an welchem Olga angekommen war.

Fast unbewußt musterte er, wie vor sich selbst, laut in ihrer Gegenwart den von ihm erworbenen Wissensschatz und war über sich und über sie erstaunt; dann prüfte er sorgfältig, ob auch nicht in ihrem Blicke eine Frage zurückgeblieben sei, ob auf ihrem Gesichte der Glanz der Befriedigung liege, und ob ihr Blick ihm wie einem Sieger das Geleite gebe.

Wenn das zutraf, so ging er stolz und vor Erregung bebend nach Hause und bereitete sich in der Nacht lange heimlich auf den nächsten Tag vor. Die langweiligsten notwendigen Beschäftigungen erschienen ihm nicht als trocken, sondern eben nur als notwendig; er und Olga drangen tiefer in das kunstvolle Gewebe des Lebens ein; die Gedanken, Beobachtungen und Erscheinungen wurden nicht stillschweigend und lässig in dem Archiv des Gedächtnisses deponiert, sondern verliehen einem jeden Tage eine leuchtende Farbe.

Welch eine warme Röte überzog Olgas blasses Gesicht, wenn er, ohne ihren fragenden, dürstenden Blick abzuwarten, sich beeilte, voll Feuer und Energie neuen Vorrat, neues Material vor ihr auszuschütten!

Und er selbst, wie vollkommen glücklich war er, wenn ihr Geist mit geschäftigem Eifer und lieblicher Demut in seinem Blicke, in jedem seiner Worte den Sinn zu erfassen suchte, und sie beide einander scharf beobachteten: er sie, ob auch nicht eine Frage in ihren Augen zurückgeblieben sei, sie ihn, ob auch nicht etwas unausgesprochen geblieben sei, ob er auch nicht vergessen oder (was das Schlimmste wäre, und was Gott verhüten möge!) aus Geringschätzung unterlassen habe, ihr eine nebelhafte, für sie unverständliche Partie klar zu machen, ihr seine Anschauung darzulegen.

Je wichtiger und verwickelter eine Frage war, je sorgsamer er sie ihr auseinandersetzte, um so länger und fester ruhte ihr dankbarer Blick auf ihm und um so wärmer, tiefer und herzlicher wurde er.

»Dieses Kind, die Olga!« dachte er erstaunt. »Sie wächst über mich hinaus!«

Er dachte über Olga in einer Weise nach, wie er noch nie und über nichts nachgedacht hatte.

Im Frühjahr reisten sie alle nach der Schweiz. Stolz war schon in Paris zu der Erkenntnis gelangt, daß er von nun an ohne Olga nicht leben könne. Nachdem er über diese Frage ins klare gekommen war, machte er sich auch an die Lösung der Frage, ob Olga ohne ihn leben könne. Aber diese Frage zu beantworten wurde ihm nicht so leicht.

Er ging dabei langsam, vorsichtig und behutsam zu Werke, schritt bald tastend, bald kühn vorwärts und meinte manchmal, jetzt, jetzt sei er am Ziele; jetzt werde er ein unzweifelhaftes Symptom erhaschen, einen Blick, ein Wort, eine Äußerung der Sehnsucht oder der Freude; es fehle nur noch eine geringe Kleinigkeit, eine kaum wahrnehmbare Bewegung der Brauen Olgas, ein Seufzer aus ihrem Munde, und morgen werde der Schleier des Geheimnisses fallen: es werde klar werden, daß sie ihn liebe!

Auf ihrem Gesichte las er ein geradezu kindlich zu nennendes Vertrauen zu ihm; sie blickte ihn manchmal in einer Weise an, wie sie sonst niemanden anblickte; höchstens auf ihre Mutter würde sie einen solchen Blick gerichtet haben, wenn sie eine Mutter gehabt hätte.

Daß er so häufig zu ihr kam und ihr seine freie Zeit, ja ganze Tage widmete, hielt sie nicht für eine Gefälligkeit, für eine schmeichelnde Bekundung seiner Zuneigung, für Liebenswürdigkeit seines Herzens, sondern einfach für eine Pflicht, als ob er ihr Bruder, ihr Vater oder gar ihr Mann wäre: und das war viel, das war alles. Und sie selbst war ihm gegenüber bei jedem Worte, bei jedem Schritte von einer Ungezwungenheit und Aufrichtigkeit, als ob er für sie eine unbestreitbare, schwer wiegende Autorität besäße.

Er wußte auch, daß er diese Autorität besaß: sie bestätigte das jeden Augenblick und sagte, er sei der einzige Mensch, dem sie glaube, und sie könne sich im Leben nur auf ihn und auf weiter niemand in der ganzen Welt blindlings verlassen. Er war allerdings stolz darauf; aber darauf konnte auch irgendein bejahrter, kluger und erfahrener Onkel stolz sein, sogar der Baron, wenn er ein heller Kopf und ein charaktervoller Mensch gewesen wäre.

Aber ob das die Autorität war, wie sie von der Liebe verliehen wird, das war die Frage. Steckte in dieser Autorität auch nur ein wenig von der bezaubernden Täuschung der Liebe, von jener schmeichelhaften Verblendung, bei der das Weib bereit ist, sich arg zu irren und in diesem Irrtume glücklich zu sein? . . .

Nein, sie fügte sich ihm mit so vollem Bewußtsein. Allerdings leuchteten ihre Augen, wenn er eine Idee entwickelte oder seine Seele vor ihr aufdeckte; sie übergoß ihn mit den Strahlen ihres Blickes; aber es war stets zu sehen, wofür sie das tat; manchmal gab sie auch selbst die Ursache an. Aber wenn bei der Liebe der eine sich die Achtung des andern erwirbt, so zollt dieser sie ihm blindlings, ohne klare Gründe; und gerade in dieser Blindheit und diesem Mangel an klaren Gründen liegt das Glück. Wenn Olga sich gekränkt fühlte, so war sofort zu sehen, wodurch sie gekränkt war.

Niemals überraschte er sie bei einem plötzlichen Erröten, bei einem freudigen Erschrecken, bei einem schmachtenden oder feurig zitternden Blicke, und wenn ja etwas Ähnliches vorkam und es ihm schien, daß sich ihr Gesicht schmerzlich verzog, als er ihr sagte, er werde in den nächsten Tagen nach Italien reisen, so folgte die Enttäuschung schnell. Denn kaum begann sein Herz infolge dieses wertvollen, seltenen Symptoms starr zu werden und sich mit Blut zu füllen, als auf einmal wieder gleichsam ein Flor alles verhüllte: sie fügte naiv und offenherzig hinzu: »Wie schade, daß ich nicht mit Ihnen dorthin reisen kann; ich hätte so große Lust dazu! Aber Sie werden mir alles erzählen und es mir so anschaulich schildern, daß es so gut sein wird, als wäre ich selbst dagewesen.«

Und durch diesen offenen, vor niemand verheimlichten Wunsch und durch dieses gewöhnliche, höfliche Lob seiner Kunst zu erzählen war der Zauber zerstört. Soeben hatte er die kleinsten Züge gesammelt, soeben war es ihm gelungen, das feinste Spitzengewebe herzustellen, es fehlte zur Vollendung nur noch eine Masche . . . jetzt . . . im nächsten Augenblick . . . Und plötzlich wurde sie wieder ruhig, gleichmäßig, einfach, manchmal sogar kühl. Sie saß da, beschäftigte sich mit ihrer Handarbeit, hörte ihm schweigend zu, hob ab und zu den Kopf in die Höhe und richtete auf ihn so neugierige, fragende, von rein sachlichem Interesse erfüllte Blicke, daß er zu wiederholten Malen ärgerlich das Buch hinwarf oder irgendeine Auseinandersetzung abbrach, aufsprang und zur Tür ging. Er wandte sich um: sie sah ihm erstaunt nach; er schämte sich, kehrte zurück und erfand eine Entschuldigung.

Sie hörte sie harmlos an und glaubte sie. Nicht einmal ein Zweifel, ein schelmisches Lächeln war an ihr zu sehen.

»Liebt sie, oder liebt sie nicht?« diese Frage ging ihm immer im Kopfe herum.

Wenn sie liebte, warum war sie dann so vorsichtig und verschlossen? Wenn sie nicht liebte, warum war sie so freundlich und fügsam? Er wollte auf eine Woche von Paris nach London fahren und kam erst am Tage der Abreise, um ihr davon Mitteilung zu machen; vorher hatte er nichts davon gesagt.

Wenn sie plötzlich erschrocken wäre, sich im Gesichte verändert hätte, dann wäre alles entschieden gewesen; das Geheimnis wäre gelüftet gewesen, und er wäre glücklich geworden! Aber sie drückte ihm kräftig die Hand und wurde traurig: er war in Verzweiflung. »Ich werde mich schrecklich langweilen«, sagte sie. »Ich möchte gleich losweinen; ich fühle mich jetzt wie verwaist. Ma tante! Hören Sie nur: Andrei Iwanowitsch verreist!« fügte sie in weinerlichem Tone hinzu.

Sie hatte ihn sehr gekränkt.

»Sogar an die Tante hat sie sich gewandt!« dachte er. »Das fehlte mir noch! Ich sehe, daß es ihr leid tut, daß sie mir vielleicht geneigt ist; aber diese Zuneigung kann man, wie eine Ware auf dem Markte, in so und so langer Zeit für so und soviel Aufmerksamkeit und Gefälligkeit kaufen . . . Ich werde nicht wieder zurückkehren«, dachte er ingrimmig. »Nein, diese Olga ist nicht mehr das kleine Mädchen, das mir einst auf jeden Wink gehorchte. Was hat sie nur?«

Und er versank in tiefes Nachdenken.

Was hatte sie nur? Ihm war die Kleinigkeit unbekannt, daß sie schon einmal geliebt hatte, daß sie schon, soweit sie dazu imstande war, jene Periode durchgemacht hatte, wo ein junges Mädchen sich nicht zu beherrschen versteht, plötzlich errötet und den Schmerz im Herzen, die fieberhaften Symptome der Liebe und den ersten heißen Affekt nur schlecht verbirgt.

Hätte er dies gewußt, so würde er, wenn auch nicht das Geheimnis, ob sie ihn liebe oder nicht, so doch wenigstens soviel erkannt haben, warum es so schwierig war zu erraten, was mit ihr vorging.

In der Schweiz waren sie an allen Punkten, die von den Reisenden besucht zu werden pflegen. Aber am häufigsten und mit besonderer Vorliebe hielten sie sich an wenig besuchten stillen Orten auf. Sie (oder wenigstens Stolz) waren so mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, daß sie vom Reisen ermüdet wurden und dieses für sie in die zweite Linie zurückrückte.

Er stieg mit ihr auf den Bergen umher, betrachtete die Schluchten und Wasserfälle, und in jedem Rahmen war sie für ihn der Hauptgegenstand. Er ging mit ihr auf schmalen Bergpfaden, während die Tante unten im Wagen saß; er beobachtete heimlich mit scharfem Auge, wie sie nach Ersteigung eines Berges stehen blieb, Atem schöpfte, und was für einen Blick sie auf ihn richtete; denn unfehlbar sah sie immer zuerst ihn an; das wußte er schon bestimmt im voraus.

Das wäre ja nun schön gewesen; es wurde ihm dabei warm und leicht ums Herz; aber dann ließ sie plötzlich ihre Blicke über die Landschaft schweifen, stand da, ohne sich zu rühren, vergaß sich und alles in einem beschaulichen Dämmerzustande – und er existierte für sie nicht mehr.

Sowie er sich bewegte, sich in Erinnerung brachte und ein Wort sprach, schrak sie zusammen und schrie manchmal auf: es war klar, daß sie vergessen hatte, ob er bei ihr oder in weiter Ferne sei, ja ob er überhaupt auf der Welt sei.

Dafür sprach sie nachher zu Hause, am Fenster, auf dem Balkon mit ihm allein, sprach mit ihm lange und holte lange aus ihrer Seele die empfangenen Eindrücke hervor, bis sie sich ganz ausgesprochen hatte; sie sprach lebhaft, mit Begeisterung, hielt mitunter inne, suchte nach einem Worte, fing einen Ausdruck, mit dem er ihr einhalf, von seinem Munde auf, und in ihrem Blicke erglänzte ein Strahl von Dankbarkeit für die Hilfe. Oder sie setzte sich, blaß vor Müdigkeit, in einen großen Lehnstuhl, und nur ihre verlangenden, nicht ermüdeten Augen sagten ihm, daß sie ihn hören wolle.

Sie hörte zu, ohne sich zu rühren, ließ sich aber kein Wort entgehen und beachtete jede Nuance. Wenn er aufhörte zu reden, hörte sie noch weiter zu; ihre Augen fragten noch, und er fuhr auf diese stumme Aufforderung hin fort, sich mit neuer Kraft und Lebhaftigkeit auszusprechen.

Das wäre ja nun schön gewesen; es wurde ihm warm und leicht um das stark pochende Herz; er sagte sich, sie finde darin ihr Leben und verlange nichts weiter; hier sei ihre Welt, in der sich ihr Interesse konzentriere. Aber dann stand sie plötzlich ermüdet auf, und dieselben soeben noch fragenden Augen baten ihn wegzugehen, oder sie hatte Hunger bekommen und aß mit solchem Appetit . . .

All das wäre sehr schön gewesen: er war kein Phantast; er wollte keine stürmische Leidenschaft, wie auch Oblomow eine solche nicht gewünscht hatte, nur aus anderen Gründen. Aber er hätte doch gewünscht, daß das Gefühl erst dann in ruhigem Bette dahinflösse, nachdem es zuerst an der Quelle heiß aufgewallt wäre, so daß man daraus schöpfen und sich berauschen könnte und dann das ganze Leben hindurch wüßte, woher diese Quelle des Glückes entspringe.

»Liebt sie, oder liebt sie nicht?« fragte er sich in qualvoller Erregung, die ihm beinah blutigen Schweiß auf die Stirn treten ließ und ihm fast die Tränen in die Augen trieb.

Diese Frage wurde für ihn immer mehr eine brennende; sie umfing ihn wie eine Flamme und hemmte alle seine Absichten; es war die Hauptfrage, die einzige Frage nicht mehr seiner Liebe, sondern seines Lebens. Er hatte jetzt für nichts anderes Raum in der Seele.

Es schien, als ob in diesem halben Jahr alle die Qualen und Foltern der Liebe, denen er bei seinen Begegnungen mit Frauen früher so geschickt entgangen war, sich mit einem Mal zusammengefunden hätten und ihn zur Vergeltung peinigten. Er fühlte, daß auch sein gesunder Organismus nicht standhalten werde, wenn diese Anspannung des Geistes, des Willens und der Nerven noch monatelang fortdauere. Er begriff (was ihm bis dahin fremd gewesen war), wie die Kräfte bei diesen den Augen verborgenen Kämpfen der Seele mit der Leidenschaft aufgerieben werden, und wie das Herz von unheilbaren Wunden zerfleischt wird, die zwar nicht bluten, aber dem Leidenden ein Stöhnen abzwingen, und wie sogar das Leben dahinschwindet.

Er hatte das stolze Vertrauen auf seine Kraft bis zu einem gewissen Grade verloren; er scherzte nicht mehr leichtfertig, wenn er Erzählungen hörte, wie manche Leute aus allerlei Ursachen, unter anderm auch aus Liebe, den Verstand verloren hätten und dahingesiecht seien. Es wurde ihm bange.

»Nein, ich werde der Sache ein Ende machen«, sagte er sich; »ich werde wie früher in ihre Seele hineinblicken, und morgen werde ich entweder glücklich sein oder wegreisen!«

»Ich habe keine Kraft mehr!« fuhr er, sich im Spiegel betrachtend, fort. »Ich sehe ganz entstellt aus . . . Es ist genug! . . .«

Er ging gerade auf sein Ziel los, das heißt, er ging zu Olga.

Wie stand es aber mit Olga? Bemerkte sie seinen Zustand nicht, oder war sie dagegen gefühllos?

Bemerken mußte sie ihn mit Notwendigkeit: auch Frauen, die nicht ein so feines Empfinden besitzen wie sie, verstehen es, freundschaftliche Ergebenheit und Dienstfertigkeit von der zarten Äußerung eines andern Gefühls zu unterscheiden. Koketterie konnte niemand bei ihr für möglich halten, der eine richtige Vorstellung von ihrer wahren, ungeheuchelten, ihr von Natur eigenen Moralität hatte. Sie war über diese gewöhnliche Schwäche erhaben.

Es blieb nur die Annahme, daß sie ohne alle praktischen Absichten an dieser ununterbrochenen, von Geist und Leidenschaft erfüllten Verehrung von seiten eines solchen Mannes wie Stolz Gefallen fand. Und allerdings fand sie daran Gefallen: diese Verehrung diente dazu, ihr verletztes Selbstgefühl wieder aufzurichten, und stellte sie allmählich wieder auf jenes Piedestal, von dem sie herabgefallen war; allmählich wurde ihr Stolz wieder rege.

Aber wie dachte sie denn darüber, zu welchem Ende diese Verehrung schließlich kommen solle? Diese Verehrung konnte sich doch nicht immer in einem ewigen Kampfe der Wißbegier Stolzens mit ihrem hartnäckigen Schweigen äußern. Ahnte Olga wenigstens, daß dieser ganze Kampf des Liebenden nicht vergeblich sein werde, daß Stolz eine Sache glücklich durchführen werde, in der er soviel Willen und Charakterstärke hineingesteckt hatte? Sollte er dieses leuchtende Feuer vergebens aufgewandt haben? Oder sollte in den Strahlen dieses leuchtenden Feuers das Bild Oblomows und jener Liebe untergehen?

Sie verstand das nicht, war sich dessen nicht klar bewußt, kämpfte verzweifelt mit diesen Fragen und mit sich selbst und wußte nicht, wie sie aus diesem Chaos herauskommen könne.

Wie sollte sie sich verhalten? In dieser unentschiedenen Lage zu verharren war nicht möglich; irgendeinmal mußte es von diesem stummen Spiele und Kampfe der in der Brust verschlossenen Gefühle zu Worte kommen – welche Auskunft sollte sie dann über das vergangene Gefühl geben? Wie sollte sie es nennen, und wie sollte sie dasjenige Gefühl nennen, das sie jetzt Stolz gegenüber empfand?

Wenn das Liebe war, was sie jetzt Stolz gegenüber empfand, was war dann eigentlich jene Liebe gewesen? Koketterie, Wankelmut oder noch etwas Schlimmeres? Es wurde ihr glühend heiß bei diesen Gedanken, und die Röte der Scham stieg ihr ins Gesicht. Eine solche Anschuldigung konnte sie nicht gegen sich selbst erheben.

Wenn jenes Gefühl aber eine ernste, reine Liebe gewesen war, was war dann ihr Verhalten Stolz gegenüber? War das ein Spiel, ein Betrug, eine schlaue Spekulation, um ihn zum Heiraten zu verleiten und dadurch den Wankelmut ihres Benehmens zu verdecken? Es überlief sie kalt bei dem bloßen Gedanken, und Blässe überzog ihre Wangen.

Aber wenn es kein Spiel, kein Betrug, keine Spekulation war – was war es dann? etwa wieder Liebe?

Bei dieser Annahme wurde sie ganz fassungslos: eine zweite Liebe sieben, acht Monate nach der ersten? Wer würde ihr das glauben? Wie würde sie davon auch nur ein Wort fallen lassen können, ohne bei dem Hörer Erstaunen oder vielleicht sogar Verachtung hervorzurufen? Sie wagte daran gar nicht zu denken; sie hatte kein Recht dazu!

Sie suchte in ihrer Erfahrung umher: dort fand sie keine Beispiele für eine zweite Liebe. Sie erinnerte sich an die Autorität altjüngferlicher Tanten, verschiedener kluger Mädchen, ja auch einiger Schriftsteller, die als »Denker auf dem Gebiete der Liebe« galten – von allen Seiten hörte sie das unerbittliche Verdikt: »Das Weib liebt nur ein einziges Mal wahrhaft.« Auch Oblomow hatte sein Urteil in diesem Sinne abgegeben. Sie erinnerte sich an Sonitschka, wie diese sich wohl über eine zweite Liebe äußern würde; aber von Leuten, die aus Rußland kamen, hörte sie, daß ihre Freundin bereits zu einer dritten Liebe übergegangen sei . . . Nein, nein, sie liebte Stolz nicht (dies war das Resultat, zu dem sie gelangte); das war auch gar nicht möglich! Sie hatte Oblomow geliebt, und diese Liebe war gestorben; die Blume des Lebens war verwelkt für immer! Sie empfand für Stolz nur Freundschaft, eine Freundschaft, die sich auf seine vortrefflichen Eigenschaften und dann auf seine Freundschaft für sie, auf seine Gefälligkeit und auf sein Zutrauen zu ihr gründete.

So wies sie den Gedanken einer Liebe zu ihrem alten Freunde als etwas ganz Unmögliches von sich.

Dies war der Grund, weswegen Stolz auf ihrem Gesichte und in ihren Worten weder ein positives Zeichen von Gleichgültigkeit gewahren konnte, noch auch einen momentanen Blick oder auch nur einen Funken eines Gefühles, das auch nur um Haaresbreite über die Grenze einer warmen, herzlichen, aber gewöhnlichen Freundschaft hinausgegangen wäre.

Um alledem mit einem Male ein Ende zu machen, blieb ihr nur eines übrig: nachdem sie die Symptome einer entstehenden Liebe bei Stolz bemerkt hatte, ihr keine Nahrung und keine Gelegenheit zur Weiterentwicklung zu geben und so bald wie möglich wegzureisen. Aber sie hatte schon zu viel Zeit verloren: die Liebe war schon vor langer Zeit entstanden. Zudem konnte sie nicht umhin vorherzusehen, daß das Gefühl bei ihm den Charakter einer Leidenschaft annehmen werde; er war eben kein Oblomow: ihm konnte man durch eine Abreise nicht entfliehen.

Physisch wäre dies allerdings möglich gewesen; aber in geistiger Hinsicht war es ihr unmöglich wegzufahren. Anfangs hatte sie nur von den früheren Rechten der Freundschaft Gebrauch gemacht und in Stolz, wie ehemals, bald einen munteren, witzigen, spöttischen Gesellschafter gefunden, bald einen zuverlässigen, tiefen Beobachter der Erscheinungen des Lebens, alles dessen, was ihnen widerfuhr oder an ihnen vorbeizog und ihr Interesse erregte.

Aber je häufiger sie miteinander zusammenkamen, um so mehr näherten sie sich geistig einer dem andern, und um so bedeutsamer wurde die Rolle, die er in Olgas Leben spielte: aus einem bloßen Beobachter wurde er für sie unmerklich ein Interpret der Erscheinungen des Lebens und ein Führer auf dem Lebenswege. Er wurde unsichtbarerweise ihr Verstand und ihr Gewissen, und es entstanden neue Rechte und neue geheime Bande, die Olgas ganzes Leben umstrickten, alles außer einem einzigen geheimen Winkelchen, das sie sorgsam vor seinem Späherblicke und vor seinem Urteile verbarg.

Sie ließ sich diese geistige Bevormundung ihres Verstandes und ihres Herzens gefallen und sah, daß auch sie ihrerseits Einfluß auf ihn gewonnen hatte. Sie hatten Rechte miteinander ausgetauscht; sie hatte diesen Austausch stillschweigend geschehen lassen, als ob sie ihn gar nicht bemerkte.

Wie konnte sie jetzt das alles rückgängig machen? . . . Und überdies steckte darin soviel . . . soviel geistige Anregung . . . soviel Vergnügen . . . soviel Mannigfaltigkeit . . . soviel Leben . . . Was sollte sie tun, wenn das alles auf einmal in Wegfall käme? Und als ihr der Gedanke zu fliehen kam, war es dazu schon zu spät; sie war dazu nicht mehr imstande.

Jeder Tag, den sie ohne ihn verbracht hatte, jeder Gedanke, den sie ihm nicht anvertraut und nicht mit ihm geteilt hatte, war für sie farblos und bedeutungslos.

»O Gott! Wenn ich seine Schwester sein könnte!« dachte sie. »Welches Glück, ein lebenslängliches Recht auf einen solchen Mann zu haben, nicht nur auf seinen Verstand, sondern auch auf sein Herz, das Zusammensein mit ihm in gesetzlich erlaubter, offener Weise zu genießen, ohne daß ich es mit schweren Opfern und Kränkungen erkaufen müßte, und ohne daß ich ihm die klägliche Vergangenheit anzuvertrauen brauchte. Aber jetzt, was bin ich jetzt? Wenn er wegreist, habe ich nicht nur kein Recht, ihn zurückzuhalten, sondern ich muß die Trennung sogar wünschen. Und wenn ich versuchen wollte, ihn zurückzuhalten, was könnte ich ihm sagen, mit welchem Rechte könnte ich verlangen, ihn jeden Augenblick zu sehen und zu hören? Weil ich mich langweilen, mich nach ihm sehnen würde, weil er mich belehrt, mich erheitert, weil er mir nützlich und angenehm ist. Gewiß, das ist ein Grund, aber kein Recht. Und was gebe ich ihm als Gegenleistung? Das Recht, mich selbstlos mit liebevoller Bewunderung anzusehen, ohne daß er es wagen dürfte an Gegenseitigkeit auch nur zu denken, während doch so viele andere Frauen sich glücklich schätzen würden . . .«

Sie quälte sich mit Überlegungen, wie sie aus dieser Lage herauskommen könne, und sah kein Ziel und kein Ende. Sie fürchtete von der Zukunft nur, daß er sich enttäuscht fühlen und sich für immer von ihr trennen werde. Manchmal ging ihr der Gedanke durch den Kopf, ihm alles zu entdecken, um mit einem Schlage ihren und seinen Kampf zu beenden; aber sobald sie ernstlicher daran dachte, fehlte ihr der Mut. Sie schämte sich, und das Herz tat ihr weh.

Das Seltsamste war, daß sie, seit sie von Stolz unzertrennlich geworden war, und er sich ihres Lebens bemächtigt hatte, ihre Vergangenheit nicht mehr achtete und sogar angefangen hatte, sich ihrer zu schämen. Hätte zum Beispiel der Baron oder sonst jemand davon erfahren, so würde sie allerdings verlegen geworden sein und sich unbehaglich gefühlt haben; aber sie hätte nicht solche Pein ausgestanden, wie sie sie jetzt bei dem Gedanken ausstand, daß Stolz davon erfahren könnte.

Sie stellte sich mit Entsetzen vor, was sich auf seinem Gesichte malen, wie er sie anblicken, was er sagen, was er dann denken werde. Sie werde ihm auf einmal so geringwertig, so schwach und so klein erscheinen. Nein, nein, um keinen Preis!

Sie begann sich zu beobachten und entdeckte mit Schrecken, daß sie sich nicht nur ihres früheren Liebesverhältnisses, sondern auch des Helden dieses Liebesverhältnisses schämte. Und voll schmerzlicher Reue schalt sie sich, weil sie für die tiefe Ergebenheit ihres früheren Freundes so undankbar sei. Vielleicht hätte sie sich auch an dieses Gefühl der Scham gewöhnt und es ertragen gelernt (woran gewöhnt sich der Mensch nicht!), wenn ihre Freundschaft für Stolz frei von allen selbstischen Absichten und Wünschen gewesen wäre. Aber wenn sie auch jedes listige, schmeichelnde Geflüster ihres Herzens unterdrückte, so hatte sie doch die Träumereien ihrer Phantasie nicht in der Gewalt: oft stand gegen ihren Willen das erleuchtete Bild dieser zweiten Liebe vor ihrem geistigen Blicke; zu immer mehr verführerischer Gestalt wuchs der Traum von einem reichen Glücke heran, von einem Glücke nicht an Oblomows Seite, nicht in trägem Dämmerzustande, sondern auf dem weiten Arbeitsfelde eines vielseitigen Lebens, mit all seiner Tiefe, mit all seinen Reizen und Leiden – das Bild des Glückes an Stolzens Seite . . .

Dann vergoß sie heiße Tränen über ihre Vergangenheit, konnte sie aber damit nicht wegwaschen. Sie ernüchterte sich von ihrem Glückstraume und rettete sich mit noch größerer Vorsicht hinter die undurchdringliche Mauer des Schweigens und jenes freundschaftlichen Gleichmutes, der für Stolz eine solche Pein war. Dann aber vergaß sie sich wieder, ließ sich in aller Selbstlosigkeit durch die Gegenwart des Freundes hinreißen und war bezaubernd, liebenswürdig und zutraulich, bis der unerlaubte Traum von einem Glücke, auf das sie jedes Recht verloren hatte, sie daran erinnerte. daß die Zukunft für sie verloren war, daß die rosigen Träume schon hinter ihr lagen und die Blüte des Lebens abgefallen war.

Wahrscheinlich wäre es ihr mit den Jahren gelungen, sich mit ihrer Lage auszusöhnen und sich der Hoffnung auf die Zukunft zu entwöhnen, wie das alle alten Jungfern tun; sie wäre dann entweder in kalte Apathie versunken oder hätte angefangen, sich mit guten Werken zu beschäftigen; aber plötzlich nahm ihr unerlaubter Traum eine drohendere Gestalt an, als sie aus einigen Worten, welche Stolz entfahren waren, klar erkannt hatte, daß sie an ihm einen Freund verloren und einen leidenschaftlichen Anbeter gewonnen hatte. Die Freundschaft war in der Liebe untergegangen.

Sie war an jenem Morgen, an dem sie dies entdeckt hatte, blaß, ging den ganzen Tag nicht aus, war sehr aufgeregt, kämpfte mit sich selbst, dachte darüber nach, was sie jetzt tun müsse, welche Pflicht ihr obliege – aber sie konnte darüber nicht ins klare kommen. Sie verwünschte nur sich selbst, warum sie nicht gleich am Anfang ihr Schamgefühl besiegt und ihrem Freunde Stolz die Vergangenheit enthüllt habe; jetzt müsse sie auch noch ihr Entsetzen besiegen.

Es kamen bei ihr auch Anfälle von Entschlossenheit vor, wo es ihr in der Brust weh tat und die Tränen gewaltsam hervorkommen wollten, wo es sie trieb, zu ihm hinzustürzen und ihm nicht mit bloßen Worten, sondern unter Schluchzen, Krämpfen und Ohnmachtsanfällen von ihrer Liebe zu erzählen, damit er auch ihre Buße sähe.

Sie hatte gehört, wie andere in ähnlichen Fällen handelten. Sonitschka zum Beispiel hatte ihrem Bräutigam von dem Kornett gesagt, sie habe ihn nur zum besten gehalten; er sei noch ein unreifer Junge; sie habe ihn absichtlich in der Kälte warten lassen, bis sie herausgekommen sei, um in den Wagen zu steigen, und so weiter.

Sonitschka würde kein Bedenken getragen haben, auch von Oblomow zu sagen, sie habe mit ihm nur ihren Scherz getrieben, um sich zu amüsieren; er sei so komisch; ob man denn »einen solchen Mehlsack« lieben könne; das könne doch niemand glauben. Indes hätte ein solches Benehmen wohl Sonitschkas Mann gelten lassen und auch viele andere, aber nicht Stolz.

Olga hätte der Sache auch ein schönes Mäntelchen umhängen und sagen können, sie habe Oblomow nur aus dem Abgrunde herausziehen wollen und deshalb sozusagen zu dem Mittel einer freundschaftlichen Koketterie gegriffen, um einen Menschen, dessen Lebenslicht im Erlöschen gewesen sei, neu zu beleben und sich dann wieder von ihm abzuwenden. Aber das wäre schon gar zu gesucht und gekünstelt und jedenfalls unwahr gewesen . . . Nein, es gab keine Rettung!

»O Gott, in was für einem Sumpfe stecke ich!« dachte Olga in bitterer Pein. »Soll ich es ihm enthüllen? . . . Ach nein, mag er es erst recht spät oder niemals erfahren! Aber wenn ich es ihm nicht enthülle, so ist das ganz dasselbe wie eine Unterschlagung. Das hat Ähnlichkeit mit Betrug, mit Gunstbuhlerei. O Gott, hilf mir!« Aber es wurde ihr keine Hilfe zuteil.

Wie sehr sie sich auch über Stolzens Anwesenheit freute, so hätte sie doch manchmal lieber gewünscht, nicht mehr mit ihm zusammenzutreffen, nur wie ein kaum wahrnehmbarer Schatten durch sein Leben hindurchzugehen und sein klares, verständiges Dasein nicht durch eine unrechtmäßige Leidenschaft zu verdüstern.

Sie würde sich (so dachte sie) noch eine Weile über ihre unglückliche Liebe grämen, über das Vergangene weinen und die Erinnerung daran in ihrer Seele begraben; dann aber . . . dann würde sie vielleicht eine »anständige Partie« finden, wie es deren viele gäbe, und eine gute, verständige, sorgsame Frau und Mutter werden; das Vergangene aber würde sie für eine mädchenhafte Träumerei halten, und sie würde nicht sowohl leben als das Leben erdulden. Das sei ja die Art, wie es alle machten!

Aber hier handelte es sich nicht um sie allein; hier war noch ein andrer beteiligt, und dieser andre setzte auf sie seine besten und größten Lebenshoffnungen.

»Warum habe ich geliebt?« fragte sie sich in selbstquälerischem Grame und erinnerte sich an den Morgen im Parke, als Oblomow sich von ihr trennen wollte und sie die Vorstellung hatte, das Buch ihres Lebens würde sich für immer schließen, wenn er diese Absicht ausführe. Sie hatte damals die Frage der Liebe und des Lebens mit solcher Kühnheit und Leichtigkeit gelöst, und alles war ihr so klar erschienen – und nun hatte sich alles zu einem unlösbaren Knoten zusammengewirrt.

Sie war sich so klug vorgekommen und hatte gemeint, man brauche nur die Dinge einfach anzusehen und geradeaus zu gehen; dann werde das Leben sich gehorsam wie ein Teppich zu ihren Füßen hinbreiten – und da war es nun ganz anders gekommen! . . . Sie konnte nicht einmal einem andern die Schuld zuwälzen; sie allein war die Verbrecherin! . . .

Olga ahnte nicht, warum Stolz gekommen war; sie erhob sich sorglos vom Sofa, legte das Buch hin und ging ihm entgegen.

»Störe ich Sie auch nicht?« fragte er und setzte sich in ihrem Zimmer an ein Fenster, das nach dem See hinausging. »Sie lasen?«

»Nein, ich hatte schon aufgehört zu lesen: es wird schon zu dunkel. Ich habe Sie erwartet!« antwortete sie in weichem, freundschaftlichem, zutraulichem Tone.

»Um so besser; ich muß mit Ihnen reden«, sagte er ernst und rückte ihr einen andern Lehnstuhl ans Fenster.

Sie fuhr zusammen und blieb stumm an demselben Fleck stehen. Dann ließ sie sich mechanisch in den Lehnstuhl sinken und saß mit gesenktem Kopfe, und ohne die Augen zu erheben, in einem qualvollen Zustande da. Sie wäre in diesem Augenblicke am liebsten hundert Werst weit von diesem Orte weggewesen.

Da leuchtete wie ein Blitz in ihrem Gedächtnisse die Vergangenheit auf. »Das Gericht ist gekommen! Man darf mit dem Leben nicht spielen wie mit Puppen!« glaubte sie eine fremde Stimme ihr zurufen zu hören. »Treib keinen Scherz mit dem Leben; sonst wirst du dafür büßen!«

Sie schwiegen mehrere Minuten. Er sammelte augenscheinlich seine Gedanken. Olga betrachtete ängstlich sein abgemagertes Gesicht, die zusammengezogenen Augenbrauen, die aufeinandergepreßten Lippen mit dem Ausdrucke fester Entschlossenheit.

»Das ist die Nemesis . . .« dachte sie und zuckte innerlich zusammen. Beide bereiteten sich gleichsam zu einem Zweikampfe vor.

»Sie erraten gewiß, Olga Sergejewna, wovon ich sprechen will?« sagte er, indem er sie fragend ansah.

Er saß an einem Fensterpfeiler, der sein Gesicht beschattete, während das Licht vom Fenster gerade auf sie fiel, so daß er lesen konnte, was in ihrem Geiste vorging.

»Wie kann ich das wissen?« antwortete sie leise.

Diesem gefährlichen Gegner gegenüber bewies sie weder die Willenskraft und Charakterfestigkeit noch den Scharfsinn und die Selbstbeherrschung, mit denen sie Oblomow stets entgegengetreten war.

Sie sah ein, daß. wenn sie sich bisher vor Stolzens scharfem Blicke hatte verbergen und den Krieg glücklich führen können, sie dies ganz und gar nicht, wie im Kampfe mit Oblomow; ihrer Kraft, sondern nur Stolzens hartnäckigem Schweigen und seinem verschlossenen Benehmen verdankte. Aber im offenen Felde war das Übergewicht nicht auf ihrer Seite, und darum wollte sie durch die Frage: »Wie kann ich das wissen?« nur einen Zollbreit Raum und eine Minute Zeit gewinnen, damit der Feind seine Absicht deutlicher enthülle.

»Sie wissen es nicht?« sagte er schlicht. »Nun gut, dann werde ich es sagen . . .«

»Ach nein!« entfuhr es ihr plötzlich.

Sie ergriff ihn bei der Hand und sah ihn an, als ob sie um Schonung bäte.

»Sehen Sie wohl; also hatte ich doch erraten, daß Sie es wissen!« sagte er. »Warum sagten Sie dann Nein?« fügte er dann traurig hinzu.

Sie schwieg.

»Wenn Sie vorhergesehen haben, daß ich mich einmal aussprechen würde, so haben Sie gewiß auch gewußt, was Sie mir antworten wollen?« fragte er.

»Ich habe es vorhergesehen und mich gequält!« sagte sie, indem sie sich gegen die Lehne des Sessels zurücksinken ließ, sich vom Lichte wegwendete und im stillen die Dämmerung anrief, ihr doch recht schnell zu Hilfe zu kommen, damit er nicht den Kampf der Verwirrung und des Kummers auf ihrem Gesicht lese.

»Sie haben sich gequält! Das ist ein furchtbares Wort«, sagte er beinah flüsternd. »Das ist Dantes: ›Laß die Hoffnung für immer fahren!‹ Dann habe ich nichts mehr zu sagen, damit ist alles erledigt! Aber ich danke Ihnen auch dafür«, fügte er mit einem tiefen Seufzer hinzu; »ich bin wenigstens aus dem Chaos und aus dem Dunkel herausgekommen und weiß nun, was ich zu tun habe. Da gibt es nur eine Rettung: so schnell wie möglich zu fliehen!«

Er stand auf.

»Nein, um Gotteswillen, nein!« rief sie erschrocken und flehend, indem sie zu ihm hinstürzte und ihn wieder bei der Hand ergriff. »Haben Sie Mitleid mit mir; was soll aus mir werden?«

Er setzte sich wieder hin und sie ebenfalls.

»Aber ich liebe Sie, Olga Sergejewna!« sagte er beinah rauh. »Sie haben gesehen, was in diesem halben Jahre aus mir geworden ist! Was wollen Sie denn? Einen vollständigen Triumph? Daß ich ganz dahinschwinde oder den Verstand verliere? Das möchte ich denn doch nicht!«

Ihre Miene veränderte sich.

»Reisen Sie weg!« sagte sie mit einem würdigen Ausdruck des unterdrückten Schmerzes über die erlittene Kränkung und zugleich einer tiefen Traurigkeit, die zu verbergen, sie nicht imstande war.

»Verzeihen Sie mir«, bat er; »ich habe mich vergangen! Da haben wir uns nun schon gezankt, ehe wir noch wissen, wie die Sache liegt. Ich weiß, daß Sie das nicht wollen können; aber Sie sind auch nicht imstande, sich in meine Lage zu versetzen, und darum ist Ihnen meine Absicht zu fliehen befremdlich. Der Mensch wird manchmal unbewußterweise zum Egoisten.«

Sie veränderte ihre Körperhaltung auf dem Lehnstuhl, als ob sie unbequem säße, sagte aber nichts.

»Nun, gesetzt, ich bleibe hier: was wird dabei herauskommen?« fuhr er fort. »Sie werden mir natürlich Ihre Freundschaft anbieten; aber die gehört mir ja ohnehin. Wenn ich jetzt wegfahre, wird sie mir auch nach einem Jahre, nach zwei Jahren immer noch gehören. Die Freundschaft ist eine schöne Sache, Olga Sergejewna, wenn sie in der Liebe zwischen einem jungen Manne und einem jungen Weibe oder in der Erinnerung an eine frühere Liebe zwischen alten Leuten besteht. Aber Gott behüte uns davor, daß sie von der einen Seite Freundschaft und von der andern Seite Liebe sei. Ich weiß, daß Ihnen der Umgang mit mir nicht langweilig ist; aber was meinen Sie, wie mir dabei zumute sein wird?«

»Ja, wenn es so ist, dann reisen Sie weg, und Gott sei mit Ihnen!« flüsterte sie kaum vernehmbar.

»Hierbleiben!« überlegte er laut; »auf des Messers Schneide gehen – eine schöne Freundschaft!«

»Aber ist mir denn leichter ums Herz?« erwiderte sie unerwartet.

»Woher könnte Ihnen denn schwer ums Herz sein?« fragte er lebhaft. »Sie . . . Sie lieben ja nicht . . .«

»Ich weiß es nicht, bei Gott, ich weiß es nicht! Aber wenn Sie . . . wenn mein jetziges Leben sich ändert, was wird dann aus mir werden?« fügte sie traurig, beinah wie im Selbstgespräche, hinzu.

»Wie soll ich das verstehen? Erklären Sie es mir, um Gotteswillen!« sagte er, indem er seinen Sessel näher an sie heranrückte. Er war überrascht durch ihre Worte und durch den aus dem Herzen kommenden, unverstellten Ton, in dem sie gesprochen waren.

Er bemühte sich, ihre Gesichtszüge zu erkennen. Sie schwieg. In ihrer Brust war der glühende Wunsch rege, ihn zu beruhigen, das Wort: »Ich habe mich gequält« zurückzunehmen oder es anders auszulegen, als er es aufgefaßt hatte; aber wie sie es auslegen sollte, das wußte sie selbst nicht; sie fühlte nur undeutlich, daß sie beide unter dem Drucke eines verhängnisvollen Mißverständnisses standen, sich in einer falschen Lage befanden, daß ihnen infolgedessen beiden peinlich zumute war, und daß nur er oder, mit seiner Hilfe, sie imstande war, sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart zur Klarheit und Ordnung zu bringen. Aber zu diesem Zwecke mußte sie die Kluft überschreiten, ihm enthüllen, was mit ihr vorgegangen war: wie sehr wünschte sie das, aber wie sehr fürchtete sie sich vor seinem Urteile! »Ich verstehe selbst nichts; ich befinde mich noch mehr als Sie im Chaos und im Dunkel!« sagte sie.

»Hören Sie, haben Sie Vertrauen zu mir?« fragte er, indem er ihre Hand ergriff.

»Ein grenzenloses Vertrauen, wie zu einer Mutter: das wissen Sie«, antwortete sie mit schwacher Stimme.

»Dann erzählen Sie nur, was mit Ihnen in der Zeit, wo wir uns nicht gesehen haben, vorgegangen ist. Sie sind mir jetzt undurchdringlich, während ich früher alle Ihre Gedanken auf Ihrem Gesichte las. Es scheint, daß dies für uns das einzige Mittel ist, um einander zu verstehen. Sind Sie einverstanden?«

»Ach ja . . . das ist notwendig . . . wir müssen auf irgendeine Weise ein Ende machen . . .« sagte sie bekümmert im Hinblick auf das unvermeidliche Geständnis. – »Die Nemesis! Die Nemesis!« dachte sie und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Sie blickte zu Boden und schwieg. Ihn aber befiel infolge dieser einfachen Worte und noch mehr infolge ihres Stillschweigens ein großer Schreck.

»Sie leidet Qualen! O Gott! Was ist mit ihr vorgegangen?« dachte er: er fühlte, wie ihm die Stirn kalt wurde und ihm die Hände und Füße zitterten. Er stellte sich etwas ganz Furchtbares vor. Sie schwieg immer noch und kämpfte offenbar mit sich selbst.

»Also . . . Olga Sergejewna . . .« trieb er sie zur Eile an.

Sie schwieg und machte nur wieder eine nervöse Bewegung, die in der Dunkelheit nicht zu sehen war; es war nur zu hören, wie ihr seidenes Kleid raschelte.

»Ich nehme meinen Mut zusammen«, sagte sie endlich. »Wenn Sie wüßten, wie schwer es mir wird!« fügte sie dann hinzu und wandte sich zur Seite, bemüht, in dem Kampfe obzusiegen.

Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn Stolz alles nicht aus ihrem Munde, sondern durch irgendein Wunder erfahren hätte. Zum Glücke war es dunkler geworden, und ihr Gesicht war schon im Schatten. Nur die Stimme konnte sie verraten; aber die Worte wollten ihr nicht von der Zunge, als ob sie in Verlegenheit wäre, in welchem Tone sie anfangen solle.

»O Gott, wie schwer muß meine Schuld sein, wenn ich mich so schäme und das Herz mir so weh tut!« dachte sie mit innerer Pein.

Und dabei hatte sie vor nicht allzu langer Zeit mit solcher Zuversicht ihr eigenes und ein fremdes Schicksal gelenkt und war so klug und so stark gewesen! Und nun war die Reihe an ihr, wie ein kleines Mädchen zu zittern! Die Scham wegen der Vergangenheit, die Verletzung ihres Ehrgefühles in der Gegenwart und die falsche Situation, in der sie sich befand, das alles peinigte sie . . . Es war nicht zu ertragen!

»Ich werde Ihnen helfen . . . Sie . . . haben geliebt? . . .« brachte Stolz mit Mühe heraus, so weh taten ihm seine eigenen Worte.

Sie bejahte durch Stillschweigen. Ihn befiel wieder ein gewaltiger Schreck.

»Wen denn? Ist das ein Geheimnis?« fragte er. Er bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen, fühlte aber selbst, daß ihm die Lippen zitterten.

Olgas Qualen aber wurden noch heftiger. Sie hätte am liebsten einen andern Namen genannt und eine andre Geschichte ersonnen. Einen Augenblick lang schwankte sie; aber es war nichts zu machen: wie ein Mensch, der im Moment der größten Gefahr sich von einem steilen Ufer hinabwirft oder sich in die Flammen stürzt, so sagte sie plötzlich: »Oblomow.«

Er war starr. Das Stillschweigen dauerte einige Minuten.

»Oblomow?« wiederholte er erstaunt. »Das ist nicht wahr!« fügte er dann, die Stimme senkend, in bestimmtem Tone hinzu.

»Es ist wahr!« antwortete sie ruhig.

»Oblomow!« wiederholte er noch einmal. »Es ist nicht möglich!« fügte er im Tone fester Überzeugung hinzu. »Da liegt irgend etwas vor: Sie haben sich oder Oblomow oder schließlich die Liebe nicht verstanden.«

Sie schwieg.

»Das ist nicht Liebe; das ist etwas anderes, sage ich!« wiederholte er hartnäckig.

»Ja, ich habe mit ihm kokettiert, ihn an der Nase herumgeführt, ihn unglücklich gemacht . . . und nun mache ich mich Ihrer Meinung nach an Sie heran!« sagte sie mit erzwungener Ruhe; aber es war ihrer Stimme anzuhören, daß sie sich gekränkt fühlte und nahe daran war, in Tränen auszubrechen.

»Liebe Olga Sergejewna! Seien Sie nicht böse, reden Sie nicht so; das ist nicht Ihr Ton. Sie wissen, daß ich nichts derartiges denke. Aber es will mir nicht in den Kopf gehen, und ich begreife nicht, wie Oblomow . . .«

»Er ist doch Ihrer Freundschaft würdig; Sie schätzen ihn außerordentlich hoch: warum soll er da nicht der Liebe würdig sein?« verteidigte sie ihn.

»Ich weiß, daß die Liebe minder anspruchsvoll ist als die Freundschaft«, erwiderte er; »sie ist sogar häufig blind; man liebt nicht um der Verdienste willen – das ist immer so. Aber für die Liebe ist etwas notwendig (es sind manchmal nur Kleinigkeiten), was man nicht definieren noch benennen kann, und was mein unvergleichlicher aber ungewandter Ilja nicht besitzt. Das ist der Grund, weshalb ich erstaunt bin. Hören Sie«, fuhr er lebhaft fort, »wir werden auf diese Weise nie zu Ende kommen und einander nie verstehen. Schämen Sie sich der Einzelheiten nicht, schonen Sie sich eine halbe Stunde lang nicht, erzählen Sie mir alles; und dann werde ich Ihnen sagen, von welcher Art das Vergangene war, und vielleicht sogar, was nun in Zukunft geschehen wird . . . Es scheint mir immer noch, daß die Sache . . . sich anders verhält . . . Ach, wenn es doch wahr wäre!« fügte er in hoffnungsvoller Erregung hinzu. »Wenn es doch Oblomow wäre und kein andrer! Oblomow! Das würde ja bedeuten, daß Sie nicht der Vergangenheit, nicht einer Liebe gehören, sondern frei sind . . . Erzählen Sie, erzählen Sie schnell!« schloß er in ruhigem, beinah fröhlichem Tone.

»Ja, mit Gottes Hilfe will ich es tun!« antwortete sie vertrauensvoll; sie freute sich, daß ihr ein Teil ihrer Ketten abgenommen war. »So ganz allein verliere ich den Verstand. Wenn Sie wüßten, wie elend mir zumute ist! Ich weiß nicht, ob ich mich schuldig gemacht habe oder nicht, ob ich mich der Vergangenheit schämen oder sie beklagen soll, ob ich auf die Zukunft hoffen darf oder verzweifeln muß . . . Sie haben von Ihren Qualen gesprochen; aber Sie ahnten nicht die meinigen. Hören Sie mich bis zu Ende an, aber nur nicht mit dem Verstande: ich fürchte mich vor Ihrem Verstande. Hören Sie lieber mit dem Herzen; vielleicht wird Ihr Herz in Erwägung ziehen, daß ich keine Mutter habe, daß ich wie in einem Walde mich nicht zurechtfand . . .« fügte sie leise mit gesenkter Stimme hinzu. »Nein«, verbesserte sie sich dann eilig, »schonen Sie mich nicht! Wenn das Liebe war, so . . . reisen Sie fort« (sie hielt einen Augenblick inne), »und kommen Sie später wieder, wenn bei Ihnen wieder nur die Freundschaft sprechen wird. Wenn es aber Leichtfertigkeit und Koketterie war, so bestrafen Sie mich dadurch, daß Sie weit wegfliehen und mich vergessen. So hören Sie denn!«

Er drückte ihr zur Antwort kräftig beide Hände.

Nun begann Olgas Beichte, eine lange, eingehende Beichte. All das, was so lange an ihr genagt hatte, worüber sie errötet, worüber sie früher gerührt und glücklich gewesen war; um dann auf einmal in den Sumpf des Grames und der Zweifel zu versinken, das alles übertrug sie mit peinlicher Genauigkeit, Wort für Wort aus ihrem Geiste in einen fremden Geist. Sie erzählte von den Spaziergängen, vom Parke, von ihren Hoffnungen, von Oblomows Aufleben und Fall, von dem Fliederzweige, sogar von dem Kusse. Mit Stillschweigen überging sie nur den schwülen Abend im Sommergarten, wahrscheinlich, weil sie selbst noch nicht darüber im klaren war, was für einen Anfall sie damals gehabt hatte.

Am Anfang war nur ihr verlegenes Flüstern zu hören; aber je länger sie redete, um so deutlicher und freier wurde ihre Stimme; von dem Flüstern ging sie zu halblautem Sprechen über und erhob sich dann zu vollen Brusttönen. Sie schloß ruhig, als ob sie etwas von einem andern Erlebtes erzählte. Vor ihren eigenen Augen sank ein Schleier hernieder; und die Vergangenheit tat sich vor ihr auf, in welche unverwandt hineinzublicken sie sich bis zu diesem Augenblicke gefürchtet hatte. Für vieles gingen ihr die Augen auf, und sie hätte ihr Gegenüber dreist angesehen, wenn es nicht dunkel gewesen wäre.

Sie war zu Ende und erwartete das Urteil. Aber Grabesstille war die Antwort.

Was hatte er nur? Es war kein Wort, keine Bewegung, nicht einmal ein Atemzug zu hören, wie wenn niemand bei ihr wäre.

Diese Stummheit ließ in ihr wieder neue Zweifel entstehen.

Das Schweigen dauerte fort. Was bedeutete dieses Schweigen? Welcher Urteilsspruch stand ihr von Seiten des scharfsichtigsten, freundlichsten Richters, den es in der ganzen Welt gab, bevor? Von allen übrigen war zu erwarten, daß sie sie erbarmungslos verurteilen würden; nur er allein konnte ihr Anwalt sein; ihn würde sie dazu erwählen . . . er würde alles verstehen, abwägen und besser als sie selbst zu ihrem Vorteil geltend machen! Aber er schwieg: war ihre Sache wirklich verloren? . . .

Es wurde ihr wieder bange.

Die Tür öffnete sich, und zwei Kerzen, die das Stubenmädchen hereinbrachte, erhellten mit ihrem Lichte die Ecke, in der die beiden saßen.

Sie warf ihm einen schüchternen, aber gespannten, fragenden Blick zu. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt, sah sie mit sanften, hellen Augen an und weidete sich an ihrer Verlegenheit.

Ihre Angst verging, das Herz wurde ihr warm. Beruhigt seufzte sie auf und wäre beinah in Tränen ausgebrochen. Sie gewann augenblicklich die Nachsicht mit sich selbst und das Vertrauen zu ihm zurück. Sie war glücklich wie ein Kind, das Verzeihung erlangt hat und beruhigt und geliebkost worden ist.

»Ist das alles?« fragte er leise.

»Ja, alles!« antwortete sie.

»Und sein Brief?«

Sie nahm den Brief aus ihrem Portefeuille heraus und reichte ihn ihm hin. Er trat an eine Kerze heran, las ihn durch und legte ihn auf den Tisch. Seine Augen aber wandten sich wieder mit ebenjenem Ausdruck zu ihr, den sie schon lange nicht mehr an ihm gesehen hatte.

Vor ihr stand ihr früherer selbstbewußter, ein wenig spöttischer und grenzenlos gutherziger, sie verwöhnender Freund. Auf seinem Gesichte war keine Spur von Leid oder Zweifel sichtbar. Er ergriff ihre beiden Hände, küßte erst die eine, dann die andre, und überließ sich dann einem tiefen Nachdenken. Auch sie verstummte und beobachtete unverwandt jede Bewegung, die die Gedanken auf seinem Gesichte hervorriefen.

Auf einmal stand er auf.

»O Gott, wenn ich gewußt hätte, daß es sich um Oblomow handelt, hätte ich mich dann wohl so gequält?« sagte er und sah sie so freundlich und zutraulich an, als ob sie nicht diese schreckliche Vergangenheit hätte. Es wurde ihr so fröhlich, so festtäglich zumute. Es war ihr so leicht ums Herz. Es wurde ihr klar, daß er der einzige war, vor dem sie sich geschämt hatte; er aber verurteilte sie nicht und floh nicht! Was kümmerte sie das Urteil der ganzen Welt!

Er hatte die Herrschaft über sich wieder zurückgewonnen und war fröhlich; aber das genügte ihr noch nicht. Sie sah, daß sie freigesprochen war; sie wollte jedoch als Angeklagte den Urteilsspruch kennen lernen. Aber Stolz griff nach seinem Hute.

»Wo wollen Sie hin?« fragte sie.

»Sie sind aufgeregt; erholen Sie sich!« sagte er. »Morgen sprechen wir weiter darüber.«

»Sie wollen, daß ich die ganze Nacht nicht schlafen soll?« unterbrach sie ihn, indem sie ihn bei der Hand zurückhielt und ihn veranlaßte, sich auf einen Stuhl zu setzen. »Sie wollen weggehen, ohne mir gesagt zu haben, was das war, was ich jetzt bin, und was ich sein werde? Haben Sie Mitleid mit mir, Andrei Iwanowitsch: wer wird es mir denn sonst sagen? Wer wird mich bestrafen, wenn ich es verdiene, oder . . . wer wird mir verzeihen? . . .« fügte sie hinzu und sah ihn mit einem Blicke so zärtlicher Freundschaft an, daß er den Hut hinwarf und sich beinah selbst vor ihr auf die Knie geworfen hätte.

»Sie mein Engel (erlauben Sie mir, Sie so zu nennen)«, sagte er, »quälen Sie sich nicht unnötigerweise. Weder Sie zu richten noch Sie zu begnadigen ist erforderlich. Ich habe zu Ihrer Erzählung nicht einmal etwas hinzuzufügen. Was können Sie denn noch für Zweifel hegen? Sie wollen wissen, was das war, wie es zu nennen ist? Sie wissen es längst . . . Wo ist Oblomows Brief?« Er nahm diesen Brief vom Tische.

»Hören Sie zu!« sagte er und las: »Ich will Ihnen nur beweisen, daß Ihr jetziges ›Ich liebe Sie‹ keine jetzige Liebe ist, sondern eine zukünftige; das ist nur ein unbewußtes Bedürfnis zu lieben, das in Ermangelung wirklicher Nahrung und wirklichen Feuers in Gestalt eines falschen, nicht wärmenden Lichtes brennt und bei Frauen manchmal in Liebkosungen gegen ein Kind oder gegen eine andere Frau oder sogar einfach in Tränen oder hysterischen Anfällen zum Ausdruck kommt . . . Sie haben sich geirrt; vor Ihnen steht nicht der, den Sie erwartet, von dem Sie geträumt haben. Warten Sie, er wird sich schon einstellen, und dann werden Sie zur Besinnung kommen; Sie werden sich über Ihren Irrtum ärgern und sich seiner schämen . . .«

»Sehen Sie, wie wahr das ist!« sagte er. »Sie haben sich Ihres Irrtums geschämt und sich über ihn geärgert. Hierzu ist nichts hinzuzufügen. Er hat recht gehabt; aber Sie haben ihm nicht geglaubt, und darin besteht Ihre ganze Schuld. Sie beide hätten sich gleich damals voneinander trennen sollen; aber ihm hatte es Ihre Schönheit angetan, und Sie rührte seine taubenhafte Zärtlichkeit!« fügte er ein wenig spöttisch hinzu.

»Ich habe ihm nicht geglaubt; ich meinte, das Herz irre sich nicht.«

»Doch, es irrt sich, und manchmal in der verderblichsten Weise! Aber bei Ihnen beiden war die Sache noch gar nicht bis ans Herz gelangt«, fügte er hinzu. »Was da vorlag, war Phantasie und Selbstgefühl auf der einen Seite, Schwäche auf der andern . . . Und Sie fürchteten, es werde kein andrer Festtag mehr in Ihrem Leben kommen; dieser blasse Strahl werde Ihr Leben erhellen, und dann werde eine ewige Nacht folgen . . .«

»Und die Tränen?« erwiderte sie. »Kam es mir etwa nicht vom Herzen, wenn ich weinte? Ich habe nicht gelogen; ich bin aufrichtig gewesen . . .«

»Mein Gott, worüber weinen Frauen nicht! Sie sagen ja selbst, Sie hätten sich um den Fliederzweig und um die Lieblingsbank gegrämt. Nehmen Sie noch das getäuschte Selbstgefühl, das Mißlingen der Rolle als Retterin und ein wenig Gewohnheit hinzu – wie viele Gründe sind das zum Weinen!«

»Und unsere Zusammenkünfte, unsere Spaziergänge, waren auch die ein Irrtum? Sie erinnern sich, daß ich . . . bei ihm gewesen bin . . .« schloß sie verlegen, und es schien, als wolle sie selbst ihre ersten Worte durch noch stärkere übertönen. Sie gab sich Mühe, sich selbst anzuklagen, nur damit er sie um so wärmer verteidigen möchte, und damit sie in seinen Augen immer mehr gerechtfertigt dastände.

»Aus Ihrer Erzählung geht hervor, daß Sie beide bei den letzten Zusammenkünften nicht mehr wußten, wovon Sie sprechen sollten. Ihrer sogenannten Liebe fehlte es auch an einem Inhalte: sie konnte sich nicht weiter entwickeln. Sie hatten sich schon vor der äußerlichen Trennung innerlich voneinander getrennt und waren nicht der Liebe treu gewesen, sondern einem Trugbilde derselben, das Sie sich selbst ersonnen hatten – das ist das ganze Geheimnis.«

»Und der Kuß?« flüsterte sie so leise, daß er es nicht hörte, sondern nur erriet.

»Oh, das ist allerdings wichtig«, erwiderte er in komisch strengem Tone. »Zur Strafe dafür müßte man Ihnen beim Mittagessen ein Gericht entziehen.« Er sah sie mit immer größerer Freundlichkeit und Liebe an.

»Ein Scherz ist keine Rechtfertigung eines solchen ›Irrtums‹!« versetzte sie ernst, gekränkt durch seine Gleichgültigkeit und durch seinen lässigen Ton. »Es würde mir leichter ums Herz sein, wenn Sie mich durch ein strenges Wort bestraft und mein Verhalten mit seinem richtigen Namen belegt hätten.«

»Ich hätte auch nicht gescherzt, wenn es sich nicht um Ilja, sondern um einen andern handelte«, rechtfertigte er sich. »Dann hätte der Irrtum mit einem Unglück enden können. Aber ich kenne Oblomow . . .«

»Ein anderer, niemals!« unterbrach sie ihn errötend. »Ich habe ihn besser kennengelernt als Sie . . .«

»Nun sehen Sie!« stimmte er ihr zu.

»Aber wenn er sich geändert hätte, aufgelebt wäre, auf mich gehört hätte und . . . hätte ich ihn etwa auch dann nicht geliebt? Wäre etwa auch dann alles nur Unwahrhaftigkeit und Irrtum gewesen?« sagte sie, um die Sache von allen Seiten zu betrachten, damit auch nicht der geringste Fleck, nicht die geringste Dunkelheit zurückbliebe.

»Das heißt, wenn an seiner Stelle ein andrer Mensch gewesen wäre«, unterbrach Stolz sie. »Es ist nicht daran zu zweifeln, daß Ihr beiderseitiges Verhältnis sich dann zur Liebe fortgebildet, sich gefestigt hätte, und dann . . . Aber das wäre eine andere Liebesgeschichte und ein andrer Held; das geht uns nichts an.«

Sie seufzte auf, als ob ihr die letzte Last vom Herzen gefallen wäre. Beide schwiegen.

»Ach, welch ein Glück ist es, wieder zu genesen«, sagte sie langsam, als ob sie wieder auflebte, und richtete auf ihn einen Blick voll so tiefer Dankbarkeit und so heißer, nie dagewesener Freundschaft, daß er in diesem Blicke den Funken zu sehen glaubte, auf den er fast ein Jahr lang vergeblich gewartet hatte. Ein freudiges Zittern lief ihm durch den ganzen Körper.

»Nein, ich bin es, der wieder genest«, erwiderte er und wurde nachdenklich. »Ach, wenn ich nur hätte wissen können, daß der Held dieses Liebesverhältnisses Ilja war! Wieviel Zeit habe ich verloren, wieviel Herzblut geopfert! Wofür? Wozu?« sagte er beinah ärgerlich.

Aber auf einmal schien er diesen Ärger zu überwinden und kam von dem schmerzlichen Sinnen wieder zu sich. Seine Stirn glättete sich, seine Augen wurden heiter.

»Aber das war, wie es scheint, unvermeidlich. Und im Gegensatze dazu: wie ruhig bin ich jetzt und . . . wie glücklich!« fügte er voll Entzücken hinzu.

»Es ist wie ein Traum, als wäre nichts geschehen!« sagte sie nachdenklich und kaum hörbar, erstaunt über ihre plötzliche Wiedergeburt. »Sie haben mich nicht nur von der Scham und der Reue, sondern auch von der Trübsal und dem Schmerze befreit, von allem . . . Wie haben Sie das nur zu Wege gebracht?« fragte sie leise. »Und all das wird vergehen, dieser . . . Irrtum?«

»Es ist sogar schon vergangen, glaube ich!« antwortete er und blickte sie zum erstenmal mit den Augen der Leidenschaft an, ohne dies zu verbergen. »Das heißt, alles, was war.«

»Und das, was . . . sein wird . . . wird das kein Irrtum, sondern . . . Wahrheit sein?« fragte sie stockend.

»Das steht hier geschrieben«, versetzte er, indem er wieder den Brief zur Hand nahm: »›Vor Ihnen steht nicht der, den Sie erwartet, von dem Sie geträumt haben; er wird sich schon einstellen, und dann werden Sie zur Besinnung kommen . . .‹ Und Sie werden ihn lieben, füge ich hinzu, so lieben, daß nicht etwa nur ein Jahr, sondern das ganze Leben für diese Liebe zu kurz sein wird; nur weiß ich nicht, wen«, schloß er und sog sich förmlich mit den Augen an ihr fest.

Sie schlug die Augen nieder und preßte die Lippen zusammen; aber durch die Lider drangen Strahlen nach außen, und die Lippen versuchten vergebens ein Lächeln zurückzuhalten. Sie sah ihn an und lachte so herzlich auf, daß ihr sogar die Tränen in die Augen kamen.

»Ich habe Ihnen gesagt, was mit Ihnen vorgegangen ist, und sogar was mit Ihnen vorgehen wird, Olga Sergejewna«, schloß er. »Sie geben mir aber keine Antwort auf meine Frage, die Sie mich nicht beenden ließen.«

»Aber was kann ich sagen?« erwiderte sie verlegen. »Hätte ich denn, auch wenn ich es könnte, ein Recht, das zu sagen, was Sie so sehr wünschen, und was Sie so sehr verdienen?« fügte sie flüsternd hinzu und sah ihn verschämt an.

In diesem Blicke glaubte er wieder einen Funken einer noch nie dagewesenen Freundschaft zu sehen und zuckte wieder vor Glückseligkeit zusammen.

»Übereilen Sie sich nicht«, erwiderte er; »sagen Sie erst dann, was ich verdiene, wenn Ihre Herzenstrauer und Ihre Anstandstrauer zu Ende sein wird. Mir hat auch dieses Jahr schon etwas gesagt. Jetzt aber beantworten Sie nur die Frage: soll ich wegreisen oder hierbleiben?«

»Hören Sie mal: Sie kokettieren mit mir!« sagte sie fröhlich.

»O nein!« versetzte er ernst. »Das ist nicht die Frage von vorhin; jetzt hat sie einen andern Sinn bekommen: wenn ich bleibe, in welcher rechtlichen Stellung bleibe ich dann?«

Sie wurde plötzlich verlegen.

»Sie sehen, daß ich nicht kokettiere!« fuhr er lachend fort, zufrieden, daß er sie gefangen hatte. »Wir müssen ja nach dem heutigen Gespräche miteinander anders verkehren; wir sind beide nicht mehr dieselben, die wir gestern waren.«

»Ich weiß nicht«, flüsterte sie noch verlegener.

»Gestatten Sie mir, Ihnen einen Rat zu geben?«

»Sprechen Sie . . . ich werde ihn blindlings befolgen!« antwortete sie mit einer beinah leidenschaftlichen Unterordnung.

»Heiraten Sie mich einstweilen, bis der erwartete Er kommt!«

»Ich wage es noch nicht . . .« flüsterte sie, das Gesicht mit den Händen bedeckend, aufgeregt, aber glücklich.

»Warum wagen Sie es denn nicht?« fragte er ebenfalls flüsternd und zog ihren Kopf zu sich heran.

»Und diese Vergangenheit?« flüsterte sie wieder, indem sie ihm wie einer Mutter den Kopf an die Brust legte.

Er nahm ihr leise die Hände vom Gesichte, küßte sie auf den Kopf, freute sich lange liebevoll über ihre Verlegenheit und blickte mit Entzücken auf die hervorquellenden und von den Augen wieder eingesogenen Tränen.

»Sie wird verwelken wie Ihr Flieder!« schloß er. »Sie haben Unterricht genommen; jetzt ist die Zeit gekommen, das Gelernte zu benutzen. Das Leben beginnt: überlassen Sie mir die Sorge für Ihre Zukunft und machen Sie sich darüber keine Gedanken – ich bürge für alles. Wir wollen zur Tante gehen.«

Erst spät machte sich Stolz auf den Heimweg.

»Ich habe gefunden, was mir bestimmt war«, dachte er, während er mit verliebten Augen die Bäume, den Himmel, den See und sogar den vom Wasser aufsteigenden Nebel betrachtete. »Endlich habe ich es erreicht! Wie viele Jahre lang habe ich gedürstet, mich geduldet, meine Seelenkräfte gespart! Wie lange Zeit habe ich gewartet – nun ist alles belohnt: da ist es, das höchste Glück des Menschen!«

Das neue Glück ließ ihn jetzt alles Frühere vergessen: das Kontor und das Wägelchen seines Vaters, die waschledernen Handschuhe, die schmierigen Rechnungen – das ganze geschäftliche Leben. In seinem Gedächtnisse tauchte nur das wohlriechende Zimmer seiner Mutter auf, die Variationen von Herz, die fürstliche Galerie, blaue Augen und braunes gepudertes Haar – und all dies wurde übertönt von einer zärtlichen Stimme, der Stimme Olgas: er hörte im Geiste ihren Gesang . . .

»Olga, mein Weib!« flüsterte er, leidenschaftlich zusammenfahrend. »Ich habe alles gefunden, brauch nichts mehr zu suchen, nach keinem andern Ziele zu streben!«

Ganz benommen von seinem Glücke und in Gedanken versunken ging er nach Hause, ohne auf den Weg und die Straßen zu achten . . .

Olga folgte ihm lange mit den Augen; dann öffnete sie das Fenster und atmete einige Minuten lang die nächtliche Kühle ein; ihre Aufregung legte sich allmählich und ihre Brust atmete gleichmäßig.

Sie richtete ihre Augen auf den See und in die Ferne und dachte so still und tief nach, wie wenn sie im Einschlafen begriffen wäre. Sie wollte das, woran sie dachte und was sie empfand, festhalten, vermochte es aber nicht. Die Gedanken zogen so gleichmäßig dahin wie Wellen; das Blut strömte leicht und glatt durch ihre Adern. Sie fühlte sich glücklich, ohne daß sie hätte angeben können, wo der Anfang und wo die Grenze dieses Glücks war, und worin es bestand. Sie dachte, weshalb es ihr nur so still und friedlich und unendlich wohl und ruhig ums Herz sei, während doch . . .

»Ich bin seine Braut«, flüsterte sie.

»Ich bin Braut«, denkt mit stolzem Beben ein Mädchen, das endlich den Augenblick gekommen sieht, der ihr ganzes Leben erhellt, und sie wächst höher hinan und schaut von der Höhe auf den dunklen Pfad hinab, auf dem sie noch tags zuvor allein und unbeachtet wandelte.

Warum bebte denn Olga nicht? Auch sie war einsam und unbeachtet ihren Weg gewandelt, auch ihr war an einer Wegekreuzung Er begegnet, hatte ihr die Hand gereicht und sie fortgeführt, nicht in den Glanz blendender Strahlen, sondern gleichsam zu dem weiten Wasserspiegel eines Flusses, zu ausgedehnten Feldern und freundlich lächelnden Hügeln. Kein Glanz zwang sie, die Augen zuzudrücken; ihr Herz pochte nicht heftiger; ihre Phantasie flammte nicht auf. Mit stiller Freude ließ sie ihre Phantasie auf der großen Wasserfläche des Lebens, auf seinen weiten Feldern und grünen Hügeln ruhen. Es lief ihr kein Zittern über die Schultern; nur als sie ihren Blick von den Feldern und Hügeln auf den Mann lenkte, der ihr die Hand gereicht hatte, da fühlte sie, daß ihr eine Träne langsam über die Wange floß . . .

Sie saß noch immer da, als ob sie schliefe; so still war der Traum ihres Glückes; sie rührte sich nicht, sie atmete kaum. Alles um sich her vergessend, richtete sie ihren geistigen Blick auf eine Art von stiller, blauer Nacht, die von einem sanften Schimmer, von Wärme und Duft erfüllt war. Der Traum des Glückes breitete seine weiten Flügel aus und schwamm langsam wie eine Wolke über ihrem Haupte am Himmel hin . . .

In diesem Traume sah sie sich nicht für zwei Stunden in Tüll und Spitzen eingehüllt und dann für das ganze Leben mit geringer Alltagskleidung angetan. Sie träumte nicht von einem Festmahle mit vielen Lichtern und fröhlichem Stimmengewirr; sie träumte von ihrem Glücke, aber von einem so schlichten, schmucklosen Glücke, daß sie noch einmal, ohne ein Beben des Stolzes und nur mit tiefer Rührung, flüsterte: »Ich bin seine Braut!«

 


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