Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
As Studer die Mitte des Hofes erreicht hatte, machte er halt und sah sich um. Es stimmte, die Anstalt war in Form eines eckigen U gebaut, und die Gebäude, zwei, auch drei Stockwerke hoch, zusammenhängend untereinander, umgaben ihn von drei Seiten. Hinter dem Wachtmeister erhob sich das Kasino, rechts war der Männerflügel, links der Frauenflügel. Und vor ihm hockte ein flaches Gebäude, langgestreckt, niedrig, an dessen einer Ecke, ganz hinten, ein Kamin aufragte, der schwarzen Rauch träge ausspie.
Durch die weitgeöffnete Türe, die sich vor ihm auftat, sah der Wachtmeister riesige Kessel, die mit Dampf geheizt wurden. Sie standen schief. Küchenmädchen waren damit beschäftigt, große Behälter zu füllen, mit Suppe, mit zerkochten Makkaroni und große Schüsseln mit Salat. In dem Wirrwarr rollte lautlos eine dicke Person weiblichen Geschlechts über die Fliesen. Lautlos, das heißt: ihre Schritte waren nicht zu hören. Dafür stieß sie aber von Zeit zu Zeit ein Göissen aus, das die Meitschi in Schwung brachte. Studer sah zu, der Betrieb interessierte ihn, der Wirrwarr dauerte auch nicht lange. Bald traten links und rechts, aus Türen, die Studer nicht sah, weil sie durch eine Mauerecke verdeckt waren, zwei lange Pilgerzüge hervor. Frauen links, Männer rechts. Die Frauen trugen weiße Hauben, weiche und gestärkte, andere waren barhäuptig. Die Männer trugen fast alle weiße Schürzen… Die Pfleger und Pflegerinnen gingen, um die Abteilungen vom R bis zum U mit Essen zu versorgen.
Die Küchenmädchen verschwanden, unfeststellbar wohin, und die dicke Person weiblichen Geschlechts, die so unhörbar zu rollen verstand, trat unter die Tür und nickte dem Wachtmeister zu. Studer grüßte lächelnd zurück. Die Wangen der Frau waren rot und glänzend wie reife Tomaten.
– Ob er der neue Schroter sei? fragte die Frau.
– Jawohl, erwiderte Studer, er sei Wachtmeister bei der Fahndungspolizei. Studer sei sein Name.
Sie sei die Jungfer Kölla, und ob der Wachtmeister nicht eintreten wolle? Sie sei früher auch mit einem Landjäger gegangen, aber das sei schon lange her, der Landjäger sei ein Lumpenhund gewesen, er habe eine reiche Bauerntochter geheiratet und sie sitzen gelassen.
– Eintreten könne er schon, meinte Studer, aber Dr. Laduner erwarte ihn zum Mittagessen, darum könne er nicht lange bleiben. »Mittagessen!« sagte die Jungfer Kölla mit Verachtung. Er solle mit ihr zu Mittag essen, sie werde ihm ein Beefsteak braten, so wie er es gerne habe. Und dann könne man ein wenig miteinander b'richten. Sie wisse allerlei, was den Wachtmeister interessieren könne. Besonders über die Ereignisse der letzten Nacht.
– Er danke der Jungfer für die freundliche Einladung, aber er wisse nicht, ob es Dr. Laduner nicht übelnehmen werde…
»Machet kes Gstürm!« sagte die Jungfer Kölla energisch. Sie werde dem Dr. Laduner anläuten, und dann sei die Sache erledigt. Bei ihr bekomme der Wachtmeister doch einen anständigen Tropfen… Sie schien zu Dr. Laduners Weinkeller kein großes Vertrauen zu haben…
Die Jungfer Kölla hatte eine behende Zunge. Sie begann von ihrer Jugend zu erzählen, von andern Männern, die…
Der Redestrom mußte unterbrochen werden, und so stellte Studer seine erste Frage: ob sie sich an die Sichlete erinnere?
Natürlich! – Ob sie den Direktor gesehen habe? – Der sei um zehn Uhr aus dem Kasino gekommen… – Allein? – Ja, zuerst sei er allein gewesen. – Und dann? – Und dann habe er an der Ecke des Frauen-B ein Meitschi getroffen. –Was für ein Meitschi? – …
Ein maßloses Erstaunen trat in die kleinen Augen der Jungfer Kölla. Sie habe nie gedacht, meinte sie, daß die Schroterei so dumm sei…
Studer steckte die Bemerkung kaltblütig ein, widmete sich seinem Beefsteak, das wirklich weich wie Anken war, und fragte dann geduldig weiter:
»Mit wem also?«
– Eh, natürlich mit der Wasem. Das Meitschi sei ja… und die Köchin brauchte ein Wort, das sonst nur auf einen bestimmten Zustand im Liebesleben der Kühe angewendet wird…
– Soso… jaja… Und Studer erlaubte sich, zu bemerken, daß er etwas Ähnliches schon vernommen habe…
Warum er dann so blöd frage? – Hmhm… Ja, die beiden seien dann miteinander spazieren gegangen?
»Arm in Arm!« sagte die Jungfer Kölla. Sie sei droben an ihrem Fenster gesessen, und es seien einige Bogenlampen im Hofe, man könne sehen wie bei heiter-hellem Tage. Sie schichtete dem Wachtmeister einen Haufen grüner Bohnen auf den Teller, die tapfer mit Knoblauch gewürzt waren, schenkte ihm Wein ein, wünschte ihm gute Gesundheit und stieß mit ihm an. Dann leerte sie das Wasserglas auf einen Zug. Studer tat ihr Bescheid. Die Jungfer Kölla gefiel ihm.
– Und wann seien die beiden zurückgekommen? – Gegen halb eins. Das Meitschi habe den Direktor bis an die Tür vom Mittelbau begleitet, der Direktor habe sich aber lange versäumt. Als er nach einer halben Stunde wieder heruntergekommen sei, habe er einen Lodenkragen umgehängt gehabt. Die beiden seien zum Frauen-B gegangen, die Wasem sei dort eingetreten. Und dann sei der Direktor weitergegangen. Sie selber sei dann zu Bett. Sie könne also nicht sagen, ob das Meitschi noch einmal heruntergekommen sei. – Und sonst habe sie nichts gehört?
»Woll!« sagte die Jungfer Kölla. Sie habe nicht gleich einschlafen können. Darum habe sie noch den Schrei gehört…
»Den Schrei? Welchen Schrei?«
– Es hätten ihn auch andere gehört. Ein Schrei, der geklungen habe wie ein Hilferuf.
»Wann habt ihr den Schrei gehört?«
– Gleich nachher habe es halb zwei geschlagen.
Studer senkte den Kopf. Sein Rücken wölbte sich wie ein sanfter, dunkler Hügel…
»Woher kam der Schrei?«
– Aus der Ecke, wo das Männer-K ans R stoße… – Soso… Schül hatte also doch recht gehört.
»Ein heiserer Schrei, Wachtmeister. So hat er geklungen…« Die Jungfer Kölla versuchte den Schrei nachzuahmen, und es klang wie das Krächzen einer jungen Krähe, die hungrig ist… Man konnte es komisch finden… Studer aber blieb ernst. Man hatte in der Anstalt von dem Schrei gesprochen. Warum dann hatte Dr. Laduner nichts davon erzählt?…
In der Ecke, in der das R ans K stieß!…
Es schien nichts mit dem kleinen Ausflug zu sein nach dem Thunersee oder ins Tessin. Kein Seitensprung, wie ihn sich alte Herren manchmal leisten, auch wenn sie zufällig Direktoren von Heil- und Pflegeanstalten sind… Niemand spricht davon… In Fachkreisen macht man seine Witze, aber tiefer sickert es nicht… Der Schrei!… Nein, der Schrei war gar nicht lustig…
Überhaupt war es, als ob alle Begebenheiten in diesem Falle, die zuerst lustig schienen, bei genauerem Hinhören falsch klangen… Mißtöne…
Mißton: Das verwüstete Büro… – Mißton: Die männliche Stimme am Telephon… – Mißton: Das Verschwinden des Pieterlen. – Mißton: Die falsche Beule des Nachtwärters Bohnenblust.
Es tönte alles falsch: das Witzeln des Dr. Laduner, sein Brot- und Salzanbieten, sein eminenzhaftes Benehmen bei der großen Visite – so, als ob er schon Direktor sei –, und auch mit dem freundlichen Pfleger Gilgen, dem rothaarigen, der mit Fünfzig vom Schaufelaß schob und so viele Sorgenfalten auf seinem ängstlichen Gesicht hatte, war nicht alles richtig…
»In der Ecke vom K zum R?…« fragte Studer gedankenverloren. »Was ist dort?«
»Werkstätten… Ein Magazin… Die Heizung…«
Studer stand auf. Er ging auf und ab, von der Tür zum Fenster. Die Jungfer Kölla hatte ihre wallende Brust auf den Tisch gelegt und folgte ihm mit den Blicken. Der Wachtmeister blieb am Fenster stehen, öffnete die Flügel, beugte sich hinaus. Ein Rasen, frischgemäht, eiserne Stangen, von der einen zur andern waren Drähte gespannt, an denen Leintücher in einem leichten Winde wogten. Das Summen einer Maschine war zu hören.
»Was ist das?« fragte Studer.
Daneben sei die Wäscherei, erklärte die Jungfer Kölla, es sei wohl eine Zentrifuge, die so surre…
Und Studer dachte, was es wohl alles brauche in solch einer Anstalt: die unzähligen Hemden, Socken, Nastücher, Leintücher, Nachthemden, alles gezeichnet, alles aufgestapelt, alles gezählt… Er ertappte sich bei dem Wunsch, die Untersuchung möge noch eine Zeitlang dauern, damit er sehen könne, wie solch ein Betrieb funktioniere. Er hatte Lust, eine Weile hier zu bleiben, in diesem Reiche, das beherrscht wurde von einem Geist, Matto geheißen, dem große Gewalt gegeben war… Und dann hätte der Wachtmeister gerne Mattos Bekanntschaft gemacht…
Er blickte zum Fenster hinaus.
»Ist das das Frauen-B?« fragte er und deutete mit der Hand nach dem gegenüberliegenden Gebäude.
»Ja«, hörte er die Jungfer Kölla sagen. Aber da hatte er sich schon weit aus dem Fenster gelehnt; er starrte auf ein Mädchen, das gebeugt, das Schnupftuch vors Gesicht gedrückt, dem Eingangstor der Abteilung zustrebte.
Eine weinende Frau… Es konnte allerlei bedeuten. Aber Studer mußte an das junge Tüpfi denken, an die Pflegerin Irma Wasem, die sich eingebildet hatte, in nächster Zeit Frau Direktor zu werden…
Er rief der dicken Köchin zu, sie solle schnell ans Fenster kommen, wies auf das Mädchen und fragte, wer das sei.
Das sei eben die, von der sie vorher gesprochen hätten, die Wasem… Aber die Jungfer Kölla verstummte, begann zu lachen, denn Studer hatte sich über die Fensterbrüstung geschwungen. Er lief über den Rasen, verwickelte sich in ein flatterndes Leintuch, erreichte das Mädchen, gerade als es seinen Schlüssel ins Schloß steckte. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte sehr sanft und väterlich:
»Was isch passiert?« Und ob sie nicht ein paar Schritte machen wolle, er habe sie einiges zu fragen.
Das Schnupftuch war naß zum Auswinden. Tränen liefen über die Backen…
Nur eines konnte das Mädchen beruhigen: Sachlichkeit!… Es entsprang kaum einer bewußten Überlegung, es war mehr instinktiv: Studer verzichtete auf den üblichen mitleidigen Ton und fragte beintrocken:
»Darf man euch gratulieren, Fräulein Wasem? Seid ihr Frau Direktor geworden?«
Aufblicken… Trotz… Die Tränen versiegten…
»Wer sit ihr?«
»Wachtmeister Studer von der Fahndungspolizei…«
»Um Gottes willen! Ich hab's gewußt! Ist dem Ueli etwas passiert?«
Ueli… Direktor Dr. med. Ulrich Borstli von der Heil- und Pflegeanstalt Randlingen war einfach der Ueli… Glücklicher alter Herr… Eigentlich hätte Studer nichts dagegen gehabt, wenn ihn die Irma ›Köbi‹ genannt hätte, oder besser noch ›Köbeli‹. Des Wachtmeisters Frau hatte sich angewöhnt, ihn ›Vatti‹ zu nennen. Das ging ihm manchmal auf die Nerven.
»Wir wissen noch nichts«, sagte Studer. »Haben Sie noch niemanden gesprochen?«
Kopfschütteln. Studer entschloß sich:
»Das Direktionsbüro sieht aus, als ob dort ein Kampf stattgefunden hätte… Blutspuren am Boden… Die Schreibmaschine streckt alle Tasten von sich…« Warum gebrauchte er wohl die Redewendung des Dr. Laduner?… Studer schüttelte über sich selbst den Kopf. Dann beendete er seinen Bericht: »Der Herr Direktor ist verschwunden und der…«
»Der Jutzeler! Der Abteiliger vom Männer-B!«
Eigentlich hätte Studer den Satz ganz anders beenden wollen, nämlich: ›Und der Patient Pieterlen ist durchgebrannt… ‹ Darum war er im Augenblick über die Unterbrechung erstaunt.
»Der Jutzeler?« wiederholte er und mußte sich besinnen, wer dieser Mann war… Den kannte er doch schon… Der hohe, schlanke Mann, mit dem roten Wappen auf dem Revers seines Kittels, dessen Stimme sich über die Schroter beklagt hatte…
»Was ist mit dem Jutzeler?« fragte er.
»Sie haben zusammen Krach gehabt. Der Ueli… der Herr… Herr Direktor und der Abteiliger…«
»Wann?«
»Darum hab' ich doch so lange warten müssen, fast dreiviertel Stunden… Ich hab' sie zuerst durch die Glastüre im Mittelbau gesehen. Das Licht hat in der Halle gebrannt… Der Jutzeler hielt den Direktor auf, sprach wütend auf ihn ein. Sie gingen dann zusammen ins Direktionsbüro… Ich hab's gesehen… Nach einer halben Stunde kam er dann allein aus der Tür und ging in seine Wohnung hinauf… Er kam im Lodenkragen zurück. Unter dem Arm hielt er eine Ledermappe. Ich frug ihn: ›Was willst du mit der Mappe?‹… Er winkte ab. ›Wir fahren morgen früh. Geh' jetzt in dein Zimmer.‹ Er hat mich bis zum Frauen-B begleitet und ist dann zurückgegangen!«
»Um halb zwei?«
»Ja, es war etwa halb zwei. Und heut morgen wollte er mit mir nach Thun… Ich hab' lang auf dem Bahnhof auf ihn gewartet…«
»Und Sie haben nachher nichts mehr gehört, Fräulein Wasem?«
»Nein. Das heißt, es ist mir vorgekommen, so um viertel vor zwei, als ob jemand um Hilfe schreie… Aber es schreien so viele hier…«
»Sie schlafen allein? Ich meine… eh… Sie haben ein Zimmer für sich allein?«
»Nein, eine Kollegin schläft im gleichen Zimmer.«
»Und niemand kontrolliert die Schwestern, um welche Zeit sie heimkommen?«
»Die andern wohl, aber mich… Nein!«
Studer seufzte. Ach ja… Wenn man der Schatz vom Herrn Direktor war, drückte auch die Schwester Oberin oder welchen Titel die alte Schachtel haben mochte, beide Augen zu…
In der Ecke vom R zum K… Ein Hilfeschrei… Vielleicht hatte Matto, wie Schül den großen Geist nannte, einem seiner Untertanen einen wüsten Alp geschickt, um ihn zu plagen… Studer blieb in der Mitte eines Durchgangsweges stehen und blickte um sich; ein unbehagliches Gefühl kroch ihm über den Rücken. Die roten Ziegelmauern der Anstalt Randlingen umgaben ihn von drei Seiten, und auch die vierte war nicht frei. Dort war die Küche. Es war dem Wachtmeister, als seien die vielen Fenster, die mit ihren winzigen Scheiben in den Fronten funkelten, riesige Facettenaugen, die ihn beobachteten. Er hatte nichts zu verbergen, sicher nichts… Er führte eine Untersuchung, es war sein gutes Recht, mit einem Meitschi, das Aufschluß geben konnte, zusammenzustehen… Aber ungemütlich war es gleichwohl. Die Fenster warfen schielend-fragende Blicke: Was treibt der Mann? Was wird er jetzt tun? Besser, man machte sich aus dem Staub und sah sich in jener Ecke um, aus der letzte Nacht ein Hilfeschrei erklungen war, der dem Krächzen einer hungrigen Jungkrähe geähnelt hatte…