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Neunundzwanzigstes Kapitel.

Es wird bewiesen, wie die Vorsehung auf Erden Glück und Unglück gleich vertheilt. Es liegt in der Natur der Freude und des Schmerzes, daß die Unglücklichen in jener Welt Ersatz für ihre Leiden finden müssen.

Meine Freunde, meine Kinder und meine Leidensgefährten! Wenn ich über die Vertheilung des Guten und Bösen auf Erden nachdenke, so finde ich, daß dem Menschen viele Freuden, aber noch mehr Leiden zugetheilt sind. Durchspähten wir auch die ganze Welt, so würden wir doch keinen Menschen so glücklich finden, daß ihm kein Wunsch mehr übrig bliebe. Täglich zeigen uns ja Tausende durch Selbstmord, daß ihnen keine Hoffnung geblieben. Daher scheint es, daß wir in diesem Leben nimmer ganz glücklich, wohl aber vollkommen elend werden können.

Warum muß der Mensch Schmerz empfinden? Warum ist unser Elend zur Hervorbringung allgemeiner Glückseligkeit nothwendig? Da alle anderen Systeme durch die Uebereinstimmung ihrer untergeordneten Theile vollkommen sind, warum bedurfte dieses große System zu seiner Vollkommenheit Theile, die nicht nur andern untergeordnet, sondern auch an sich mangelhaft sind? Das sind Fragen, die nie können beantwortet werden und deren Lösung uns wenig nützen würde. Es hat der Vorsehung gefallen, unsere Neugierde über diesen Gegenstand nicht zu befriedigen und uns allein auf Trostgründe zu beschränken.

In dieser Lage hat der Mensch den freundlichen Beistand der Philosophie zu Hülfe gerufen, und der Himmel, wohl einsehend, daß dieselbe nicht im Stande sei, ihn zu trösten, hat ihm die Hülfe der Religion gesendet. Die Trostgründe der Philosophie sind sehr einschmeichelnd und gefällig; doch täuschen sie oft. Sie sagt uns, das Leben enthalte viele Freuden, wenn wir sie nur gehörig genießen wollten. Freilich müßten wir dagegen manche unvermeidliche Uebel ertragen; doch das Leben sei kurz, und sie gingen bald vorüber. So heben diese Trostgründe einander gegenseitig auf; denn wenn das Leben ein Wohnsitz des Vergnügens ist, so ist die Kürze desselben ein Unglück, und währt es lange, so verlängern sich unsere Leiden. So ist die Philosophie schwach; doch die Religion tröstet uns auf höhere Weise. Der Mensch lebt auf Erden, lehrt sie uns, um seinen Geist auszubilden und sich auf ein anderes Dasein vorzubereiten. Wenn der gute Mensch seine irdische Hülle verläßt und ein seliger Geist wird, so lernt er einsehen, daß er sich schon auf Erden einen Himmel voll Seligkeit geschaffen, während der Elende, der sich durch seine Laster verstümmelt und befleckt, mit Entsetzen von seinem Körper sich trennt und einsieht, daß er der Rache des Himmels vorgegriffen. An die Religion müssen wir uns daher in jeder Lage des Lebens wenden und bei ihr wahrhaften Trost suchen; denn wenn wir auch schon auf Erden glücklich find, so liegt doch Wonne in dem Gedanken, daß wir dieses Glück endlos machen können; und wenn wird elend find, so finden wir Trost in dem Gedanken, daß wir dort einen Ruheplatz finden. So verheißt die Religion dem Glücklichen Fortdauer seiner Wonne und dem Unglücklichen einen Uebergang aus seinem Elend zum Glück.

Doch so gütig auch die Religion gegen alle Menschen ist, so verheißt sie den Unglücklichen noch einen besondern Lohn. Dieser soll nach dem Ausspruch der heiligen Schrift den Kranken, den Nackten, den Schwerbeladenen und den Gefangenen zu Theil werden. Der Stifter unserer Religion erklärt sich überall für den Freund der Unglücklichen, und völlig ungleich den falschen Freunden dieser Welt schenkt er den von den Menschen Aufgegebenen seine Liebe. Menschen ohne Nachdenken haben dies Parteilichkeit oder einen Vorzug genannt, der sich auf kein Verdienst gründe. Doch sie bedachten nicht, daß es selbst nicht in der Macht des Himmels steht, das Geschenk ununterbrochener Glückseligkeit für den Glücklichen zu einer eben so theuren Gabe zu machen, wie für den Elenden. Dem Erstem ist die Ewigkeit nur ein einfacher Segen, da sie ihm höchstens nur vermehrt, was er schon besitzt. Für den letztern ist sie aber ein doppelter Gewinn, denn sie vermindert nicht nur sein Leiden hier auf Erden, sondern belohnt ihn auch dort oben mit Himmelswonne.

Aber auch in anderer Hinsicht ist die Vorsehung gegen den Armen gütiger als gegen den Reichen, denn indem sie das Leben nach dem Tode wünschenswerther macht, so ebnet sie ihm den Uebergang dorthin. Die Unglücklichen sind längst mit dem Kummer in jeder Gestalt vertraut geworden. Der Dulder legt sich ruhig hin, er hat keine Schätze zu bedauern, und nur wenige Bande fesseln ihn ans Leben. Er empfindet nur die natürliche Todesqual beim letzten Kampfe, und diese ist nicht größer, als die Leiden, unter denen er bereits geseufzt. Denn sobald der Schmerz einen gewissen Grad erreicht hat, macht die Natur für jede neue Wunde unempfindlich, die der Tod dem Herzen schlägt.

So hat die Vorsehung dem Unglücklichen in diesem Leben zwei Vorzüge vor dem Glücklichen gegeben – größere Glückseligkeit im Tode und im Himmel die Freudenfülle, die aus dem Contraste mit den früheren Leiden entspringt. Dieser Vorzug, meine Fere und, ist kein geringer Gewinn und scheint eine der Freuden des armen Mannes in der Parabel gewesen zu sein; denn obgleich er schon im Himmel war und alle Wonne empfand, die derselbe gewähren konnte, so wird es doch noch als eine Erhöhung seines Glückes erwähnt, daß er einst Leiden erfahren und nun getröstet werde, daß er das Elend kennen gelernt und jetzt empfinde, was Seligkeit sei.

So seht Ihr also, meine Freunde, daß die Religion gewährt, was die Philosophie nimmer gewähren kann. Sie zeigt uns die Unparteilichkeit des Himmels gegen die Unglücklichen und Glücklichen, so wie die gleichmäßige Vertheilung aller menschlichen Genüsse. Sie verheißt dem Reichen wie dem Armen gleiche Seligkeit jenseits und auf Erden dieselbe Hoffnung auf ihren Besitz. Wenn aber die Reichen den Vorzug haben, daß sie die Freuden dieser Welt genießen, so bleibt den Armen der unendliche Trost, zu wissen, was es heißt, einst elend gewesen zu sein, wenn ihm die höchste Seligkeit jenseits zu Theil wird; und wenn man auch diesen Vorzug unbedeutend nennen wollte, so ist er doch ewig und gleicht wegen seiner Dauer das zeitliche Glück aus, welches die Großen und Reichen in Fülle genossen.

Dies sind nun die Trostgründe, die der Unglückliche hat und durch die er sich über andere Menschen erhaben fühlt, hinter denen er in anderer Hinsicht zurücksteht. Wer das Elend der Armen kennen lernen will, muß es selber erfahren und ertragen. Die zeitlichen Vortheile, die damit verbunden sind, rühmend hervorheben zu wollen, hieße nur Dinge wiederholen, die Niemand glaubt und Niemand versuchen mag. Menschen, die die notwendigsten Lebensbedürfnisse besitzen, sind nicht arm; die aber, denen sie fehlen, sind elend. Ja, meine Freunde, wir müssen elend sein! Keine Bemühung einer aufgeregten Phantasie kann die Forderungen der Natur von sich weisen. Sie kann die feuchte Kerkerluft nicht in balsamische Düfte verwandeln, oder das ängstliche Klopfen eines brechenden Herzens besänftigen. Mag der Philosoph von seinem weichen Lager herab uns zurufen: das Alles lasse sich überwinden! Ach, schon die Anstrengung, die es uns kostet, ist die größte Qual. Der Tod ist leicht, und Jeder kann ihn ertragen; doch Martern sind schrecklich, und die kann Niemand erdulden.

Daher, meine Freunde, müssen uns die Verheißungen einer himmlischen Seligkeit besonders theuer sein; denn wenn unser Lohn uns nur in diesem Leben zu Theil werden sollte, so wären wir in der That die unglücklichsten Menschen. Wenn ich diese düstern Mauern betrachte, die uns einkerkern und schrecken sollen; wenn ich diese Dämmerung sehe, die nur das Grausen dieses Ortes erkennen läßt; diese Fesseln, von der Tyrannei geschmiedet und durch Verbrechen nothwendig gemacht; wenn ich diese halb erloschenen Blicke betrachte, dieses Stöhnen vernehme – o meine Freunde! welch ein Glück, wenn wir alles dies mit dem Himmel vertauschen werden! wenn wir Räume durcheilen, die grenzenlos sind wie das Weltall – wenn wir uns sonnen in dem Glanze ewiger Seligkeit – endlose Jubelhymnen singen – und keinen Herrn zu fürchten haben, der uns droht oder verfolgt – und auf immer das Urbild der ewigen Güte vor Augen haben – wenn ich alles dies bedenke, so wird mir der Tod zu einem heitern Friedensboten. Wenn ich dies bedenke, wird mir sein schärfster Pfeil zu einer sichern Stütze. Wenn ich dies bedenke, welchen Werth hat dann noch das Leben für mich? Wenn ich dies bedenke, sollte ich da nicht alles irdische Glück verachten? Könige in ihren Palästen sollten nach diesem Vorzuge seufzen – und wie sollten wir es nicht, die wir so darniedergebeugt sind?

Und werden wir dieser Vorzüge theilhaftig werden? Ja gewiß, wenn wir eifrig darnach trachten. Auch ist es ein Trost für uns, daß wir manchen Versuchungen nicht ausgesetzt sind, die unsern Sieg erschweren würden. Lasset uns nur darnach trachten, dann wird er uns gewiß zu Theil, und zwar – was noch ein Trost mehr ist – in kurzer Zeit. Blicken wir auf unser vergangenes Leben zurück, so erscheint es uns nur als eine kurze Spanne, und was wir auch von unserm fernern Leben denken mögen, so scheint es uns von noch kürzerer Dauer. Darum seid getrost! Bald sind wir am Ziele unserer Pilgerfahrt. Bald werden wir die schwere Bürde von uns werfen, die uns der Himmel auferlegt hat; und wenn auch der Tod, der einzige Freund des Unglücklichen, auf kurze Zeit den ermüdeten Wanderer täuscht und wie der Horizont vor ihm zu fliehen scheint, so kommt doch gewiß in Kurzem die Zeit, wo wir von Mühe und Arbeit ausruhen, wo die Großen der Erde uns nicht mehr mit Füßen treten können, wo wir freudig zurückdenken an unsere irdischen Leiden, wo wir uns von allen unsern Freunden umgeben sehen, oder von denen, die unserer Freundschaft würdig find, wo unsere Seligkeit unaussprechlich und unendlich sein wird.


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