Glauser, Friedrich
Matto regiert
Glauser, Friedrich

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Ein chinesisches Sprichwort

Am Montagmorgen, gegen neun Uhr, trat Studer aus dem Gastzimmer. Er trug seine ramponierte Handtasche aus Schweinsleder. Im Gange traf er Frau Laduner.

– Ob der Wachtmeister verreisen wolle? fragte die Frau. Studer zog die Uhr aus dem Gilettäschli, nickte, meinte dann, soviel er wisse, fahre um elf Uhr ein Zug nach Bern. Den wolle er nehmen. Ob er vorher noch den Herrn Doktor sprechen könne?

– Ihr Mann sei nicht wohl, sagte Frau Laduner. Er liege noch im Bett. Aber wenn es etwas Wichtiges sei, wolle sie ihn rufen gehen. Ihre Augen blickten ängstlich. Ob der Herr Wachtmeister nicht zuerst frühstücken wolle?

Studer besann sich eine Weile. Dann nickte er schwerfällig. Wenn er um eine Tasse Kaffee bitten dürfe… Und dann möge die Frau Doktor so gut sein und dem Herrn Doktor sagen, er warte im Arbeitszimmer. Er werde etwa eine Stunde zu erzählen haben, und sie möge dem Herrn Doktor sagen, er, Studer, wolle gern die Wahrheit erzählen, falls der Herr Doktor die Wahrheit zu wissen wünsche… Frau Doktor möge so gut sein, diese Worte genau zu wiederholen…

– Ja, ja… Das wolle sie tun. Aber inzwischen möge der Herr Wachtmeister z'Morgen essen… Der Kaffee stehe noch auf dem Tisch.

Studer hielt noch immer seine Handtasche in der Hand, als er ins Eßzimmer trat. Eine bleiche Sonne, die kaum den Nebel zu zerteilen vermochte, schien ins Zimmer. Studer trank, aß. Dann packte er seine Handtasche, die er neben sich gestellt hatte, stand auf, trat ins Arbeitszimmer, setzte sich in einen Lehnstuhl und wartete. Die Handtasche hielt er auf den Knieen…

Dr. Laduner trug über einem Pyjama einen grauen Schlafrock. Seine nackten Füße steckten in Lederpantoffeln.

»Sie wollen mit mir sprechen, Studer?« fragte er. Um seinen Kopf lag ein weißer Verband, der seine Gesichtshaut noch brauner erscheinen ließ. Er setzte sich; seine Züge waren schlaff. Er bedeckte die Augen mit der Hand und schwieg.

Studer öffnete die Handtasche und legte nacheinander verschiedene Gegenstände auf den runden Tisch, der einmal, an einem Abend, der fern schien, eine Lampe mit leuchtendem Blumenschirm getragen hatte, und neben der Lampe hatten die Akten gelegen des Demonstrationsobjektes Pieterlen.

Dr. Laduner nahm die Hand von den Augen und blickte auf die Tischplatte. Auf ihr lagen, fein säuberlich, folgende Gegenstände:

Eine alte Brieftasche, ein Sandsack, der aussah wie ein riesiger, grauer Schüblig, ein Stück groben, grauen Stoffes, zwei Enveloppen, ein beschriebenes Blatt und ein Bündel Hunderternoten.

»Nett«, sagte Dr. Laduner. »Wollen Sie die Gegenstände einem Polizeimuseum schenken, Studer?«

Bevor Studer antworten konnte, schrillte die Klingel des Tischtelephons. Dr. Laduner stand auf. Eine aufgeregte Stimme sprach am andern Ende. Laduner bedeckte die Muschel mit der Hand und fragte Studer:

»Wissen Sie, wo der Portier Dreyer ist?«

»Wenn der Landjäger von Randlingen meinen Befehl ausgeführt hat, so ist der Dreyer wahrscheinlich jetzt schon im Amtshaus in Bern…«

Laduner hielt noch immer die Hand über der Muschel, sein Maskenlächeln erschien wieder.

»Unter welcher Anklage?« fragte er.

Studer sagte trocken:

»Diebstahl und Mord…«

»Mord? Mord am Direktor?«

»Nein, an Herbert Caplaun…« Studers Stimme war so ruhig, daß Laduner den Wachtmeister einen Augenblick erstaunt anstarrte. Dann nahm er die Hand von der Muschel und sagte: »Ich komme später selbst. Augenblicklich habe ich eine wichtige Besprechung… Nein«, schrie er plötzlich, und seine Stimme überschlug sich. »Ich habe jetzt keine Zeit!« und schmiß das Hörrohr auf die Gabel.

Er setzte sich wieder, lehnte sich zuerst zurück, schloß einen Augenblick die Augen, beugte sich dann vor und nahm, einen nach dem andern, die Gegenstände in die Hand, die auf dem Tisch lagen, Studer gab mit leiser Stimme Erklärungen:

»Das«, sagte er, als Laduner den Sandsack aufhob, »habe ich auf der Plattform gefunden, von der die Leiter zum Feuerloch führt… Das«, damit meinte er das Stück Stoff, »lag versteckt unter der Matratze von Pieterlens Bett, und diese Brieftasche lag dort hinter den Büchern, ich hab' sie durch Zufall gefunden… Sie hat mir schwer Kopfzerbrechen gemacht, denn ich fand sie, gleich nachdem Gilgen bei euch gewesen war, Herr Doktor…«

»Und die Enveloppen?«

Studer lächelte.

»Man muß doch zeigen«, sagte er, »daß man kriminologisch geschult ist…« Er hob die eine Enveloppe in die Höhe: »Sand!« sagte er. Dann die andere: »Staub aus den Haaren der Leiche…« Er schwieg. »Übrigens ist der Direktor nicht mit einem Sandsack niedergeschlagen worden. Er ist ganz einfach… Aber ihr könnt das ja selbst lesen, Herr Doktor…« Damit nahm Studer das handgeschriebene Blatt auf, faltete es auseinander, zögerte einen Augenblick… »Ich will's euch lieber selbst vorlesen…«, sagte er, räusperte sich, sagte:

»Geständnis«,

machte eine Pause und las dann mit eintöniger Stimme:

»Ich, Endesunterzeichneter, Herbert Caplaun, erkläre hiermit, daß ich am Tode des Direktors der Heil- und Pflegeanstalt Randlingen, Herrn Dr. Ulrich Borstli, schuldig bin. Ich habe am 1. September, 20 Uhr, von der Portierloge aus Herrn Dr. Borstli, der sich auf einem Patientenfest befand, angeläutet und ihn unter dem Vorwand, ich hätte ihm Wichtiges mitzuteilen, auf halb zwei Uhr in eine Ecke des Hofes gelockt. Ich hatte ihn zu gleicher Zeit gebeten, die Dokumente, die sich auf die Sterbefälle im U 1 der Anstalt Randlingen bezogen, mitzubringen. jedoch war dies nur ein Vorwand. Denn ich hatte erfahren, daß Direktor Ulrich Borstli sich mit meinem Vater in Verbindung gesetzt hatte, um meine zeitweilige Internierung in einer Strafanstalt zu erwirken. Ich hatte mir einen Sandsack verschafft und hatte beschlossen, den Direktor niederzuschlagen und seinen Körper in der Heizung zu verstecken. Jedoch kam es anders. Wir gerieten in Streit, und der Direktor wollte mich schlagen. Darauf rief ich um Hilfe. Um einen Skandal zu vermeiden, befahl mir der Direktor, mit ihm in die Heizung zu kommen. Ich folgte ihm. Er zündete das Licht an, öffnete seine Mappe und zeigte mir die Kopie eines Briefes an meinen Vater. Als ich diese gelesen hatte, ergriff mich die Wut und ich hob den Sandsack. Der Direktor wich zurück, trat ins Leere und fiel rücklings hinab. Ich verschloß die Heizung, vergaß aber das Licht zu löschen. In den folgenden Tagen habe ich mich in der Wohnung des Pflegers Gilgen versteckt gehalten.

Randlingen, den 5. September 19.. Herbert Caplaun.

Die Echtheit der Unterschrift bestätigen:

Jakob Studer, Wachtmeister an der Kantonspolizei

Max Jutzeler, Pfleger.«

Studer schwieg. Er wartete. Das Schweigen dauerte lange.

»Ihr werdet bemerkt haben, Herr Doktor, daß euer Name in dem Schriftstück nicht vorkommt…« sagte Studer endlich. »Ihr habt mich angefordert, um behördlich gedeckt zu sein. Ich habe versucht, meine Mission zu erfüllen…«

»Und Caplaun ist tot?« fragte Dr. Laduner. Studer blickte nicht auf, er hatte Angst vor dem Lächeln, das sicher um des Arztes Mund lag.

»Es war ein Unglücksfall…« sagte Studer verlegen.

»Sie sprachen doch von einem Mord?«

»Eigentlich beides… Aber es ist eine lange Geschichte. Und ich erzähle sie nicht gerne, weil ich eigentlich selber am Tode des Herbert Caplaun schuldig bin…«

»Wenn ich Sie recht verstehe, Studer, so haben Sie also durch Ihre Ungeschicklichkeit zwei Menschen getötet: den Pfleger Gilgen und den Herbert Caplaun…«

Studer schwieg. Er preßte die Lippen zusammen, sein Gesicht wurde langsam rot.

Die höhnische Stimme fuhr fort:

»Sie haben sich mit mir identifizieren wollen, Studer…«

»Identifizieren?«

Was war das wieder für ein Wort?

»Ja, Sie wollten an meine Stelle treten, den Seelenarzt spielen, in meine Haut schlüpfen… Verstehen Sie?«

Dr. Laduner war aufgestanden. Er nahm einen Gegenstand nach dem andern vom Tisch – nur das Banknotenbündel ließ er liegen –, trat zu einem Schrank in der Ecke, legte die Gegenstände hinein, schloß ab, steckte den Schlüssel in die Tasche seines Schlafrockes und blieb dann neben Studer stehen.

»Das erpreßte Geständnis«, sagte er, und seine Stimme war scharf, »ist sicher sehr brauchbar. Aber Sie haben gepfuscht, Studer, Sie haben mir ins Handwerk gepfuscht. Verstehen Sie?… Ich habe Sie bei mir aufgenommen, ich habe gehofft, Sie würden mir helfen, was haben Sie statt dessen getan? Auf eigene Faust gehandelt! Ohne mich um Rat zu fragen. Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, wie Caplaun gestorben ist – das ist ja irrelevant… Das hat weiter keine Bedeutung, wenn Sie Mühe haben, Fremdworte zu verstehen…«

Studers mageres Gesicht wurde noch röter, er ballte die Fäuste, er wußte, wenn er nun aufblickte und des Arztes lächelndes Gesicht sehen würde – das Lächeln, das einer Maske glich –, dann würde er sich nicht zurückhalten können. Dreinschlagen!… Was bildete sich der Mann eigentlich ein? Man hatte ihn geschont, man hatte sein möglichstes getan, ihm einen Skandal zu ersparen – und das war der Dank dafür?

»Ich will Sie noch auf einige Dinge aufmerksam machen, Studer: Haben Sie mich wirklich für so dumm gehalten, daß ich nicht von Anfang wußte, was geschehen war? Verstehen Sie eigentlich nur Dinge, die man Ihnen mit klaren Worten auseinandersetzt? Wir haben uns doch in Wien kennengelernt! – Sie waren damals weniger schwerfällig… Ist das Alter schuld an Ihrem Mangel an Verständnis? Sie haben doch vom Nachtwärter, der die Runden macht, erfahren, daß ich damals Caplaun im Gang vor der Heizung getroffen habe, kurz nach zwei Uhr… Warum haben Sie mich nie darüber ausgefragt? Warum haben Sie mir verschwiegen, daß Sie den Sandsack gefunden hatten – und die Brieftasche? Warum haben Sie auf eigene Faust Untersuchungen geführt? Ich will es Ihnen sagen: Es war eine Kraftprobe, die Sie ablegen wollten, Sie wollten dem Herrn Psychiater beweisen, daß auch ein einfacher Fahnderwachtmeister psychologisch begabt sein kann… Aber mit Seelen muß man vorsichtig umgehen – Seelen sind zerbrechlich… Und von Pieterlen wissen Sie auch nichts? Also sogar kriminologisch haben Sie versagt? Sie sind ein Pfuscher, Wachtmeister Studer, weiter nichts…«

Studer sprang auf. Das war zu viel!

Er stand Dr. Laduner in Boxerstellung gegenüber und hatte nur den einen Wunsch: mit der Faust das Lächeln zu zerschlagen. Sein rechter Ellbogen fuhr zurück. Dr. Laduner hatte die Hände in den Taschen seines Schlafrockes vergraben, er rührte sich nicht. Ganz leise sagte er, und das Lächeln verschwand nicht von seinen Lippen:

»Wachtmeister Studer, es gibt ein gutes und beherzigenswertes chinesisches Sprichwort: ›Eine ärgerliche Faust vermag ein lächelndes Gesicht nicht zu treffen.‹ Denken Sie darüber nach, Wachtmeister…«

Studer setzte sich. Er war bleich.

Wirklich, dieser ganze Fall war genau wie ein Alpenflug. Nun war er zu Ende, und er war auf eine beschämende Art zu Ende gegangen.

Der Wachtmeister spürte eine so große Müdigkeit, daß er sich am liebsten vier Tage ins Bett gelegt hätte – was, vier Tage! – daß er am liebsten gar nicht mehr aufgestanden wäre…

Wie hatte Dr. Laduner gesagt? Eine ärgerliche Faust vermag ein lächelndes Gesicht nicht zu treffen…

Zwei Tote!

Studer preßte die Fäuste auf die Augen, er hätte gern das Bild verjagt, das ihn nicht losließ – Das Ufer des Flusses – ein Mann, der einen andern ins Wasser stößt… ›Ich hätte dazwischenspringen können!‹ dachte Studer. ›Warum hab' ich's nicht getan? Warum ist der Jutzeler nicht dazwischengesprungen? Hat eigentlich dieser Dr. Laduner uns alle verhext? Den kleinen Gilgen, der die Photographie mit der Widmung im Nachttischlischublädli aufbewahrt hat, den Schwertfeger, das Demonstrationsobjekt Pieterlen und den Angstneurotiker Caplaun? Soll ich dem Dr. Laduner sagen, warum der Herbert Caplaun den Direktor über die Eisenleiter hinuntergestoßen hat? Oder weiß er auch das, der Herr Seelenarzt? Ich bin ein Pfuscher! Gut! Es kann nicht jeder mit den Gefühlen der andern umgehen, wie dies ein Chemiker mit seinen Reagenzien tut. Soll ich dem Dr. Laduner das unter die Nase reiben? Nutzlos! Der Mann wird auch auf diese Vorhaltungen eine Antwort wissen, die mir den Mund verschließt… Es ist hoffnungslos…

»Wissen Sie, was Sie jetzt brauchen, Studer?« fragte Dr. Laduner. Der Wachtmeister blickte erstaunt auf. Der Arzt ging zur Türe: »Greti!« rief er, »bring unserem Wachtmeister einen Kirsch. Es ist ihm übel geworden…« Er kam zurück, ging zum Fenster und sagte: »Vielleicht kann man den Alkohol auch zu den psychotherapeutischen Mitteln zählen… Mein berühmter Kollege hat es wenigstens behauptet. Und ich möchte ihm nicht ganz unrecht geben… Trinken Sie, Studer, und dann erzählen Sie. Greti, du kannst auch zuhören…«

Frau Laduner setzte sich auf das Ruhebett. Sie faltete die Hände. Studer schenkte sich ein Glas Schnaps ein, leerte es, füllte es noch einmal, behielt die scharfe Flüssigkeit eine Zeitlang im Munde, schluckte sie, räusperte sich dann und begann.


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