Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Bei jeder Lage, so elend sie auch erscheint, ist doch immer einiger Trost.

Wir entfernten uns aus unserer friedlichen Gegend und gingen langsam weiter. Da meine älteste Tochter wegen eines schleichenden Fiebers, welches seit einigen Tagen angefangen hatte, ihre Gesundheit zu untergraben, nicht zu gehen im Stande war, so nahm einer von den Gerichtsdienern sie hinter sich auf's Pferd; denn selbst diese Männer können sich nicht ganz von der Menschlichkeit lossagen. Mein Sohn führte einen von den Kleinen an der Hand, und meine Frau den andern, während ich mich auf den Arm meiner jüngsten Tochter stützte, die nicht ihres eignen Leidens wegen, sondern wegen des meinigen Thränen vergoß.

Wir waren etwa zwei Meilen von meiner Wohnung entfernt, als wir einen Volkshaufen mit lautem Geschrei und Rufen hinter uns herlaufen sahen, der etwa aus fünfzig meiner ärmsten Beichtkinder bestand. Mit furchtbaren Drohungen fielen sie über die beiden Gerichtsdiener her und schwuren, sie wollten es nimmermehr zugeben, daß ihr Pfarrer in's Gefängnis geführt werde, so lange sie noch einen Tropfen Bluts in ihren Adern hätten, den sie zu seiner Vertheidigung vergießen könnten. Eben waren sie im Begriff, an den Gerichtsdienern Gewalt auszuüben, und die Folgen hätten gefährlich sein können, hätte ich mich nicht sogleich widersetzt und die Gerichtsdiener aus den Händen der wüthenden Menge befreit. Meine Kinder, die meine Befreiung jetzt als zuverlässig ansahen, waren sehr erfreut und konnten ihr Entzücken nicht bergen. Bald aber wurden sie enttäuscht, als sie hörten, wie ich die armen Leute anredete, welche gekommen waren, um mir, wie sie glaubten, einen Dienst zu erweisen.

»Wie, meine Freunde, ist dies die Art, wie Ihr mich liebt? Ist dies die Art und Weise, wie Ihr den Lehren folgt, die ich Euch von der Kanzel ertheilt habe? So der Gerechtigkeit entgegenzutreten und Euch selber und mich in's Verderben zu ziehen? Wer ist Euer Anstifter? Zeigt mir den Mann, der Euch auf diese Weise verleitet hat. Bei seinem Leben, er soll meine Rache fühlen. Ach, meine arme irregeleitete Heerde, kehrt zu der Pflicht, die Ihr Gott, Eurem Vaterlande und mir schuldig seid. Vielleicht sehe ich Euch einst in größerem Glück hier wieder, und kann dann dazu beitragen. Euer Leben glücklicher zu machen. Laßt mir aber wenigstens den Trost, daß Keiner von Euch fehlen wird, wenn ich meine Hürde für die Ewigkeit schließe.«

Jetzt schienen Alle ihr übereiltes Vorhaben zu bereuen, zerflossen in Thränen und kamen Einer nach dem Andern, mir Lebewohl zu sagen. Ich drückte Allen herzlich die Hand, ertheilte ihnen meinen Segen und ging ohne fernere Unterbrechung weiter. Einige Stunden vor Anbruch der Nacht erreichten wir das Städtchen oder vielmehr das Dorf, welches das Ziel unserer Reise war. Jetzt bestand es nur aus wenigen ärmlichen Häusern, hatte sein früheres wohnliches Ansehen verloren und besaß außer dem Gefängnisse kein Zeichen früherer Bedeutung.

Als wir ankamen, gingen wir in das Wirthshaus, wo wir so gut als möglich bedient wurden, und wo ich mit meiner Familie mit meiner gewöhnlichen Heiterkeit zu Abend speiste. Als Alle für die Nacht bequem untergebracht waren, folgte ich den Gerichtsdienern in das Gefängniß, welches anfangs zu kriegerischen Zwecken war erbaut worden. Es befand sich darin ein großes Zimmer, mit starken Gittern versehen, mit Steinen gepflastert, worin sich sowohl Verbrecher als auch Schuldner zu bestimmten Stunden aufhalten durften. Außerdem hatte jeder Gefangene eine besondere Zelle, wo er während der Nacht eingeschlossen wurde.

Ich erwartete bei meinem Eintritt nichts als Klagen und verschiedene Ausbrüche des Elends zu finden; doch war es hier ganz anders. Die Gefangenen waren alle mit einem gemeinschaftlichen Zwecke beschäftigt, nämlich ihre Gedanken bei fröhlicher Unterhaltung und Geschrei zu vergessen. Es wurde mir das in solchen Fällen übliche Eintrittsgeschenk abgefordert, und ich erfüllte ihre Bitte, obgleich meine geringe Kasse fast gänzlich erschöpft war. Für das Geld wurde sogleich Branntwein geholt, und der ganze Kerker ertönte bald von wildem Lärm, Gelächter und gottlosen Reden.

»Wie?« sagte ich zu mir selber, »können so gottlose Menschen vergnügt sein, und ich sollte meiner Schwermuth nachhängen? Ich dulde nur dieselbe Gefangenschaft mit ihnen, und habe doch wohl mehr Grund, glücklich zu sein.«

Durch diese Betrachtungen suchte ich mich zu erheitern; doch wahre Heiterkeit läßt sich durch keine Anstrengung hervorbringen, die an sich schon peinlich ist. Als ich nun in einem Winkel des Kerkers in Gedanken verloren da saß, näherte sich mir einer meiner Mitgefangenen, setzte sich zu mir und fing ein Gespräch an. Von jeher war es meine Lebensregel, nie einem Menschen auszuweichen, der sich mit mir unterhalten wollte; denn ist der Mensch gut, so kann ich aus seinem Gespräche etwas lernen, und ist er schlecht, so kann ihm das meinige vielleicht nützen. Hier fand ich indeß einen erfahrenen Mann von großem natürlichen Verstande, der, wie man zu sagen pflegt, in der Welt sehr bewandert war, oder, genauer ausgedrückt, die Schattenseite der menschlichen Natur gut kannte. Er fragte mich. ob ich daran gedacht, mich mit einem Bett zu versehen – ein Umstand, der mir noch nicht eingefallen war.

»Das ist schlimm!« sagte er. »Hier bekommen Sie nichts als Stroh, und Ihr Zimmer ist sehr groß und kalt. Doch da Sie mir ein Mann von Stande zu sein scheinen, wie ich auch selber in frühern Zeiten gewesen, so steht Ihnen ein Theil meiner Bettdecken herzlich gern zu Diensten.«

Ich dankte ihm und sprach mein Erstaunen aus, so viel Menschlichkeit in einem Gefängnisse zu finden. Um ihm zu erkennen zu geben, daß ich ein Gelehrter sei, setzte ich hinzu, der Weise des Alterthums scheine den Werth der Theilnahme im Unglück zu erkennen, wenn er sage: τον χοσμον αιρε, ει δωσ τον εταιρον (nimm mir die ganze Welt, wenn Du mir nur den Freund lässest); »und in der That,« setzte ich hinzu, »was ist die Welt, wenn sie uns nichts weiter als Einsamkeit darbietet?«

»Ja, die Welt, mein Herr,« entgegnete mein Mitgefangener, »die Welt liegt in der Kindheit, und doch hat die Kosmogonie, oder die Schöpfung der Welt, die Philosophen aller Jahrhunderte in Verwirrung gesetzt. Welches Gemisch von Meinungen haben sie nicht zu Tage gebracht über die Schöpfung der Welt? Sanchuniathon, Manetho, Berosus und Ocellus Lucanus, alle haben sich vergeblich bemüht. Der Letztere hat folgende Worte: αναρχον αρα χαι ατελευτητον τοπανdas heißt–« »Ich bitte um Verzeihung, mein Herr,« rief ich, »daß ich Sie bei der Darlegung so großer Gelehrsamkeit unterbreche; doch glaube ich alles dies schon früher gehört zu haben. Hatte ich nicht das Vergnügen, Sie einmal auf dem Jahrmarkte zu Welbridge zu sehen? Und ist Ihr Name nicht Ephraim Jenkinson?« – Bei dieser Frage seufzte er nur. – »Gewiß,« setzte ich hinzu, »werden Sie sich eines gewissen Doctor Primrose erinnern, dem Sie ein Pferd abkauften.«

Jetzt erkannte er mich plötzlich, denn vorhin hatte er bei der Dunkelheit meine Gesichtszüge nicht unterscheiden können. »Ja, mein Herr,« erwiederte Herr Jenkinson, »ich erinnere mich Ihrer sehr wohl. Ich kaufte Ihnen ein Pferd ab, vergaß es aber zu bezahlen. Ihr Nachbar Flamborough ist der Einzige, vor dem ich mich bei den nächsten Assisen fürchte, denn er hat die ausdrückliche Absicht, zu beschwören, daß ich falsche Wechsel gemacht habe. Es thut mir herzlich leid, mein Herr, daß ich Sie oder irgend sonst Jemanden betrogen habe; denn sehen Sie,« fuhr er fort, indem er auf seine Fesseln zeigte, »was meine losen Streiche mir eingebracht haben.«

»Nun, mein Herr,« versetzte ich, »da Sie so gütig sind, mir Ihre Hülfe anzubieten, ohne darauf rechnen zu können, daß ich sie Ihnen wiedervergelte, so will ich mir Mühe geben, Herrn Flamboroughs Anklage zu mildern oder ganz zu unterdrücken. Ich will deshalb bei erster Gelegenheit meinen Sohn zu ihm schicken, und zweifle nicht im geringsten an der Erfüllung meiner Bitte, und was mein eignes Zeugniß betrifft, so brauchen Sie sich deshalb keine Sorge zu machen.«

»O mein Herr,« rief er, »das will ich Ihnen nach besten Kräften vergelten. Sie sollen diese Nacht mehr als die Hälfte meiner Bettdecken haben, und ich will Ihnen als Freund zur Seite stehen in diesem Gefängnisse, wo ich einigen Einfluß zu haben glaube.«

Ich dankte ihm und konnte nicht umhin, meine Verwunderung auszusprechen über sein gegenwärtiges jugendliches Ansehen; denn als ich ihn früher gesehen hatte, schien er wenigstens sechszig Jahr alt zu sein. »Mein Herr,« antwortete er, »Sie sind wenig bekannt mit der Welt. Zu der Zeit trug ich falsches Haar, und verstehe die Kunst, jedes Alter nachzuahmen von siebzehn bis zu siebzig Jahren. Ach, mein Herr, hätte ich nur die halbe Mühe auf die Erlernung eines Handwerks gewendet, die ich mir gegeben, um ein Schurke zu werden, so hätte ich jetzt ein reicher Mann sein können. Doch so sehr ich auch ein Schelm bin, so kann ich mich doch als Ihr Freund zeigen, und vielleicht in einem Augenblick, wo Sie es am wenigsten erwarten.«

Jetzt wurden wir in unserer Unterhaltung durch die Ankunft der Gefangenwärter unterbrochen. Sie riefen die Gefangenen namentlich auf und schlossen sie dann für die Nacht in ihre Zellen ein. Auch kam ein Bursche mit einem Strohbündel, welches mir als Bett dienen sollte. Er führte mich durch einen dunklen Gang in ein Gemach, welches wie der Versammlungssaal mit Steinen gepflastert war. In einer Ecke breitete er das Stroh aus und legte die Bettdecken darauf, die mein Mitgefangener mir gegeben; darauf wünschte er mir ziemlich höflich gute Nacht und verließ mich. Nachdem ich meine gewöhnlichen Abendbetrachtungen angestellt und meinem himmlischen Vater für seine Züchtigungen gedankt hatte, legte ich mich nieder und schlief die ganze Nacht über sehr ruhig.


 << zurück weiter >>