Glauser, Friedrich
Matto regiert
Glauser, Friedrich

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Das Lied von der Einsamkeit

Laß gut sein, Greti«, sagte Laduner ruhig, stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Schließlich blieb er vor Studer stehen, verschränkte wieder die Arme über der Brust: »Sie haben mich noch nicht nach den Toten im U 1 gefragt, Wachtmeister… Was ist nun Ihr Urteil über mich? Bin ich ein Arzt, der an den ihm anvertrauten Kranken gefährliche Experimente wagt? Oder was meinen Sie?«

Studer riß sich zusammen. Er versuchte, den Arzt fest anzublicken, doch mißlang ihm dies. So sprach er gegen den Boden: »Das ist wohl Sache eurer ärztlichen Verantwortung und geht mich Laien nichts an…« meinte er.

»Gut pariert, Studer!« Laduner nickte anerkennend. »Aber ich bin Ihnen nun doch auch eine Aufklärung schuldig. In unserer Anstalt ist der Typhus endemisch – das heißt, er läßt sich nicht ganz ausrotten… Immer wieder, von Zeit zu Zeit, treten, trotz allen Vorsichtsmaßnahmen, einzelne Fälle auf; dann erlischt die Krankheit wieder, um nach Monaten oder nach Wochen wieder aufzuflackern… Ich hatte nun beobachtet, daß einige hoffnungslose Fälle, Verblödete, Katatone, nach der Überstehung einer Typhusinfektion sich plötzlich besserten; zwei Fälle, die schon zehn Jahre in der Anstalt waren, Unheilbare, wie es uns schien, konnten sogar, nachdem sie den Typhus überstanden hatten, entlassen werden. Das brachte mich auf die Idee, eine Ansteckung hervorzurufen. Ich habe es nur an Patienten versucht, die mindestens zehn Jahre interniert waren, deren Zustand sich gleichgeblieben war und bei denen auch wirklich kein Funken Hoffnung bestand, daß sie sich jemals bessern würden…

Ich habe es offen getan, meine Kollegen wußten davon, die Sache wurde vor einem Jahre am Rapport verhandelt… Der Versuch war nicht gefährlicher als beispielsweise eine Schlafkur… Bei Schlafkuren rechnen wir mit einer Sterblichkeit von fünf Prozent… Höher ist sie auch nie bei den Typhusversuchen gewesen…

Ich habe Ihnen gesagt, daß die Sache am Rapport besprochen worden war: der verstorbene Direktor hatte sich einverstanden erklärt… Um Ihnen das Verhalten des Direktors in den letzten Monaten zu erklären, müßte ich Ihnen einen Kurs über Adernverkalkung und eine Geisteskrankheit halten, die wir senile Demenz nennen – mit deutschen Worten: Greisenirrsinn… In ihrem Anfangsstadium ist diese Krankheit nicht recht zu erkennen… Sie beginnt schleichend… Mir war es unmöglich, eine Krankengeschichte des Borstli Ulrich, Dr. med., Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Randlingen, anzulegen… Wir konnten den alten Mann nicht internieren lassen, wir versuchten ihm zuzusprechen, sich doch pensionieren zu lassen… Er wollte nicht… Bei der senilen Demenz ist stets Starrköpfigkeit, Uneinsichtigkeit festzustellen – aber auch Verfolgungsideen können auftreten… Der alte Direktor fühlte sich von mir verfolgt. Früher kamen wir ausgezeichnet miteinander aus. Er war froh, daß ich ihm viel Arbeit abnahm, er war einverstanden, wenn ich Neuerungen vorschlug… In der letzten Zeit glaubte er, ich wolle ihn blamieren – ihn aus seiner Stelle drängen – ihn internieren lassen… Daher sein Haß gegen mich…

Was sollte ich tun? Gerade zu der Zeit, da die Anzeichen der Geisteskrankheit bei unserem alten Direktor immer deutlicher wurden, machte ich die Bekanntschaft des Herbert Caplaun. Der Jutzeler, der Ihnen gestern geholfen hat, war durch seine Frau weitläufig mit ihm verwandt. Der Jutzeler bat mich, mich des Herbert anzunehmen. Ich wollte es mir überlegen, sagte dem Jutzeler aber, er möge mir den jungen Mann einmal bringen. Er war Musiker, der Herbert. Er hat Lieder komponiert. Er brachte damals ein Lied mit; es waren Verse eines deutschen Dichters, die er vertont hatte… Das Lied gefiel uns, nicht wahr, Greti?«

Frau Laduner nickte müde.

»Er war wie der Leibundgut, den ich Ihnen gezeigt habe, Studer; er trank, der Herbert; ich ließ ihn während zwei Monaten auf dem B. Sie haben das ja herausgefunden… Sie haben seine Freundschaft mit Pieterlen entdeckt, seine Freundschaft mit Gilgen… Er war ein lieber Mensch, der Herbert Caplaun… Dann nahm ich ihn in Privatbehandlung. Ich konnte es nicht vermeiden, daß er von der Spannung erfuhr, die zwischen mir und dem Direktor herrschte… Caplaun hat versucht, so glaubten Sie, seine Dankbarkeitsschuld abzutragen, indem er den Direktor ermordete, und alles spricht gegen ihn: der Sandsack, den Pieterlen ihm verschafft hat, das Telephongespräch am Abend der Sichlete… Aber, Studer, ist Ihnen nicht eines aufgefallen? Glauben Sie wirklich, der alte Direktor, mißtrauisch, wie er war (und seine Krankheit hatte ihn noch mißtrauischer gemacht), glauben Sie, der alte Direktor wäre so ohne weiteres an ein Rendezvous gegangen? Mißtrauisch, wie er war? Glauben Sie das wirklich, Studer?«

Schweigen. Frau Laduner hatte die Augen weit geöffnet und starrte ängstlich auf ihren Mann.

»Es hat einer nachgeholfen… Wer? Drei Männer kommen in Betracht, drei Männer, die den Direktor zwischen dem Telephongespräch und seinem Gang in die Heizung hatten sprechen können… Drei Männer – und eine Frau. Nun, die Frau scheidet aus. Bleibt: 1. Ich (bitte wehren Sie nicht ab, ich hatte ein Interesse), 2. Jutzeler und 3. der Portier Dreyer… Meine Frau wird Ihnen bestätigen können, daß ich in der Nacht vom 1. zum 2. September meine Wohnung ein Viertel vor eins verlassen habe und erst gegen halb drei wieder zurückgekommen bin. Gerade früh genug, um aufs B gerufen zu werden: der Patient Pieterlen war entwichen. Was habe ich in dieser Zeit gemacht? Ein Nachtwächter hat mich an der Türe der Heizung gesehen, wie ich jemanden verfolgte. Caplaun offenbar… Eigentlich hätte Ihr Verdacht auf mich fallen sollen, nachdem der Nachtwächter Ihnen dies mitgeteilt hatte… Sie haben nichts davon wissen wollen… Gut.

Als zweiter käme Jutzeler in Betracht… Er hat sich mit dem Direktor gestritten – wegen des kleinen Gilgen. Jutzeler hätte das entscheidende Wort sprechen können, um den Direktor in die Heizung zu locken. Aber er scheidet aus, weil…«

Dr. Laduner machte eine Kunstpause, zündete langsam eine Zigarette an…

»Weil ich nach der nutzlos verlaufenen Verfolgung meines Sorgenkindes Caplaun im Gang vom Sous-sol einen Mann getroffen habe, der damit beschäftigt war, die Türe der Heizung zu verschließen… Wissen Sie wen?«

Studer nickte. Plötzlich war alles klar. Er schämte sich. Er hatte gar nichts verstanden…

»Den Portier Dreyer«, sagte Laduner leise. »Ich bin sicher, daß der Portier den Direktor überredet hat, sich mit Herbert zu treffen – was für Argumente er gebraucht hat, können wir nur erraten. Kurzum, ich wußte nicht, was in der Heizung passiert war, darum ließ ich den Mann gehen. Ich folgte ihm leise. Er hat mich nicht gesehen. Als dann die Kunde ging, der Direktor sei verschwunden, das Büro sehe aus, als habe ein Kampf in ihm stattgefunden, dachte ich nach, was am besten zu tun sei. Ich wußte, Caplaun war bei der Sache irgendwie beteiligt… Da fiel mir ein Mann ein, den ich von früher her kannte, von dem ich wußte, daß er psychologischen Rätseln Interesse entgegenbrachte, und ich sagte mir: ›Ich will mir den Mann holen, dann kann ich beruhigt meinen Patienten weiterbehandeln; er ist ein wertvoller Mensch, der Herbert Caplaun, die Gelegenheit, den Protest bei ihm zum Abflauen zu bringen, war nie so günstig, wird nie mehr so günstig sein… Sollte es Komplikationen geben, dann habe ich ja einen gewissen Fahnderwachtmeister bei der Hand, der mir helfen wird…

Caplaun hat Sie von Anfang bis zu Ende angelogen, Wachtmeister. Sein Geständnis war falsch, seine Behauptung, er habe in der Analyse nichts gesagt, war Schwindel. Sie wissen nicht, welch furchtbares Druckmittel das Schweigen sein kann – mein Schweigen, zum Beispiel, wenn ich zu Häupten des Patienten sitze und er mich nicht sieht… Am 2. September schon, als Sie die Sitzung störten und den Caplaun weinen sahen, hatte er schon alles gestanden: Daß er den Direktor die Leiter hinuntergestoßen habe, daß er das getan habe, um mir zu helfen… Ich schwieg… Denn ich wußte es besser. Ich wußte, daß Caplaun unfähig war, eine derartige Tat zu begehen, ich wußte, daß seine Hemmungen viel zu stark waren. Es war möglich, daß er sich mit dem Direktor in der Heizung getroffen hatte, aber er hatte ihn weder erschlagen (ich wußte damals nichts vom Sandsack) noch hatte er ihm einen Stoß gegeben.

Ich hatte den Dreyer aus der Heizung kommen sehen. Und ich wußte Bescheid…

Sie haben immer nur an einen Stoß gedacht, Studer. Ich wußte, als ich die Leiche sah, als ich ihre Stellung näheruntersuchte, daß der Direktor hinuntergerissen worden war… Die Brille, die neben ihm lag!… Denken Sie an die Brille!… Bei einem Rücklingshinunterstürzen wäre sie nie abgefallen… Haben Sie nicht die Abschürfungen an der Nase der Leiche bemerkt?… Sein Gesicht hat sich an der Kante der Plattform gestoßen, die Brille wurde weggerissen, dann erst ist der Direktor nach hinten gefallen und hat sich dabei das Genick gebrochen… Ein Fuß tritt ins Leere, ein Mann, der unter der Plattform verborgen ist, ergreift den Fuß, ein kleiner Ruck…

Aber das gehört ins Gebiet der Kriminologie… Ich bin Arzt, Studer, das habe ich Ihnen schon einmal gesagt… Seelenarzt… Können Sie sich vorstellen, welche Macht mir in die Hand gegeben wurde? – Sie verstehen nicht, was ich meine… Ein Mensch, der seelisch zerbrochen, verkrüppelt zu mir kommt, dessen Seele ich geradebiegen, heilen soll, dieser Mensch meint, er sei ein Mörder, er gesteht es mir, weil er weiß, ich darf ihn nicht verraten, ich bin sein Beichtiger… Ich kann ihn mit einem Worte beruhigen, ich kann ihm beweisen, daß er kein Mörder ist… Warum tue ich es nicht?… Weil die Idee, Mörder zu sein, den Heilungsprozeß beschleunigen kann, weil ich dadurch einen Hebel besitze: die Seele hängt wie eine Tür an schiefen Angeln – und ich kann die Angeln geradebiegen… Und ich dachte, Sie hätten das verstanden… Ich dachte, Sie erinnerten sich noch an Eichhorn… An die Szene mit dem Messer… – Der Dreyer lief mir nicht davon, der konnte warten, bis Sie ihn fanden…

Und sogar das haben Sie Caplaun geglaubt, daß er die Brieftasche in meinem Zimmer versteckt hatte…

Ich selbst habe sie versteckt… Ich habe sie am Morgen, bevor ich Sie nach Bern holen ging, in einer Schublade des Schreibtisches im Direktionsbüro gefunden… Der Dreyer hat sie auch gesucht, die Brieftasche, aber er hat sie nicht gefunden… Ich wollte die Brieftasche in Reichweite haben, um sie Caplaun einmal zu zeigen… In der Analyse kommt es darauf an, von Zeit zu Zeit Minen springen zu lassen…

Sie haben leider nichts begriffen, Studer. Darum war ich so ärgerlich… Nun, Caplauns Tod war wohl Schicksal… Greti, du mußt zum Abschied noch dem Wachtmeister das Lied vorsingen, das Lied…« Dr. Laduner lächelte müde, dann fügte er leise hinzu:

»Dem Lied verdankte es der Herbert, daß ich ihn in die Analyse nahm… Kommen Sie, Studer!«

Noch nie hatte der Wachtmeister ein so seltsames Konzert gehört. Der Salon war kalt; sein Fenster ging auf den Hof – und ganz hinten ragte der Kamin auf, rot wie ein riesiger Metzgerdaumen deutete er gen Himmel. Graues Licht drang durch die Scheiben.

Auf dem runden Klavierstuhl saß Dr. Laduner. Vor ihm lag ein handbeschriebenes Notenblatt. Neben ihm, gerade aufgereckt, stand seine Frau. Ihr roter Schlafrock hatte steife Falten. Leise spielte der Arzt die Begleitung, Frau Laduner sang:

»Man kann mitunter scheußlich einsam sein…«

Und Studer sah die Wohnung im ersten Stock, die Zigarrenstummel im Aschenbecher, die Kognakflasche und das aufgeschlagene Buch… An den Ästen der Birke vor dem Fenster hingen zerknitterte Blätter…

»Dann nützt es nichts, mit sich nach Haus zu fliehn
Und falls man Schnaps zu Haus hat, Schnaps zu nehmen.«

… Das Küchenfenster im B. Und Pieterlen stand am Fenster; er starrte hinüber zur Frauenabteilung, wo die Irma Wasem hinter den Scheiben stand und zu ihm hinüberblickte.

»Dann nützt es nichts, sich vor sich selbst zu schämen…«

Der kleine Gilgen saß auf dem Bettrand, der kleine Gilgen holte die Photi seiner Frau aus der Nachttischschublade, und dann war er plötzlich verschwunden. –

»Dann weiß man, was man möchte, klein sein…,«

Caplaun, Herbert Caplaun, hatte sich im Hüüsli des Gilgen versteckt. Versteckt vor seinem Vater, versteckt vor dem Psychiater… Und nun, und nun – Studer bedeckte die Augen mit der Hand – das Aufspritzen des Wassers im matten Sternenlicht…

»Dann schließt man seine Augen und ist blind
Und ist allein…«

Die Frau schwieg. Ein paar leise Akkorde. Dann war es sehr still im Zimmer.


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