Glauser, Friedrich
Matto regiert
Glauser, Friedrich

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Einbruch

Später dachte Studer oft, nichts sei verwirrender, als wenn man an einem Fall persönlichen Anteil nehme. Hätte er, während der Unterredung mit dem Obersten Caplaun, nicht immer an den Entschluß gedacht, den er würde fassen müssen, so wäre ihm ein Satz aufgefallen: der Oberst hatte ihn nebenbei ausgesprochen, aber er gab so deutlich den Schlüssel des ganzen Geschehens, daß man wahrhaftig blind sein mußte, um diesen Passepartout nicht zu gebrauchen…

So verbrachte Studer eine schlaflose Nacht, weil er beschlossen hatte, sich Zeit zu lassen; aber seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe… Gedanken!… Es waren eher Bilder, die abrollten, verworren und ohne rechten Zusammenhang, und sie ähnelten einem jener modernen französischen Filme. Am quälendsten aber war die Handharpfe, die spielte…

Sie begann gedämpft gegen elf Uhr, und es ließ sich nicht feststellen, woher die Töne kamen. Bald spielte sie ganz leise und fast ohne Begleitung der Bässe: »Im Rosengarten von Sanssouci…«, einen alten Tango, und dann: »Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bißchen Glück, irgendwo, irgendwie, irgendwann…«, ein schluchzendes Stück…

Manchmal war Studer überzeugt, der unsichtbare Musikant müsse gerade über seinem Zimmer spielen, er wollte aufstehen und nachsehen, aber dann blieb er doch liegen… Immer wieder schien es ihm, daß in dem vorliegenden Fall mit den gewohnten kriminalistischen Methoden nichts auszurichten sei, daß man stillhalten und auf den Zufall passen müsse…

So lauschte Studer dem geheimnisvollen Handharpfenspiel (er war übermüdet: die schlaflose Nacht und die vielen fremdartigen Eindrücke) – und es war nicht zu vermeiden, daß ihm schließlich doch wieder Pieterlen einfiel, der an der Sichlete zum Tanz aufgespielt hatte und nachher verschwunden war mitsamt seinem Instrument.

Und noch etwas plagte Studer in dieser Nacht. Er hatte am Nachmittag Pfleger Gilgen aufsuchen wollen, aber der hatte Ausgang gehabt.

Endlich brach der Morgen an, ein früher Herbstmorgen mit Regenrieseln, grauem Nebel und feuchter Kälte. Studer konnte sich nicht entschließen, Dr. Laduners Wohnung zu verlassen. Es war der für das Begräbnis des alten Direktors festgesetzte Tag, im Mittelbau war Hochbetrieb, wenn man dies so nennen durfte, und als einmal Studer den Versuch machte, das Stiegenhaus zu betreten und die Stufen hinunterzusteigen, machte er auf dem Absatz über dem ersten Stock halt. Damen in schwarzen Schleiern standen in der offenen Tür jener Wohnung, in der ein alter Mann zusammen mit der Einsamkeit gehaust hatte, Herren in schwarzen Gehröcken gingen hin und wieder, es roch nach Blumenkränzen – Studer trat den Rückzug an. Frau Laduner hatte verweinte Augen, als er ihr im Gang begegnete – ging ihr der Tod des alten Direktors so zu Herzen? Studer wagte nicht, zu fragen… Er hockte in seinem Zimmer, sah über den grauen Hof und verwünschte auf einmal seine Starrköpfigkeit, die ihn daran gehindert hatte, das Angebot des Herrn Obersten anzunehmen…

Auch am Nachmittag im Arbeitszimmer wagte er die Frau nicht zu fragen, weswegen sie am Morgen geweint habe. Dr. Laduner war zur Beerdigung gegangen, es war etwa ein Viertel vor drei; vor zehn Minuten etwa hatte sich der Trauerzug vor dem Eingangsportal versammelt. Viele Autos waren vorgefahren.

Dann war der Leichenzug davongefahren, die Leidtragenden hatten sich versammelt, es war eine lange, schwarze Schlange, und sie kroch dahin unter einem Wolkenhimmel, der blendete wie weißflüssiges Eisen. Hinter den dunklen Fußgängern krabbelten die Autos wie riesige, erschöpfte Käfer.

Frau Laduner hatte einen großen Korb voll Flickwäsche vor sich stehen und war gerade daran, ein Loch in der Ferse eines Männersockens zu stopfen… »Die Aufsichtskommission ist auch gekommen«, sagte sie, und ihre Augen lächelten hinter den Zwickergläsern.

– Die Aufsichtskommission, die hätte sich Studer doch ansehen müssen. Ein Pfarrer sei dabei, dessen Gesicht eigentlich nur aus einem Mund bestünde, einem ungeheuren Mund, so daß er aussehe wie ein roter Frosch. Er vertrete manchmal am Sonntag den Anstaltspfarrer, und einen Übernamen habe er auch. Pfarrer Veronal werde er genannt, nach einem bekannten Schlafmittel, weil immer dreiviertel seiner Zuhörer bei seinen Predigten einschliefen. Der kleine Gilgen habe sogar einmal gemeint, man könne vielleicht den Herrn Pfarrer versuchsweise bei den Schlafkuren gebrauchen; da man ja an allem spare, so könne man die teuren Medikamente durch Predigten ersetzen… Die kämen billiger… Dann gehöre zur Kommission ein ehemaliger Lehrer, der die Schutzaufsicht führe über entlassene Sträflinge und entlassene Patienten, und der wahrscheinlich nur deshalb so schwerhörig sei, weil aus seinen Ohren lange Haarbüschel wüchsen… Auch die Frau eines Nationalrates sei dabei, eine freundliche, gescheite Dame, die immer die andern in Verlegenheit brächte, weil sie nach jedem Rundgang durch die Anstalt frage: wozu eigentlich eine Aufsichtskommission gewählt worden sei? Damit die Herren ein Taggeld einstreichen könnten? Es ginge ja alles wunderbar ohne die Kommission… Dann stelle sich der Fürsorgebeamte extra schwerhörig und frage zwei- oder dreimal: ›Wie me-inet I-i-hr?‹…

Die Klingel des Tischtelephons schrillte.

– Ach, Herr Studer solle doch antworten, sie sei so faul, sagte Frau Laduner. Und Studer stand auf, nahm den Hörer von der Gabel und fragte gemütlich: »Ja?«

Die Stimme des Portiers Dreyer… – Wer am Apparat sei?

»Studer!«

– Der Wachtmeister solle sofort kommen, es sei in der Verwaltung eingebrochen worden…

»Was?« fragte Studer erstaunt. »Am heiter hellen Tage?«

»Ja«, und der Wachtmeister solle gleitig achecho. Es pressiere…

»Wird nid sy…« sagte Studer gemütlich, legte den Hörer sanft auf die Gabel und meinte zu Frau Laduner, er müsse schnell ins Parterre, der Portier wolle gern etwas wissen… Es sei ein Donners Gstürm… Und ging mit langsamen Schritten zur Tür hinaus, verfolgt von Frau Laduners mißtrauischen Blicken…

Er schloß die Gangtüre hinter sich und sprang die Treppen hinab. Er nahm drei Stufen auf einmal und langte ein wenig atemlos im Parterre an.

Der Portier Dreyer, aufgeregt und bleich – noch immer war seine linke Hand verbunden –, empfing ihn am Fuße der Treppe, packte ihn am Arm…

Im Gange rechts, der zu den Frauenabteilungen führte, stand eine Türe offen. Dreyer schob den Wachtmeister in den Raum. Ein ältliches Fräulein mit zerrauften Haaren lief rund um den Doppelschreibtisch, lief immer im Kreise und gemahnte Studer an eine Katze, der man Baldriantropfen auf die Nase gespritzt hat.

»Hier!« sagte der Portier.

Im anstoßenden kleineren Zimmer (es war offenbar das Privatbüro vom Herrn Verwalter) stand der Kassenschrank offen. Akten lagen darin. Studer trat näher…

Das ältliche Fräulein hatte seinen Rundlauf unterbrochen, es trat herzu und begann zu klagen.

Mein Gott! Wie schrecklich das sei, der Herr Verwalter sei zur Beerdigung gegangen, und nun müsse in seiner Abwesenheit so etwas passieren… Kaum fünf Minuten sei das Büro leer gewesen, sie sei nur schnell einmal hinausgegangen, die Hände waschen…

Sie unterbrach sich, hob ihre Augen gen Himmel, faltete die Hände, löste sie wieder… – Sechstausend Franken!… Sechstausend Franken!

– Drei Päckli zu je zwanzig Noten! Einfach verschwunden!… Innerhalb fünf Minuten!… Und der Herr Verwalter! Was werde der Herr Verwalter sagen!

Sie ging ins Nebenzimmer zurück, begann ihren Kreislauf von neuem, und dazu murmelte sie…

Der Portier Dreyer erklärte mit leiser Stimme, der Tod des Herrn Direktor habe das Fräulein Hänni so hergenommen, weil es doch gewissermaßen die Schwägerin sei… Die Schwester der zweiten Frau…

»Fräulein Hänni!« rief Studer. »War der Kassenschrank versperrt?«

»Äbe nid!« Der Herr Verwalter sei so pressiert gewesen, er habe viel Arbeit gehabt, Vierteljahresabrechnung, und erst im letzten Augenblick habe er in seine Wohnung hinaufgehen können, um sich anders anzulegen… Und da habe er vergessen, den Kassenschrank zu schließen.

Aus den Augen des Fräulein Hänni stürzten die Tränen… Studer zuckte mit den Achseln… Eine alte Jungfer, leicht erregbar… Warum trottete sie nur immer um den Tisch wie… eben wie eine Katze, die…

Studer empfahl sich brummend. Sollte man etwa nach Fingerabdrücken suchen an einem so einladend geöffneten Kassenschrank? Draußen fragte er den Portier, wen er seit dem Abmarsch des Trauerzuges im Mittelbau gesehen habe…

Dreyer dachte nach, kratzte an seinem Verband:

»Niemand…« sagte er endlich zögernd.

Wo er denn gewesen sei? – Hä! In seiner Loge! – Und niemand sei zu ihm gekommen, etwas holen oder kaufen oder fragen?…

»Denket nach!«

– Doch! Vor zehn Minuten etwa sei der Pfleger Gilgen vom B gekommen, um ein Päckli Stümpen zu kaufen, und ein wenig später habe die Pflegerin Irma Wasem Schokolade geholt… Soso, die Irma war nicht ans Begräbnis gegangen. Wozu brauchte sie Schokolade, wenn sie sonst gesund war?… Was fiel dem rothaarigen Gilgen ein, mitten im Nachmittag von der Abteilung fortzulaufen, um Stumpen zu kaufen? Dem kupferhaarigen Gilgen, der mit Fünfzig vom Schaufelaß geschoben hatte – und gestern morgen war er bei Dr. Laduner in der Wohnung gewesen –, worauf ein Sandsack…

Es geschah ganz plötzlich, genau wie in einem schlechten Film, in dem man die Übergänge aus Bequemlichkeit sabotiert. Studer ließ den Portier stehen und lief davon, die Stufen hinab, die in den Hof führten, weiter, vorbei am Ebereschenbaum mit den vergilbten Blättern… Er lief andere Treppen hinauf, überquerte einen Gang, sperrte die Türe auf zum Wachsaal B und blieb dann schweratmend am Fuß eines der zweiundzwanzig Betten stehen. Die Betten waren alle leer, die ganze Abteilung schien ausgestorben, kein Laut… Doch aus dem Garten tönte Lärm herauf.

Studer trat ans Fenster. In der Mitte eines Rasenrunds waren zwei Weißbeschürzte damit beschäftigt, zu schwingen… Der eine war der Abteiliger Jutzeler, den andern kannte Studer nicht. Fachmännisch betrachtete der Wachtmeister den Kampf… Die beiden konnten etwas… Ein Brienzer – der andere parierte, ein Schlungg, gut, der erste ging in die Brücke… Unentschieden… Es war, als könne man das Schnaufen der beiden Schwinger bis hier herauf hören…

Wo war der Gilgen? Der Gilgen, um dessentwillen in der Anstalt Randlingen fast ein Streik ausgebrochen war?… Er war nicht im Garten… Dort liefen Patienten herum, einer immer im Kreise um das runde Rasenstück… Andere lagen im feuchten Gras unter den Bäumen…

Die Stille des Wachsaals wurde durch nichts unterbrochen… Aber plötzlich war es Studer, als höre er doch ein Geräusch, aber nicht im Wachsaal… Im Aufenthaltsraum?

Leise ging der Wachtmeister zur Tür, sein Passe drehte sich im Schloß, genau so leise wie in jener Nacht, da er den Nachtwärter Bohnenblust überrascht hatte… Er riß die Türe auf…

Am Tische, an dem Studer einmal – vor ewig langer Zeit schien es Ihm – eine Jaßpartie gespielt hatte, saß zusammengesunken der rothaarige Pfleger Gilgen und starrte auf die Tischplatte. Seine Hemdärmel waren nach hinten gelitzt und die Haut seiner Arme mit Laubflecken übersät…

Zeitlupentempo.– Man sieht auf der Leinwand Rennpferde über eine Hürde springen. Die Hinterbeine sollten sich abschnellen, – nein, ganz langsam strecken sie sich, lösen sich vom Boden… In diesem Tempo etwa überschritt Studer die Schwelle.

Gilgen fuhr bei dem Geräusch nicht auf, eine merkwürdige Ratlosigkeit lag auf seinem Gesicht.

»Wa isch los, Gilge?« fragte Studer. Der andere richtete sich auf, und da stand sein Schürzenlatz von der Brust ab, so, als sei dahinter etwas verborgen.

– Was er da habe? fragte Studer und deutete auf den Wulst. Gilgen zuckte müde mit den Achseln. Sein blaues Hemd war vielfach geflickt, auch mit andersfarbigen Stoffresten, er zuckte mit den Achseln, als wolle er sagen – »Was fragst du so dumm?« Seine Hand verschwand unter dem Schürzenlatz, zog etwas hervor, warf es auf den Tisch.

Zwei Bündel Banknoten. Studer hob sie auf, blätterte sie durch. Zwanzig… vierzig… Viertausend Franken…

»Wo ist der Rest?«

Gilgen blickte auf, erstaunt… Er schwieg.

Studer ließ die Bündel in die Seitentasche seiner Kutte gleiten. Dann ging er auf und ab, seine Stirn war gerunzelt.

Der Fall mit den Mißtönen!

Immer stimmte etwas nicht. Da hatte man nun glücklich innerhalb unwahrscheinlich kurzer Zeit einen Diebstahl aufgedeckt, das Geld beigebracht – und dann war es natürlich nicht vollzählig… Und Gilgen sollte der Dieb sein…

Mürrisch erklärte Studer, er müsse nun doch die Sachen des Pflegers durchsuchen. Wo denn sein Zimmer sei.

Gilgen wies auf eine Türe, die der Türe des Wachsaales gerade gegenüberlag. – Da schlafe er, wenn er in der Anstalt bleiben müsse…

Pieterlen war aus dem Aufenthaltsraum entwichen – zwar die Sache mit den Schlüsseln war aufgeklärt – immerhin… Gilgen schlief in einem Zimmer, dessen Tür in den Aufenthaltsraum ging…

Der kleine kupferhaarige Pfleger stand müde auf und betrat vor Studer das Zimmer.

Das Fenster ging auf die Küche und war weit geöffnet…

Zwei Wandschränke, hellblau gestrichen. Gilgen ging auf den einen zu, öffnete die Türe mit einem Schlüssel seines Bundes und setzte sich dann aufs Bett. Das trug einen roten Überwurf, dessen weiße Fransen bis zum Boden reichten…

Es war still im Zimmer…

Drei Hemden, ein Schurz, eine Kartonschachtel mit Rasiermesser, Pinsel, Seife, Abziehriemen. Ein alter geflickter Kittel. Ein weißer Kittel, sauber gebügelt, auf dem Revers das weiße Kreuz in rotem Feld, der Orden der diplomierten Pfleger…

– Armer kleiner Gilgen, dachte Studer, in was hat sich der Mann hineingeritten? Den Pflegerkittel zog er wohl nur an hohen Festtagen an, wenn beispielsweise die Aufsichtskommission über die Abteilungen lief… Die Aufsichtskommission mit dem Pfarrer Veronal, den der kleine Gilgen so gerne verspottet hatte…

»Ihr habt doch nicht nur zwei Päckli Noten genommen, Gilgen«, sagte Studer und suchte weiter im Schaft… Er wußte eigentlich nicht, was er zu finden hoffte. »Wo ist der Rest?«

Schweigen.

»Habt ihr mir gestern etwas aus dem Zimmer genommen?«

Schweigen. Man konnte es weder trotzig noch verstockt nennen. Es war eher traurig, hoffnungslos… Es würde ein böser Schlag für die Frau sein, die oben in Heiligenschwendi krank lag, wenn sie erfuhr, ihr Mann sei im Gefängnis… Studer hätte dem Gilgen gerne geholfen, aber wie sollte man das anstellen? Er setzte sich auf den Bettrand, klopfte dem Gilgen auf die Schulter und sprach Worte, wie sie in derartigen Situationen gebräuchlich sind:

– Gilgen werde seine Lage nur verschlimmern, wenn er nicht gestehen wolle, wo die restlichen Zweitausend hingekommen seien, es werde ihm dann leichten…

Schweigen.

– Dann solle er doch wenigstens erklären, warum er den Diebstahl begangen habe… Sein Gewissen erleichtern…

Und dabei war es dem Wachtmeister wieder einmal unbehaglich zumute – aus dem Unbehagen kam man in der Anstalt gar nicht heraus –, weil er dunkel fühlte, daß sich etwas Beängstigendes, etwas, das sich nicht fassen ließ, unter dem scheinbar klaren Tatbestand verbarg.

»Schulden«, sagte Gilgen plötzlich leise, und dann schwieg er wieder. Obwohl der Ausdruck seines Gesichtes dem einer verschüchterten Maus ähnelte, war doch eine merkwürdige Entschlossenheit darin…

Immer noch die Stille im Bau des B… Alle, die nicht im Garten waren, waren wohl ans Begräbnis gegangen… Nun redete wahrscheinlich einer von der Aufsichtskommission am offenen Grab… Mein Gott, etwas mußten die Herren doch einmal zu tun haben…

»Schulden?« wiederholte Studer fragend.

Gilgen nickte. Und Studer fragte nicht weiter. Er kannte ja die Geschichte mit dem Hüüsli und der ersten Hypothek.

Eintönig klang Gilgens Stimme, als er erzählte:

– Während der Stunde – der Wachtmeister müsse wissen, wenn ein Pfleger bis neun Uhr Dienst habe, so habe er das Recht auf eine Freistunde im Tag – also während seiner Freistunde sei er zum Dreyer gegangen, um ein Päckli Stumpen zu holen. Dann habe er gedacht, er könne auf der Verwaltung gerade anfragen, wann der nächste Lohnabbau fällig sei – man wisse das nie genau, das käme von einem Tag auf den andern – ja, und mit der Jungfer Hänni komme er gut aus, da habe er gemeint, er könne die Jungfer danach fragen. Der Verwalter sei z'Liech gangen, und auf der Verwaltung könne man immer allerlei erfahren. Die Tür sei offen gestanden, er sei eingetreten, da habe er im Nebenzimmer den offenen Kassenschrank gesehen und dann…

»Wieviel Päckli habt ihr genommen?« fragte Studer.

»Zwei…«

»So? Wo sind sie gelegen? Im oberen Fach? Im unteren Fach?«

»Im… im… ich glaube, im unteren Fach…« »Nicht im mittleren?« »Doch im mittleren…« »Wieviel Fächer hat der Kassenschrank?« »Drei…«

Studer blickte Gilgen an.

Der Kassenschrank war durch ein einziges Fach in der Mitte seiner Höhe in zwei Teile geteilt.

Das hatte Studer gesehen, das wußte er…

Also…

Der Gilgen machte Augen wie ein geprügelter Hund. Studer sah weg, da fiel sein Blick auf den offenen Schaft. Ganz zuunterst, hinter den Schuhen, lag etwas Graues. Studer stand auf, bückte sich.

Der Sandsack!

Der Sandsack, der in der Form an einen riesigen Schüblig erinnerte.

»Und das?« fragte Studer. – Ob Gilgen nun endlich auspacken wolle?

– Aber Gilgen schwieg wieder, einmal fuhr er mit der flachen Hand über seine Glatze – seine Finger zitterten deutlich –, dann zuckte er mit den Achseln. Das Achselzucken konnte viel bedeuten.

– Wo er in der Nacht vom Mittwoch auf den Donnerstag gewesen sei? – Hier in der Anstalt…

Die Antwort wurde begleitet von einem müden Abwinken mit der Hand: ›Es hat ja alles keinen Wert!…‹

»Ihr schlaft allein hier im Zimmer?«

Nicken.

»Habt ihr mit Pieterlen gesprochen, wie er draußen im Aufenthaltsraum geraucht hat?«

Breitschultrig, mächtig stand Studer vor dem kleinen Mann.

Gilgen blickte furchtsam auf.

»Tüet mi nid plage, Wachtmeischter…« sagte er leise.

– Dann müsse er ihn mitnehmen, sagte Studer. Und er solle sich vorher gut besinnen, die Anklage würde vielleicht nicht nur auf Diebstahl lauten, sondern auch auf Mord…

Entsetztes Erstaunen!

– Aber der Direktor sei doch verunfallt!

– Das sei eben noch gar nicht gesagt.

»Aufstehen!«

Studer trat an den Mann heran, betastete ihn von oben bis unten, zog aus der einen Tasche das Portemonnaie heraus, den Schlüsselbund aus der anderen und überlegte dabei, wie die Verhaftung ohne allzu großes Aufsehen zu bewerkstelligen sei. Man konnte beim Portier dem Randlinger Landjäger telephonieren. Das würde das beste sein.

»Schurz abziehen! Kittel anlegen!« befahl Studer. Das Weitere werde sich finden.

Und folgsam ging Gilgen zum Schaft, zog den Kittel an, ohne seine Hemdärmel herabzustreifen… Ein armseliger Kittel war es, sicher hatte ihn die Frau geflickt, bevor sie krank geworden war…

– Im Nachttischli, sagte Gilgen schüchtern, habe er noch die Photi von seiner Frau mit den beiden Kindern. Ob er die mitnehmen dürfe?

Studer nickte. Der Nachttisch stand eingeklemmt zwischen Fenster und Bett. Gilgen ging um das Bett herum, nahm eine Brieftasche aus der Schublade, zog ein Bild daraus hervor, das er lange betrachtete und dann dem Wachtmeister über das Bett hinreichte.

»Lueget, Studer…« sagte er. Der Wachtmeister nahm den Karton in die Hand, kehrte sich ab, um das Licht besser auf das Bild fallen zu lassen… Die Frau, die es darstellte, hatte ein mageres Gesicht mit einem gutmütigen Lächeln, an jeder Hand hielt sie ein Kind. Und während Studer noch die Photographie betrachtete, war es ihm plötzlich, als habe sich etwas im Zimmer verändert. Er sah sich um… Gilgen war verschwunden…

Das offene Fenster! Studer stieß das Bett beiseite, beugte sich weit hinaus.

Da unten lag der kleine Gilgen, fast in der gleichen Stellung, wie der alte Direktor, am Fuße der Eisenleiter. Kein Blut… Aber in der Sonne leuchtete der Kranz der kupferroten Haare… Der Hof war leer. Studer ging langsam zum Zimmer hinaus, durch den Glasabschluß, stieg durchs Stiegenhaus hinab, trat hinaus. Und dann hob er den Körper des kleinen Gilgen, – leicht war er – sachte vom Boden auf und stieg schweren Schrittes die Stiegen zum ersten Stock wieder hinauf…

Im Zimmer angekommen, legte er die Leiche auf die rote Bettdecke und blieb dann vor ihr stehen… Und Studers Kopf war von einer dumpfen Wut erfüllt.

Aber da schreckte der Wachtmeister auf. Ein schmalzige Stimme begann im Aufenthaltsraum zu singen, und sie sang:

»Irgendwo auf der Welt fängt der Weg zum Himmel an,
Irgendwo, irgendwie, irgendwann…«

Wer hielt ihn da zum besten?…

Studer wußte nicht, daß der Portier Dreyer gerade in diesem Augenblick den großen Empfangsapparat eingeschaltet hatte, weil es vier Uhr war und es zu seinem Dienst gehörte, die Abteilungen der Anstalt Randlingen mit Radiomusik zu versorgen. Er hatte sich ein wenig verspätet, darum war er mitten in ein Lied geraten. Und so sang der Lautsprecher, oben an der Wand des Aufenthaltsraumes B, dem kleinen Gilgen ganz unschuldigerweise ein groteskes Sterbelied.

Wie gesagt, Studer wußte nichts vom Ursprung des Liedes. Nur wild wurde er. Er trat in den Aufenthaltsraum, sah sich wütend um, suchte nach der Stimme, die ihn zu verhöhnen schien, und entdeckte schließlich den Kasten oben an der Wand. Gute drei Meter vom Boden hockte er und hatte nur ein riesiges mit Stoff überspanntes Maul. Studer packte einen der Stühle ganz oben an der Lehne. Dann schwang er ihn hoch und traf den Kasten so gut, daß die Stimme nur noch: »Irgend…« sang, um dann im Krachen zersplitternden Holzes unterzugehen.

Beruhigt kehrte Studer in das kleine Zimmer zurück. Er drückte dem kleinen Gilgen die Augen zu. Dabei fiel sein Blick in die offengebliebene Nachttischschublade. Dort lag ein Bild…

Eine Amateuraufnahme: Dr. Laduner in weißem Arztkittel mit dem Maskenlächeln auf dem Gesicht stand neben seiner Frau. Hinter ihm war das Eingangsportal der Anstalt zu erkennen.

Hinten auf der Aufnahme stand:

»Dem Pfleger Gilgen zur Erinnerung, Dr. Laduner.«

Wie kam der Arzt dazu, einem Pfleger eine Photographie zu widmen? Studer stand da und studierte. Schließlich beschloß er, sich auf die Suche zu machen nach dem Abteiliger Jutzeler. Er sehnte sich nach fachmännischem Rat…


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