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Der kleine Gilgen hat Selbstmord begangen…« sagte Studer, »aus Angst – aber ich konnte keine Erklärung für seine Angst finden. Man will einen Menschen verhaften, weil er Geld gestohlen hat, und er stürzt sich zum Fenster hinaus…
Gilgen hatte keine Ahnung, wie der Kassenschrank in der Verwaltung aussah. Er hatte zwei Bündel Hunderternoten in seinem Besitz. Er wußte nichts von dem dritten Bündel. Also hatte ein anderer den Diebstahl begangen. Gilgen schwieg. Doch er fürchtete sich vor einer Verhaftung. Warum hatte er Furcht? Weil der Richter ihn wohl gezwungen hätte, auszupacken. Logische Folgerung: Gilgen wollte jemanden decken… Wer war damals im Gang? Der Portier Dreyer war in seiner Loge. Später kam die Irma Wasem, Schokolade kaufen. Um den Portier Dreyer zu decken, hätte Gilgen wohl nicht geschwiegen. Wen – außer diesen beiden – hatte er in der Loge getroffen?
Pieterlen?
Pieterlen scheidet aus. Pieterlen hat im Zimmer, aus dessen Fenster nach Schüls Behauptung Matto immer vorschnellte und zurück – Pieterlen hatte in jenem Zimmer Handharfe gespielt. Aber Pieterlen war nicht mehr in diesem Zimmer. Ich hatte ihn getroffen im Gang bei der Heizung, als man euch niedergeschlagen hatte, Herr Doktor. Nicht Pieterlen hatte euch niedergeschlagen – ein anderer schlich in den Gängen der Anstalt herum. Wer war dieser andere?
Die Lösung wäre einfacher gewesen, wenn ich bei der Erzählung des Obersten Caplaun ein wenig besser aufgepaßt hätte. Aber ich war – mit einem eigenen Gewissenskonflikt beschäftigt.«
Studer lächelte schüchtern, legte die Hand auf Laduners Arm und fragte, ohne aufzublicken:
»Warum habt ihr mir nicht gesagt, daß der Herbert Caplaun drei Monate auf dem B war?«
Der Arzt schwieg. Frau Laduner räusperte sich. Studer fuhr fort:
»Sie haben wohl alle gewußt auf dem B, daß der Herbert euer Privatpatient werden sollte. Er hatte es wohl erzählt. Ich kenne ja noch nicht viel von der Anstalt, aber eines kann ich mir gut vorstellen: in den langen leeren Tagen schwatzen die Leute, schwatzen viel, erzählen ihr Leben, sprechen von ihren Hoffnungen…«
Pause.
»Zwei Wärter auf dem B… Zwei Wärter, die zu euch gehalten haben, Herr Doktor. Die junge Garde, wenn ihr wollt. Der Jutzeler Max und der kleine Gilgen. Dem kleinen Gilgen habt ihr eure Photi geschenkt. Ich hab' sie gefunden in seinem Nachttischli… Glaubt ihr denn, daß es schwer war, zu erraten, wen der Gilgen beim Portier Dreyer getroffen hat, wen er decken wollte?… Der Herbert Caplaun hat erzählt, wie er zum Hauptportal hereingekommen ist, die Loge des Portiers betreten hat… Der Dreyer hielt drei Päckli Hunderternoten in der Hand. Das Folgende habe ich rekonstruieren müssen. Sie wollten beide nicht reden. Ich denke mir, der Portier wird dem Herbert gedroht haben, er werde erzählen, wie der Direktor umgekommen sei, und der Herbert hat Angst bekommen. Dann ist der Gilgen eingetreten. Wahrscheinlich hat Caplaun die drei Päckli Hunderternoten gerade in der Hand gehalten…«
Auf dem runden Tisch lag das dritte Banknotenpäckli. Studer nahm es auf und klopfte damit gegen die Tischkante.
»Der Herbert wußte, daß der Gilgen Schulden hatte. Er wußte, daß der Portier ein Dieb war. Er hat dem Gilgen viertausend Franken in die Hand gedrückt… Und Gilgen ist auf die Abteilung zurückgegangen…«
Frau Laduner seufzte.
»Und dann ist ein gewisser Wachtmeister Studer ans Telephon gerufen worden. Dann ist diesem Wachtmeister vom Portier mitgeteilt worden, in der Verwaltung sei eingebrochen worden, und der Wachtmeister Studer ist dem Portier Dreyer auf den Leim gegangen. Er hat den Schuldigen nicht gesehen, obwohl er mit ihm gesprochen hat. Er hat dem Schuldigen geglaubt, und ist dem Gilgen nachgesprungen… Wißt ihr, Frau Doktor, euer Mann hat mir gesagt, ich sei ein Pfuscher. Er hat wohl recht.«
Studer seufzte.
»Der kleine Gilgen… Ihr habt den Gilgen auch verhext, Herr Doktor. Ich kann mir gut vorstellen, was sich der Mann gedacht hat. Er hat den Caplaun auf der Abteilung gepflegt und später an den Sonntagen, an denen er den Pieterlen spazieren führte, hat er den Herbert wieder getroffen. Die ganze Sache wäre leichter für mich gewesen, wenn ihr mir nur ein wenig mehr erzählt hättet, Herr Doktor, denn die beiden haben doch Freundschaft geschlossen – der Angstneurotiker und der schizoide Psychopath… Ihr seht, daß ich Fortschritte gemacht habe in der Psychiatrie… Glaubt mir, Herr Doktor, ich verstehe den kleinen Gilgen jetzt gut. Zwei Sorgenkinder von euch waren dem Gilgen anvertraut. Das eine geht fort, kommt wieder und gibt ihm viertausend Franken, und der kleine Gilgen versteht nicht… Dann erscheint ein Fahnderwachtmeister, der ein Pfuscher ist… Was tut der kleine Gilgen? Er will den Doktor Laduner decken. Eigentlich sollte der Doktor Laduner ja von der Behörde gedeckt werden, aber davon weiß der kleine Gilgen nichts. Der kleine Gilgen in seinem einfachen Kopf hatte nur einen Gedanken: wenn ich dem Wachtmeister erzähle, daß ich den Caplaun mit dem Geld in der Hand angetroffen habe, so geht der Schroter hin und verhaftet den Caplaun. Und dann ist der Doktor Laduner blamiert, denn er hat ja den Herbert Caplaun gesund machen wollen… Aber eine so komplizierte Angelegenheit ist für einen einfachen Kopf unlösbar. Der kleine Gilgen weiß, daß er schweigen muß, aber er weiß auch, daß er schwach ist, daß er endlich doch wird reden müssen vor dem Untersuchungsrichter – und da bricht alles zusammen in ihm. Ich kann mir das vorstellen: das Hüüsli ist verschuldet und die Frau ist krank, die Kollegen haben ihn verrätscht, die Aufsichtskommission weiß von seinen Diebstählen, von den Diebstählen, die er nicht begangen hat – es ist zuviel für ihn, und da gibt er mir die Photi von seiner Frau und von seinen beiden Kindern, und während ich sie anschaue, springt er zum Fenster hinaus…«
Doktor Laduner murmelte: »Ich hab' Ihnen schon immer gesagt, Studer, daß sie ein poetischer Fahnder seien.«
Studer nickte. Nach einer Pause sagte er:
»Die Brieftasche… Wißt ihr, Herr Doktor, daß ich die Brieftasche dort hinter den Büchern gefunden habe?«
Frau Laduner fragte erstaunt: »Hinter den Büchern?«
Studer nickte.
»Ja, am Morgen, an dem der kleine Gilgen zu euch gekommen war, Herr Doktor. Ich wußte, daß der alte Direktor von der Krankenkasse zwölfhundert Franken bekommen hatte, aber wir haben damals beide festgestellt, daß die Taschen der Leiche leer waren. Und dann war die Brieftasche plötzlich hinter euern Büchern. Wer hatte sie dort hingelegt? Gilgen? Natürlich habe ich an Gilgen gedacht. Denn an jenem Morgen ist er auch in meinem Zimmer gewesen und hat den Sandsack geholt, den ich in meinem Koffer versteckt hatte. Und wo habe ich den Sandsack wiedergefunden am Samstagnachmittag? Hinter einem Paar alter Schuhe im Schafte des Pflegers Gilgen… Schließlich, Herr Doktor, ihr denkt psychiatrisch, ihr kennet die Seelen… Was kenne ich?… Mein Handwerk. Und zu meinem Handwerk gehört doch, daß ich auf Grund von Indizien Verhaftungen vornehme. Saget selbst: Waren nicht alle Indizien gegen Gilgen? Ich bin ein Pfuscher, habt ihr gesagt, aber jeder andere in meiner Lage hätte genau so gehandelt wie ich. Ihr müßt zugeben, daß eine Atmosphäre, wie die eurer Anstalt, ungewohnt für mich ist. Ich weiß vielleicht ein wenig mehr als meine Kollegen, aber immerhin: da wird einem von Matto erzählt, ihr klärt mich einen ganzen Abend darüber auf, daß Kindsmord, mit anderen Worten gesagt, eine menschenfreundliche Handlung sei, verwirrt mich, ihr erzählet mir nichts, ihr wollet gedeckt sein – und doch fühle ich gut, daß ihr Angst habt.
Lange Zeit habe ich gedacht, ihr habt vor dem Pieterlen Angst. Und dann, so nach und nach, habe ich gemerkt, daß Pieterlen eigentlich ganz harmlos war, daß er probiert hat, euch zu decken… Und jedesmal, wenn eure beiden Sorgenkinder am Sonntag sich trafen (hat euch der Herbert das auch in der Analyse erzählt?), haben sie nur über eines gesprochen. wie man euch dazu verhelfen könne, Direktor zu werden… Der Gilgen hat zugehört. Der Gilgen hat wohl auch seine Meinung geäußert, und auch er fand wohl, daß es ungerecht sei: ihr mußtet die ganze Arbeit leisten, und der alte Direktor konnte den Ruhm einheimsen…«
Doktor Laduner unterbrach den Redefluß und sagte mit leiser Stimme: »Es gibt noch ein anderes chinesisches Sprichwort: ›Der Mensch setzt Ruhm an, wie das Schwein das Fett‹…« und schnaubte kurz durch die Nase.
»Ihr habt immer ein gutes Wort parat, Herr Doktor, und ein witziges zugleich. Aber mir kommt die Sache gar nicht lustig vor. Ihr habt mir vorgeworfen, ich hätte durch mein Schweigen den Tod zweier Menschen verschuldet. Ich will euch erzählen, wie der Herbert Caplaun gestorben ist. Aber vorerst müßt ihr mir eine Frage beantworten: Wißt ihr, warum der Herbert den Direktor über die Leiter hinuntergestoßen hat?«
»Hinuntergestoßen?« fragte Doktor Laduner. »Wir wollen sachlich bleiben. In seinem Geständnis hat er angegeben, der Direktor sei ins Leere getreten.«
Studer lächelte schwach.
»Glaubt ihr das wirklich, Herr Doktor?«
»Es kommt gar nicht darauf an, was ich glaube, Studer. Ich halte mich an Tatsachen. Was der Caplaun in Wirklichkeit getan hat, geht mich nichts an…«
»Ich dachte, Herr Doktor, ihr wolltet die Wahrheit wissen… Ich sollte die Wahrheit entdecken – für uns…«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis, Studer. Scheinbar wissen Sie auch in der Psychologie Bescheid. Aber Sie dürfen mir eines glauben, daß bei Ihnen die Gefahr besteht, daß Sie die psychischen Mechanismen allzusehr vereinfachen… Nach Ihrer Meinung hatte Herbert Caplaun Grund und Ursache, den Direktor umzubringen. Ge-wiß… Aber welche Rolle spiele ich dabei? Wollen Sie mir Ihre psychologische Erkenntnis nicht anvertrauen?«
Studer blickte auf. Er hatte die Ellbogen auf die Schenkel gestützt und das Kinn in die Hände gepreßt…
»Er hat aus Dankbarkeit gemordet, der Herbert Caplaun. Er war der merkwürdigen Ansicht, daß er euch Dank schuldig sei… Dank für eure Behandlung, Dank dafür, daß ihr ihn gegen seinen Vater schütztet… Dankbarkeit! Ein sonderbares Motiv…«
Schweigen.
Frau Laduner fragte: »Syt-r sicher, Wachtmeischter?«
»I gloub-e-nes, Frau Dokter.«
»Lieber Studer, ich möchte Ihr Lieblingswort gebrauchen: Was Sie sagen, ist Chabis. Ich will ja nicht leugnen, daß es möglich ist, die Dankbarkeit als eine Triebkomponente aufzufassen. Jedoch muß ich nach allem, was ich weiß, feststellen, daß der Haß, den Herbert Caplaun auf den Direktor geworfen hat, doch anders determiniert ist. Die Furcht vor dem Vater spielt hier eine Rolle. Nicht etwa« – Doktor Laduner hob die Hand mit gestrecktem Zeigefinger und sprach in dozierendem Tone: »daß Herbert Caplaun Angst vor einer Versorgung gehabt hätte. Er wußte, daß ich nötigenfalls alle Schritte unternommen hätte, um eine derartige Maßnahme zu verhindern. Die Sache liegt tiefer. Sie werden wissen, daß die Bilder, die wir in unserer Kindheit aufgenommen haben, in uns ein Leben für sich führen; daß das Bild des Vaters, wie es sich in der Kindheit der Seele eingebrannt hat, im Unterbewußtsein des Erwachsenen weiter wirkt. – Der Direktor war für Herbert Caplaun nichts anderes als ein Bild des Vaters. Ich weiß aus der Analyse, daß der Wunsch zum Vatermord in Herbert Caplaun höchst lebendig war. Aber die Hemmungen, diesen Mordwunsch am eigenen Vater zu verwirklichen, waren so stark, daß sie sich auf eine Person übertrugen, die als Vater gelten konnte. Auf den Direktor also. Vielleicht hat das, was Sie Dankbarkeit nennen, eine Rolle gespielt…« Doktor Laduner dehnte die Worte – »ich will dies bis zu einem gewissen Grade gelten lassen. Aber…«
Studer unterbrach:
»Dann will ich euch lieber vom Tode des Herbert Caplaun erzählen.«