Glauser, Friedrich
Matto regiert
Glauser, Friedrich

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Verwahrloste Jugend

Da wurde man am Morgen, um fünf Uhr, zu nachtschlafender Zeit also, durch das Schrillen des Telephons geweckt. Der kantonale Polizeidirektor war am Apparat, und pflichtgemäß meldete man sich: Wachtmeister Studer. Man lag noch im Bett, selbstverständlich, man hatte noch mindestens zwei Stunden Schlaf zugut. Aber da wurde einem eine Geschichte mitgeteilt, die nur schwer mit einem halbwachen Gehirn verstanden werden konnte. So kam es, daß man die Erzählung des hohen Vorgesetzten von Zeit zu Zeit unterbrechen mußte mit Wie? und mit Was? – und daß man schließlich zu hören bekam, man sei ein Tubel und man solle besser lose!… Das war nicht allzu schlimm. Der kantonale Polizeidirektor liebte kräftige Ausdrücke und schließlich: Tubel… B'hüetis!… Schlimmer war schon, daß man gar nicht recht nachkam, was man nun eigentlich machen sollte. In einer halben Stunde werde man von einem gewissen Dr. Ernst Laduner abgeholt; so hatte es geheißen, der einen in die Heil- und Pflegeanstalt Randlingen führen werde, wo ein Patient namens Pieterlen – ja: P wie Peter, I wie Ida, E wie Erich… – kurz ein Patient Pieterlen ausgebrochen war…

Das kam vor… Und zu gleicher Zeit, das heißt in der gleichen Nacht, sei auch der Direktor der Spinnwinde – so drückte sich der hohe Vorgesetzte aus, der nicht gut auf die Psychiater zu sprechen war – verschwunden. Alles Nähere werde man von Dr. Laduner erfahren, der gedeckt sein wolle, gedeckt von der Behörde. Und über das Wort ›gedeckt‹ hatte der kantonale Polizeidirektor noch einen Witz gemacht, der ziemlich faul war und nach Kuhstall roch… Laduner? Ernst Laduner? Ein Psychiater? Studer hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrte zur Decke. Man kannte doch einen Dr. Laduner, aber wo und bei welcher Gelegenheit hatte man die Bekanntschaft dieses Herrn gemacht? Denn – und das war das Merkwürdigste an der Sache – der Herr Dr. Laduner hatte nach dem Wachtmeister Jakob Studer gefragt, wenigstens hatte der Polizeidirektor dies behauptet. Und am Telephon hatte der Polizeidirektor nach dieser Mitteilung natürlich erklärt, er begreife das gut, Studer sei dafür bekannt, daß er ein wenig spinne, kein Wunder, daß ein Psychiater gerade ihn wolle… Das konnte man als Schmeichelei auffassen. Studer stand auf, schlurfte ins Badezimmer und begann sich zu rasieren. Wie hieß nur schon der Direktor von Randlingen? Würschtli? Nein… Aber ähnlich, es war ein I am Ende… – Die Klinge schnitt nicht recht, langweilig, denn Studer hatte einen starken Bart – … Bürschtli?… Nein… Ah ja! Borstli! Ulrich Borstli… Ein alter Herr, der knapp vor der Pensionierung stand…

Einerseits der Patient Pieterlen, der entwichen war… Anderseits der Direktor Ulrich Borstli… Und zwischen beiden der Dr. Laduner, den man kennen sollte, und der behördlich gedeckt sein wollte. Warum wollte er behördlich gedeckt sein und ausgerechnet durch den Wachtmeister Studer von der kantonalen Fahndungspolizei?… Immer mußte man dem Studer derartig angenehme Aufträge geben. Wie verhielt man sich in einer Irrenanstalt? Was konnte man da machen, wenn die Leute hinter den Gittern hockten und sponnen? Eine Untersuchung führen?… Der Polizeidirektor hatte gut telephonieren und Aufträge geben, spaßig war das Ganze sicher nicht…

Inzwischen war Frau Studer aufgestanden, ihr Mann merkte es, weil der Geruch von frischem Kaffee die Wohnung durchdrang.

»Grüeß Gott, Studer«, sagte Dr. Laduner. Er war barhaupt, sein Haar zurückgeschnitten, vom Hinterkopf stand eine Strähne ab wie die Feder bei einem Reiher. »Wir kennen uns doch, wissen Sie, von Wien her…«

Studer erinnerte sich immer noch nicht. Die familiäre Anrede erstaunte ihn nicht übermäßig, er war sie gewohnt, und er bat den Herrn Doktor sehr höflich und ein wenig umständlich, näher zu treten und abzulegen. Aber Dr. Laduner hatte nichts abzulegen. Darum ging er auch gleich ins Eßzimmer, begrüßte die Frau des Wachtmeisters, setzte sich – all dies mit einer Selbstverständlichkeit und Sicherheit, über die sich Studer wunderte.

Dr. Laduner trug einen hellen Flanellanzug, und zwischen den Kragenspitzen seines weißen Hemdes leuchtete der dick und lasch gebundene Knoten der Krawatte kornblumenblau. Er müsse leider den Herrn Gemahl nun entführen, sagte Dr. Laduner, Frau Studer möge das nicht übelnehmen, er wolle ihn wohlbehalten wieder abliefern. Es sei da eine Sache passiert, kompliziert und unangenehm. Übrigens kenne er den Wachtmeister schon lange und gut – Studer runzelte verlegen die Stirne –, er, Dr. Laduner, habe beschlossen, den Wachtmeister als lieben Gast zu behandeln – übrigens werde es nicht so schlimm werden…

Dr. Laduners Lieblingswort schien »übrigens« zu sein. Auch sprach er ein merkwürdiges Schweizerdeutsch – Ostschweizerisch, dazwischen schriftdeutsche Worte. Seine Sprache war gar nicht urchig. Ein wenig befremdend war sein Lächeln, das an eine Maske erinnerte. Es bedeckte den untern Teil des Gesichtes bis zu den Wangenknochen. Dieser Teil war starr – und nur die Augen und die sehr hohe und sehr breite Stirne schienen zu leben…

Danke, nein, er wolle nichts nehmen, fuhr der Arzt fort, seine Frau warte daheim mit dem Frühstück auf ihn, aber jetzt müßten sie pressieren, um acht Uhr sei Rapport, heute morgen müsse er auf die »große Visite«, das Verschwinden des Herrn Direktor ändere nichts an der Sache, Dienst sei Dienst und Pflicht sei Pflicht… Dr. Laduner machte mit seiner linken, behandschuhten Hand kleine Bewegungen, stand dann auf, packte Studer sanft am Arm und zog ihn mit sich fort. Auf Wiedersehen…

Der Septembermorgen war kühl. Die Bäume zu beiden Seiten der Thunstraße trugen vereinzelte gelbe Blätter. Dr. Laduners niederer Viersitzer benahm sich gesittet, fuhr ohne Geräusch an; durch die offenen Scheiben drang eine Luft, die leicht nach Nebel schmeckte, und Studer lehnte sich bequem zurück. Seine hohen schwarzen Schnürstiefel sahen ein wenig sonderbar aus neben den eleganten braunen Halbschuhen des Dr. Laduner.

Zuerst herrschte ein abwartendes Schweigen, und während dieses Schweigens dachte der Wachtmeister angestrengt über Dr. Laduner nach, den er doch kennen mußte… Von Wien her? Studer war ein paarmal in Wien gewesen, in jener fernen Zeit, da er wohlbestallter Kommissar bei der Stadtpolizei gewesen war, damals, als die Geschichte noch nicht passiert war, jene Bankaffäre, die ihn den Kragen gekostet hatte, so daß er wieder von vorne hatte anfangen müssen, als einfacher Fahnder. Es war eben manchmal schwer, wenn man einen zu ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hatte. Ein gewisser Oberst Caplaun hatte damals seine Entlassung beantragt, und dem Antrag war ›stattgegeben worden‹. Es handelte sich um jenen Oberst Caplaun, von dem der Polizeidirektor in gemütlichen Stunden manchmal sagte, er würde niemanden lieber in Thorberg wissen; unnötig, an diese alte Geschichte weitere Gedanken zu verschwenden, man war kassiert worden, gut und schön, man hatte wieder von vorne angefangen, bei der Kantonspolizei, und in sechs Jahren würde man in Pension gehen. Eigentlich war alles noch gnädig verlaufen… Aber seit jener Bankaffäre lief einem der Ruf nach, man spinne ein wenig, und so war eigentlich der Oberst Caplaun daran schuld, daß man zusammen mit einem Dr. Laduner in die Heil- und Pflegeanstalt Randlingen fuhr, um das mysteriöse Verschwinden des Herrn Direktor Borstli und das Entweichen des Patienten Pieterlen aufzuklären…

»Besinnen Sie sich wirklich nicht, Studer? Damals in Wien?« Studer schüttelte den Kopf. Wien? Er sah immer nur die Hofburg und die Favoritenstraße und das Polizeipräsidium und einen alten Hofrat, der den berühmten Professor Groß gekannt hatte, die Leuchte der Kriminalistik… Aber er sah den Dr. Laduner nicht.

Da sagte der Arzt, und seine Augen blickten angestrengt auf die Landstraße:

»An Eichhorn erinnern Sie sich nicht mehr, Studer?«

»Exakt, Herr Doktor!« sagte Studer, und er war geradezu erleichtert. Darum legte er auch seine Hand auf den Arm seines Begleiters. »Eichhorn! Natürlich! Und Ihr seid jetzt bei der Psychiatrie? Ihr wolltet doch damals die Jugendfürsorge in der Schweiz reformieren?«

»Ach, Studer!« Dr. Laduner bremste ein wenig, denn ein Lastauto kam ihnen entgegen und hielt die Mitte der Straße. »In der Schweiz treffen sie nur Maßnahmen, und was das Traurigste ist, sie treffen sie gewöhnlich nicht einmal, sondern schießen daneben…«

Studer lachte; sein Lachen war tief. Dr. Laduner stimmte ein: das seine war ein klein wenig höher…

Eichhorn !…

Studer sah eine kleine Stube vor sich, darin acht Buben, zwölf- bis vierzehnjährig. Das Zimmer war ein Schlachtfeld. Der Tisch demoliert, die Bänke zu Brennholz zerkleinert, die Scheiben der Fenster zersplittert. Er stand unter der Tür und sah, wie gerade ein Bub auf einen andern mit dem Messer losging. »Ich mach dich hin!« sagte der Bub. Und in einer Ecke stand Dr. Laduner und sah zu. Als er Studer in der Türe bemerkte, winkte er ganz sanft mit der Hand ab – Machen lassen! Und der Bub warf plötzlich das Messer von sich, begann zu heulen, traurig und langgezogen, wie ein geprügelter Hund, während Dr. Laduner aus seiner Ecke hervorkam und mit ruhiger, sachlicher Stimme sagte: »Bis morgen ist dann das Zimmer in Ordnung und die Scheibe eingesetzt… Ja?« Und der Knabenchor sagte: »Ja!«

Das war in der Anstalt für Schwererziehbare in Oberhollabrunn gewesen, sieben Jahre nach dem Krieg. Eine Anstalt ohne Zwangsmittel. Und ein gewisser Eichhorn, ein unscheinbarer, hagerer Mann mit braunem, schlichtem Haar hatte es sich in den Kopf gesetzt, einmal ohne Pfarrer, ohne Sentimentalität, ohne Prügel zu versuchen, ob nicht aus der sogenannten verwahrlosten Jugend etwas herauszuholen sei. Und es war ihm gelungen. Das Erziehungswesen hatte damals gerade ein Mann unter sich, der zufälligerweise Grütze im Kopf hatte. So etwas kommt vor. In diesem besondern Falle war es also ein Mann gewesen, dem die höchst einfache Idee des Herrn Eichhorn eingeleuchtet hatte. Diese Idee war folgende: Die kleinen Vaganten kennen nur einen ewigen Kreislauf: Verfehlung, Strafe, Verfehlung, Strafe. Durch Strafe wird der Protest gereizt, und der Protest macht sich Luft, indem er zu neuen ›Schandtaten‹ treibt. Wie nun aber, wenn man die Strafe ausschaltet? Muß sich da der Protest nicht einmal leerlaufen? Vielleicht kann man dann von neuem beginnen, vielleicht aufbauen, ohne moralischen Schwindel oder, wie Dr. Laduner damals gesagt hatte: ›ohne religiösen Lebertran…‹

In Fachkreisen hatte man von den Eichhornschen Versuchen viel gesprochen, und als Studer damals nach Wien gefahren war, hatte man ihm empfohlen, sich die Sache einmal anzusehen.

Er war gerade in dem Moment erschienen, als der Protest bei der bösesten Bande ›am Ablaufen war‹. Und das hatte ihm Eindruck gemacht. Am Abend war noch etwas hinzugekommen. Als Landsmann hatte ihn Dr. Laduner, der bei Eichhorn als Volontär arbeitete, zu dem Direktor mitgenommen. Man hatte gesprochen, langsam, bedächtig. Studer hatte von Tessenberg erzählt, der Erziehungsanstalt im Kanton Bern, und wie bös es eine Zeitlang dort zugegangen sei… Da war es zehn Uhr, und es läutete an der Haustür. Eichhorn ging öffnen und kam mit einem Knaben zurück, sagte zu ihm: »Setzen Sie sich. Haben Sie Hunger?«, ging dann selbst in die Küche und brachte belegte Brote. Der Knabe war ausgehungert… Bis elf Uhr war er mit den drei Männern zusammen, dann führte ihn Eichhorns Frau ins Gastzimmer. Nachher erzählte Dr. Laduner, der Junge sei schon zum dritten Male durchgebrannt. Diesmal sei er freiwillig zurückgekommen. Darum der freundliche Empfang. Und Studer hatte für die beiden Männer, den Dr. Laduner und den Herrn Eichhorn, ehrliche Hochachtung empfunden…

»Was macht der Herr Eichhorn jetzt?« fragte Studer.

»Verschollen.«

So war das immer! Einer versuchte etwas Neues, Nützliches, etwas Vernünftiges, das ging zwei, drei Jahre… Dann war er plötzlich verschwunden, untergegangen. Nun, Dr. Laduner hatte zur Psychiatrie hinübergewechselt… Fragte sich nur, wie er mit dem alten Ulrich Borstli ausgekommen war, mit dem Direktor, der verschwunden war.

Einen Augenblick dachte Studer daran, nach den nähern Umständen des Verschwindens zu fragen, ließ es aber sein, denn das Bild des jungen Dr. Laduner in der Ecke des demolierten Zimmers vor dem Buben, der auf seinen Kameraden mit gezogenem Messer losging, wollte ihn nicht loslassen… Den psychologischen Moment erfassen, an dem eine Situation reif ist!… Er hatte damals schon allerhand verstanden, der Dr. Laduner!… Und Wachtmeister Studer fühlte sich geschmeichelt, daß er angefordert worden war, und daß er Dr. Laduners Gast sein sollte…

Eins war immerhin merkwürdig: Damals in Wien hatte der Arzt noch nicht das Maskenlächeln getragen, das Lächeln, das aussah, als sei es vor einem Spiegel aufgeklebt worden… Und dann: vielleicht war der Eindruck falsch, kontrollieren ließ er sich nicht, aber es schien doch, als hocke Angst in den Augen des Dr. Laduner.

»Da ist die Anstalt«, sagte der Arzt und zeigte mit der rechten Hand durch ein Seitenfenster. Ein roter Ziegelbau, soviel man sehen konnte in U-Form, mit vielen Türmen und Türmchen. Tannen umgaben ihn, viele dunkle Tannen… Nun war der Bau verschwunden, er tauchte wieder auf, da war das Hauptportal, und zum Eingangstor führten abgerundete Stiegen empor. Der Wagen hielt. Die beiden stiegen aus.


 << zurück weiter >>