Glauser, Friedrich
Matto regiert
Glauser, Friedrich

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Kollegen

Dem Abteiliger Jutzeler mit den braunen Rehaugen merkte man es an, daß ihm der Wachtmeister Studer gar nicht willkommen war. Er stand unten im Garten, sein Gesicht war noch rot vom Schwingen, aber er hatte seine weiße Kutte wieder angelegt, und der Pflegerorden leuchtete rot.

– Ob er einen Augenblick mitkommen könne? fragte Studer und sah den Mann so ernst und dringend an, daß Jutzeler nickte.

– Ob etwas passiert sei? fragte der Abteiliger. – Der Gilgen habe sich zum Fenster hinausgestürzt. Er liege jetzt oben, berichtete Studer trocken und fragte, wie man allzu großes Aufsehen vermeiden könne.

»Der Gilgen!« Jutzeler nickte. »Tot!«… Dann schüttelte er den Kopf.

Die beiden betraten das Zimmer neben dem Aufenthaltsraum. Eine kurze Zeit stand Jutzeler schweigend vor dem Toten. Dann zog er einen Stuhl heran, deutete darauf, Studer nahm Platz. Der schlanke Jutzeler setzte sich auf den Bettrand neben den Toten und meinte, es sei vielleicht doch besser, daß es so gekommen sei…

Eines schien festzustehen, man war fatalistisch in der Anstalt Randlingen.

»Warum?« fragte Studer.

Ach, seufzte Jutzeler, der Wachtmeister wisse noch gar nicht, wie es in solch einem Betrieb zugehe…

Er schien nachzudenken, ob er weiter erzählen solle, da unterbrach ihn Studer: er habe ihn schon lange fragen wollen, warum er eigentlich am Mittwochabend mit dem Direktor Krach bekommen habe…

Jutzeler wollte wissen, wer dem Wachtmeister das erzählt habe…

– Das sei ja gleichgültig, meinte Studer, übrigens wisse er auch, daß an dem Krach der tote Gilgen schuld gewesen sei…

Jutzeler hatte sich zurückgelehnt und die Hände gefaltet. Er betrachtete Studer lange und prüfend, und der Wachtmeister senkte den Blick nicht… Er wußte, wie das Ergebnis der Prüfung ausfallen würde…

Wie oft war es ihm ähnlich ergangen!… Zuerst sahen die Menschen in ihm nur den Fahnder, den Polizisten, vor dem man sich in acht nehmen mußte, und schließlich war dies Mißtrauen verständlich. Wer hatte heutzutage ein ganz reines Gewissen? – Aber wenn es Studer dann gelang, einen Menschen ganz allein vor sich zu haben, schwand gewöhnlich das Mißtrauen, der andere spürte, daß da ein Mann vor ihm saß, ein älterer Mann, von dem ein seltsam sicherer Frieden ausging… Und manchmal, wenn Studer nicht ganz unzufrieden mit sich war, bekam er Größenideen: er meinte dann nämlich, er sei eine starke Persönlichkeit; und vielleicht irrte er sich nicht einmal.

Endlich schien der Abteiliger Jutzeler zu einem Entschluß gekommen zu sein; denn er begann zu erzählen. Es war eine lange Geschichte, die er erzählte, sitzend neben der Leiche des kleinen Gilgen. Mehrmals wurde Jutzeler gerufen, sein Name schallte durch die Gänge des B, aber der schlanke Pfleger bewegte sich nicht, sondern sprach weiter, ein wenig eintönig, die Hände ums Knie gefaltet… Und obwohl seine Geschichte die Geschehnisse der letzten Tage nur streifte, erklärte sie doch manches…

Sie begann mit der Gründung der Randlinger Blechmusik.

Die Pfleger, die Blasinstrumente spielen konnten, hatten beschlossen, sich zusammenzutun. Ein Dirigent wurde gesucht, gefunden: Knuchel mit Namen, Pfleger auf K. Breites Kinn, Wulstlippen, Bibelleser, Mitglied einer Sekte des Dorfes. Die Bläser hielten eine Versammlung ab. Knuchel verlangte folgendes: Es dürften nur Choräle und ernste Volkslieder gespielt werden, keine Märsche, keine Tänze. Vor jeder Probe müsse ein Kapitel aus der Bibel vorgelesen, gebetet werden, nach der Probe ebenfalls… Der kleine Gilgen spielte Posaune. Außerdem führte er die Opposition…

Die Opposition setzte sich zusammen aus den weltlich Gesinnten… Sie wollten das Theater, wie sie sagten, nicht mitmachen. Der kleine Gilgen meinte, eine Musik könne der Beginn einer Organisation sein… Er wollte klare Stellungnahme. Kein religiöses Theater, sondern Kameradschaft… Er wurde überstimmt. Die ›weltlich Gesinnten‹ traten gleich bei der ersten Sitzung aus und gründeten ein eigenes Musikkorps. Das sollte Märsche spielen, Walzer und bei den ›Anlässen‹ zum Tanz aufspielen. Aber es fehlte ihnen der Dirigent. Gilgen, obwohl mit Sorgen überhäuft, übte mit den Leuten. Dann spielten sie einmal, am Silvester… Es war kläglich. Falsch, ohne Rhythmus… Sogar die Patienten lachten, es wurde gepfiffen, der Direktor wurde wütend, weil einige Gäste anwesend waren und er sich blamiert fühlte… Die ›weltliche Musik‹ wurde aufgelöst, die paar Bläser, die gern spielen wollten, krochen zu Kreuze und traten in die Kapelle der ›Stündeler‹ über. Knuchel als Dirigent war gut. Sie spielten nach zwei Wochen an einem Sonntagmorgen, brachten dem alten Direktor ein Ständchen, der Direktor beglückwünschte sie, sie erhielten aus dem Unterhaltungsfonds der Anstalt eine Subvention… Knuchel stellte seine Bedingungen: Er wolle gern mit seinen Leuten an den Anlässen spielen, aber während der Musikstücke dürfe nicht getanzt werden. Die Blechmusik spielte Trauermärsche, so daß das Tanzen ohnehin nicht in Frage kam, Choräle und allenfalls noch das Beresinalied.

Der Wachtmeister werde finden, die Geschichte sei müßig. Im Gegenteil… Sie erhelle blitzartig die Spannungen unter dem Pflegepersonal… Studer möge erlauben, daß er ein wenig von sich berichte…

Jutzeler sprach sehr ruhig, es klang, als ob er in einer Kommissionssitzung ein Referat über einen langweiligen Gegenstand halten müsse… Immerhin schwang etwas wie verschüttete Bewegung in seinen Worten mit…

Er sei als Verdingbub aufgewachsen… Der Wachtmeister wisse, was das heiße… Im Berner Oberland… Das bedeute Hunger, Schläge, kein freundliches Wort… Ein sattsam bekanntes Thema, unnötig, ein Wort weiter darüber zu verlieren… Er habe das Glück gehabt, daß er dem Pfarrer des kleinen Dorfes aufgefallen sei, weil er einmal, oben auf einer Matte, einem Touristen ein gebrochenes Bein kunstvoll geschient habe… Der Arzt habe sich gewundert… So sei es gekommen, daß er mit achtzehn Jahren in eine Krankenpflegerschule habe eintreten können… Es sei sehr religiös dort zugegangen, aber der Wachtmeister möge ihm die Schilderung dessen ersparen, was unter der frommen Oberfläche vorgegangen sei. Nichts Erfreuliches… Er, Jutzeler, habe dann nach bestandener Prüfung in Spitälern als Krankenpfleger gearbeitet. Und einmal auf einer Ferienreise habe er die Anstalt Randlingen besucht. Es habe ihn interessiert, auch sei die Bezahlung als Irrenpfleger besser als die in den Spitälern… Er habe heiraten wollen… Der Direktor sei damals gerade in den Ferien gewesen, Dr. Laduner habe den Direktor vertreten und ihn angestellt. Die Anstalt habe damals ausgesehen…

»Ich weiß«, sagte Studer. Die Frau Doktor habe ihm das geschildert.

Gut. Jutzeler erzählte Bekanntes: die Schlafkuren, der zähe Kampf um die Seele des Demonstrationsobjektes Pieterlen (merkwürdig war vielleicht nur, daß der Abteiliger den Ausdruck Dr. Laduners gebrauchte: ›das Demonstrationsobjekt‹), der Versuch, eine gewisse Einmütigkeit unter den Pflegern herzustellen, ein Versuch, der mit Dr. Laduner besprochen worden war…

»Es war wie in der Krankenpflegerschule… Die Pfleger konnten sich nur z'leidwärche… Keine Kameradschaft. Immer reklamieren wegen der langen Dienstzeit – von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends… Aber kein Versuch, die Lage zu ändern… Die andern Anstalten organisierten sich – wir blieben immer zurück… Die andern drohten mit Streik, wenn man ihre Lage nicht bessere… In Randlingen kuschten sie… Der Direktor hatte den Bruder seiner zweiten Frau zum Maschinenmeister ernannt, der sabotierte, wo er konnte; ich bin nicht müde geworden… Ich hab viel gelesen über Taktik, Kampf… Ich hab auch andere Bücher gelesen, besonders eines, das ziemlich merkwürdig war. Darin sagt der Autor: Dein ärgster Feind, Prolet, das ist dein Mitprolet… Ich hab' das erfahren hier in der Anstalt… Wenn mich Dr. Laduner nicht immer gedeckt hätte, ich wäre sicher schon lange geflogen… So habe ich eine Abteilung übernehmen müssen… Ich trage die Verantwortung für alles, was im B passiert, denn der Oberpfleger Weyrauch…«

»Hält sich Zeitschriften über Nacktkultur…«

»Exakt, Wachtmeister…« und Jutzeler lächelte schwach. »Ich hab' dann doch ein paar Pfleger zusammenbekommen, wir haben Anschluß gesucht mit den organisierten Pflegern aus den andern Anstalten… Aber die Stündeler haben mir einen Strich durch die Rechnung gemacht… Die Stündeler und der Maschinenmeister… Ihr müßt euch vorstellen, Wachtmeister, es sind nicht nur zwei große Gruppen in solch einer Anstalt: die Stündeler und die Organisierten… Zwischen beiden pendelt der größere Haufen hin und her… Kennen Sie die Französische Revolution?«

»Wenig…«

»Zwischen den beiden extremen Parteien«, erklärte Jutzeler, und er sprach schriftdeutsch, aber am singenden Tonfall erkannte man noch immer den Oberländer… »Zwischen der Rechten und der äußersten Linken, dem ›Berg‹, lag das Zentrum – der Sumpf, sagte man damals, ›le marais‹… Das waren Leute, die leben wollten, verdienen, es wieder gut haben… Sie haben den Ausschlag gegeben… Wir haben auch eine Sumpfpartei… Das sind die Leute, die zufrieden sind, wenn andere ihnen die Lohnerhöhung verschafft haben, die Geld auf der Sparkasse haben, die um ihre Stelle bangen…«

»Bohnenblust…« sagte der Wachtmeister leise.

»Unter andern… Die gaben den Ausschlag. Wir traten in den Staatsangestelltenverband ein… Und die Stündeler in die Evangelische Arbeiterpartei… Nun ja, der Direktor war zufrieden; Dr. Laduner, zu dem ich nach der Sitzung ging, zuckte die Achseln… Es sei halt nichts zu machen… In dieser Krisenzeit… Mich haben die andern nie offen angegriffen, aber die ganze Hetze gegen den Gilgen war eigentlich gegen mich gerichtet…«

Jutzeler blickte auf den Toten. Der kleine Gilgen schien zu lächeln…

»Dr. Laduner mochte den Gilgen gern… Das wußten die andern. Hier auf der Abteilung hab' ich sonst gute Leute, fast alles junge Pfleger, aber ich muß immer hinter ihnen her sein… Gilgen war der Älteste. Ich nahm ihn als Stellvertreter. Das war ein großer Fehler… Gilgen war tüchtig, aber er verstand nichts von Disziplin… Und schließlich, auf einer Abteilung muß Ordnung sein. Besonders seit Dr. Laduner die Arbeitstherapie eingeführt hat, ist es nicht wie früher… Wir müssen uns um die Patienten kümmern, sie beschäftigen, auch in der Freizeit, sie sollen lesen, sie sollen spielen, sie sollen nicht wieder versinken, man soll sie entlassen können…«

Studer wunderte sich. Ein einfacher Mann, er war Verdingbub gewesen, er sprach ruhig, überlegt… Ein einfacher Mann, aber er wußte, was er wollte.

»Ich hab' dem Gilgen Vorwürfe machen müssen. Alle vierzehn Tage habe ich einen freien Tag, in der Woche dazwischen einen halben Tag… Im Jahr vierzehn Tage Ferien… Wenn ich zurückkam, war alles in Unordnung… Der Gilgen verstand nichts vom Befehlen… Wie alle schüchternen Leute, war er entweder zu grob oder zu weich… Die andern begannen ihn zu hassen…

Es wird viel geklatscht in solch einer Anstalt… Ich habe mich nie daran beteiligt, aber ihr könnt euch das vorstellen, Wachtmeister, ihr seid ja in einem ähnlichen Betrieb… Und man kann nicht genau sagen, wo Matto aufhört, zu regieren – wie Schül sagt… Item, die jungen Pfleger liefen zum Knuchel auf dem K, dem Dirigenten der Blasmusik, und beklagten sich über Gilgen… Vielleicht hatte er da…« Jutzeler klopfte auf den roten Bettüberwurf, unter dem der Tote lag, »wirklich nicht ganz korrekt gehandelt. Der Knuchel riet ihnen, den Gilgen zu beobachten… Man wußte allgemein, denn man lebt ja hier in einem Glashaus, daß es dem Gilgen schlecht ging… Man ertappte ihn darauf, daß er einmal zur Feldarbeit ein Paar gebrauchte Schuhe trug, die innen mit dem Namen eines Patienten gezeichnet waren… Der junge Pfleger erzählte das dem Knuchel, der Knuchel ging zum Abteiliger des K, auch ein Gesinnungsgenosse, Anabaptist oder Sabbatist oder evangelischer Gemeinschaftler – ich kenn mich nicht so genau aus bei diesen Sekten – und der Abteiliger vom K sprang zum Direktor… ich wußte von der ganzen Sache nichts… Der Herr Direktor nahm ein Protokoll auf mit dem Abteiliger vom K, mit dem Knuchel, mit dem jungen Pfleger von meiner Abteilung… Alles hinter meinem Rücken, hinter dem Rücken des Gilgen… Dann wurden die andern Pfleger der Abteilung vorgeladen und dann wurde Gilgens Schaft erlesen… Es fanden sich noch ein Paar Unterhosen, die ebenfalls mit dem Namen eines Patienten gezeichnet waren… Nun wurde Gilgen vor den Direktor geladen… Peinliches Verhör… Ihr habt den Gilgen gekannt; er hat mir auch erzählt, gestern abend, daß er mit euch gesprochen hat, vorgestern nachmittag… Er war verwirrt… Ich bin sicher, er hat weder die Schuhe genommen, noch die Unterhose… Die Unterhose konnte in der Wäsche verwechselt worden sein, und die Schuhe? Ich habe immer den Verdacht gehabt, man hat sie ihm hingestellt, und am Morgen, wenn man zur Feldarbeit geht, ist man pressiert, da schaut man nicht erst lange… Aber Gilgen konnte sich nicht verteidigen… Er schwieg…«

»Ja«, sagte Studer seufzend, »schweigen konnte er…«

»Und dann müßt ihr bedenken: seine Frau krank, Schulden, Sorgen, seine Kinder bei fremden Leuten… Es gibt doch viel Gemeinheit auf der Welt… Der kleine Gilgen hatte niemandem etwas getan… Daß er mit der Blasmusik nicht einverstanden war, das konnte man ihm doch nicht übelnehmen… Aber man nahm es ihm übel… Man ging ihn verrätschen… Das Protokoll wurde vom Direktor drei Tage vor der ›Sichlete‹ aufgenommen… Er wollte es an die Aufsichtskommission schicken und die Entlassung Gilgens beantragen…

Wenn die andere Partei ihre Spione hat, so habe ich auch die meinen… Am Abend erfuhr ich von der Sache. Gegen sechs Uhr. Ich darf daheim schlafen… Diese Nacht bin ich in der Anstalt geblieben, ich bin von halb sieben bis elf Uhr herumgelaufen, von einer Abteilung in die andere… Ich habe geredet… Wir müssen zusammenhalten, habe ich gesagt, es kann jedem von uns das gleiche passieren, denkt doch, es geht um unsere Freiheit… Die Leute blieben taub. Hatten Ausreden. Am nächsten Tag machte ich weiter… Ich ging schärfer vor. – Wenn der Gilgen entlassen wird, sagte ich, so proklamieren wir den Streik… Das war eine Dummheit, wenn ihr wollt… Denn der ›Sumpf‹, der ›Sumpf‹ wollte nicht mitmachen… Die Frösche im Sumpf sind schreckhaft, sie verkriechen sich im Schlamm, wenn einer am Ufer vorübergeht, und erst, wenn es wieder still geworden ist, dann quaken sie… Jetzt, nachdem der Direktor tot ist, quaken die Frösche sehr laut… Sie wissen, unter dem Dr. Laduner wird andere Luft wehen…

So kam der Tag vor der Sichlete heran… Ich hatte erfahren, daß der Direktor von meinem Streikprojekt wußte… Es konnte auch mir den Kragen kosten, aber ich hatte keine Angst. Ich konnte immer wieder Arbeit finden, im Spital hatten sie mich ungern gehen lassen… Mit dem Gilgen war es etwas anderes… Ich hab' das Telephon abgenommen an jenem Abend und den Direktor gerufen…«

Studer saß vorgeneigt, die Unterarme auf den Schenkeln. Jetzt hob er den Kopf:

»Eine Frage, Jutzeler, habt ihr die Stimme im Telephon nicht erkannt?«

Pause, lange Pause. Jutzeler runzelte die Stirn. Dann sprach er weiter, so, als habe der Wachtmeister überhaupt keine Frage gestellt…

»Als der Direktor vom Telephon zurückkam, hielt ich ihn an. Ich müsse ihn heut abend noch sprechen, sagte ich. Er sah mich spöttisch an: ›Pressiert's auf einmal?‹ – Ich blieb ruhig und sagte nur ›Ja‹. Dann, meinte er, solle ich um halb eins vor dem Büro warten. Er ließ mich stehen.

Ich habe gewartet, nicht lange. Dann kam er. Wir gingen ins Büro. Ich verlangte die Protokolle zu sehen, er lachte mich aus. Da hab' ich ausgepackt und gedroht. Ich werde ihn in die Zeitung bringen, hab' ich gesagt, es sei eine Sauerei, wie er mit dem Pflegepersonal umgehe! Ich hab' ihm seine Liebeleien vorgehalten… Da hat er auch angefangen zu brüllen, er werde mir schon das Handwerk legen, er werde mich auf die Schwarze Liste setzen lassen, ich sei entlassen, und er werde schon dafür sorgen, daß ich keine Arbeit mehr bekäme. Ich sprach immer nur von den Protokollen… Schließlich sei die Sache mit Gilgen auf dem B passiert, wo ich Abteiliger sei, ich hätte das Recht, Einblick zu verlangen in die Aussagen. Das Ganze sei gegen mich gerichtet, aber ich wisse, daß Dr. Laduner auf meiner Seite stehe… Das hätte ich nicht sagen sollen, denn da hakte er ein… Mit dem Dr. Laduner, sagte er, habe er auch noch eine Rechnung zu begleichen, ob ich wisse, wieviel Patienten in den letzten Tagen auf dem U 1 gestorben seien? Er habe sich eine Liste anfertigen lassen, und auch diese Liste werde er der Aufsichtskommission unterbreiten, damit sie sehe, wie ein Arzt hause… Während er Direktor gewesen sei, sei die Sterblichkeit immer klein gewesen in der Anstalt, erst seit man mit all den modernen Manövern begonnen habe, gebe es so viele Tote. Er habe die Sektionsprotokolle, die Dr. Blumenstein gemacht habe, nachgeprüft, es stimme nicht alles. Er habe selbst zwei Fälle noch nachuntersucht und Blutproben ans Gerichtsmedizinische geschickt. Er warte nur noch auf das Resultat, dann werde er auch gegen Dr. Laduner vorgehen, der Herr gehe ihm schon lange auf die Nerven, alle Ärzte, alle Assistenten habe er ihm abspenstig gemacht – vorläufig aber sei er, Ulrich Borstli, noch Direktor der Irrenanstalt Randlingen, und da könne auch der große Dr. Laduner nichts machen mit all seiner Weisheit und all seinem Einfluß und all seiner Diplomatie… Hier seien die Sektionsprotokolle – und er klopfte auf den Schreibtisch – und hier seien auch die Aufzeichnungen, die Gilgen beträfen… Und ich solle machen, daß ich zum Teufel käme…

Wir gingen zusammen hinaus. Ich blieb in einer dunklen Ecke des Ganges stehen, der Direktor ging in seine Wohnung, kam wieder herunter und hatte seinen Lodenkragen umgehängt. Bevor er in den Hof hinaustrat, löschte er das Licht im Gang… Und nun habe ich eine Dummheit gemacht, Wachtmeister; ich wollte die Protokolle sehen, die Gilgen betrafen, aber lieber noch die Sektionsprotokolle… Ich fand, es sei meine Pflicht, sie Dr. Laduner zu bringen, damit er sich wehren könne. Und so ging ich wieder ins Büro zurück. Ich zündete das Licht an, suchte in allen Schreibtischschubladen und fand nichts.

Da hörte ich Schritte vor der Türe. Ich drehte schnell das Licht ab, denn ich wollte doch nicht im Direktionsbüro überrascht werden wie ein Dieb.

Die Tür ging auf, eine Hand wollte den Lichtschalter andrehen, ich packte die Hand. Und dann gab es einen stummen Ringkampf im Büro. Die Schreibmaschine fiel zu Boden, eine Scheibe klirrte. Endlich hatte ich den Mann auf dem Boden… Und dann machte ich mich davon… Ich ging zum Gilgen, der war noch auf, er hatte in dieser Nacht Dienst, aber er war nicht an der ›Sichlete‹ gewesen. Er saß hier auf dem Bettrand. Ich sagte zum Gilgen, er solle den Mut nicht verlieren, wir wüßten ja jetzt, was los sei. Am nächsten Morgen wollte ich mit Dr. Laduner sprechen… – Aber inzwischen war mancherlei passiert…«

»Wie ihr aufs B zurückgegangen seid, Jutzeler, habt ihr da niemanden getroffen?«

Jutzeler wich aus. Er sagte:

»Es schlug zwei Uhr, als ich über den Hof ging.«

»Einen Schrei habt ihr nicht gehört?«

»Nein…«

»Gut«, sagte Studer. »Und mehr habt ihr wohl nicht zu sagen…«

Jutzeler dachte eine Weile nach, kratzte sich in den Haaren, schüttelte den Kopf, lächelte und meinte:

»Wenn ihr noch etwas über uns erfahren wollt, über uns Wärter, wie man früher sagte, über uns Pfleger, wie man uns heute nennt, so könnte ich noch lange erzählen… Von den langen Tagen und der Zeit, die dahinschleicht, weil man fast nichts zu tun hat; man steht herum, die Hände im Schürzenlatz, und beaufsichtigt und serviert das Essen, beaufsichtigt wieder und ›hütet‹ im Garten und kommt wieder herauf… Und ißt… Das Essen spielt eine große Rolle, nicht nur bei den Patienten, auch bei uns, den Pflegern. Wir wissen das Menü auf Wochen voraus: den Mais am Montag, den Reis am Mittwoch, die Makkaroni am Freitag und die Samstagswurst. Wir wissen, wann es Rösti gibt am Morgen, und wann Anken… Wir gehen über den Hof, und wir haben uns einen besonderen Schritt angewöhnt, langsam, langsam, damit die Zeit vergeht… Wir heiraten, damit wir wenigstens in der Nacht irgendwo daheim sind… Wir spüren es, wenn das Wetter ändert, dann sind unsere Schützlinge gereizt und wir auch… Wir ziehen Lohn, nicht viel… Manche bauen sich ein Hüüsli und haben dann Schulden abzuzahlen. Es ist, als ob sie Sehnsucht hätten nach Sorgen, nur um die Leere der Tage auszufüllen… Wir stehen herum und warten, daß der Tag herumgeht… Man gibt uns Kurse, aber wir dürfen keine Verantwortung tragen… Für jedes Aspirin, für jedes Bad müssen wir fragen… Warum gibt man uns Kurse, wenn wir doch nicht verwerten dürfen, was man uns gelehrt hat?… Kurse! Meine Kollegen, die vor zwei Jahren das Diplom gemacht haben, was wissen die heute noch? Nichts… Ich hab's ein wenig besser, ich lese, und dann erklärt mir Dr. Laduner, was ich nicht weiß… Aber es ist so hoffnungslos. Was nützt es schon, daß ich eine Diagnose besser stellen kann als ein Assistent, der eben eingetreten ist?… Ich muß zuschauen, was der Assistent, der Neuville zum Beispiel, für Dummheiten macht, wie er mit einem Gereizten dumme Witze macht, und ich kann's dann ausbaden, wenn der Patient ein paar Fensterscheiben zertrümmert. Ja, wenn alle wären wie der Dr. Laduner!«

Schweigen. Der Tote auf dem Bett lächelte. Draußen war rote Dämmerung…

»Ich muß jetzt gehen«, sagte Studer. »Merci denn, Jutzeler. Und was macht ihr mit dem… dem… Gilgen?«

»Wenn's dunkel ist, bringe ich ihn mit dem Schwertfeger ins T. Wir waren drei, die zusammengehalten haben, der Schwertfeger vom U 1«… Studer sah den Mann mit den Armmuskeln, der wie ein Melker aussah…, »der Gilgen und ich. Wir haben zusammengehalten. Jetzt sind wir noch zwei… Aber schließlich, jetzt hat Dr. Laduner das Wort…«

Studer kam an der Loge des Portiers vorbei. Er trat ein, erkundigte sich höflich, ob Dreyer auch Brissagos zu verkaufen habe. Die Frage wurde bejaht, Studer bediente sich, dann wies er auf die verbundene Hand und fragte ganz ruhig:

»Warum habt ihr mir nicht erzählt, daß ihr das Fenster im Direktionsbüro eingeschlagen habt? Und euch dabei verwundet habt?«

Dreyer lächelte ein wenig blöde. Er besann sich, dann entschloß er sich:

Ja, er habe Schritte im Büro gehört und sei nachschauen gegangen, da sei er überfallen worden… Und habe sich an der Hand verletzt… – Warum er nichts gesagt habe?… – Ganz einfach, weil inzwischen der Direktor verschwunden sei, und er Angst gehabt habe vor Komplikationen… Woher habe der Herr Wachtmeister erfahren, daß er im Büro gewesen sei?

»Kombination…« sagte Studer und hatte den Triumph, Bewunderung in den Augen des Portiers Dreyer zu lesen…

Es konnte stimmen, es konnte auch nicht stimmen… Dreyer konnte auch einen persönlichen Grund gehabt haben, im Büro sich umzusehen. Nur war ein solcher Grund schwer zu erraten… Man mußte wieder einmal warten… Aber zum Dr. Laduner ging man nicht z'Nacht essen. Nein, lieber nicht… Allein sein tat not. Übrigens schlug die Turmuhr der Anstalt mit ihrem gewohnten sauren Klang sechs Uhr. Studer ging die Stufen vom Hauptportal hinab, ging weiter durch die Allee mit den Apfelbäumen auf das Dorf Randlingen zu.

Da sah er vor sich ein Paar schreiten.

Dr. Laduner hielt seine Frau am Arm, und die beiden gingen im Gleichschritt, langsam, durch den Abend, der kühl und erdbeerfarben war… Über den Schneebergen lag eine orangene Wolke.

Die beiden da vorn sprachen nicht. Und Studer fand, daß die beiden durchaus nicht einem Liebespaar glichen. Aber eines war deutlich zu spüren… Die beiden gehörten zusammen, sie hielten zusammen. Und Studer hatte das tröstliche Gefühl, daß, was auch passieren mochte, der Dr. Laduner wenigstens nicht allein sein würde. – Denn wahrlich, die Situation war viel weniger rosig als der Abend…

Beim Metzger und Wirt Fehlbaum ließ sich der Wachtmeister eine Portion Hammen und einen halben Liter Waadtländer bringen. Er aß ein paar Bissen, trank einen Schluck Wein, stand auf und fragte nach dem Telephon.

Frau Laduner gab Bescheid. – Die Frau Doktor möge ihn bitte entschuldigen, sagte Studer, er werde nicht zum Nachtessen kommen, er habe eine wichtige Abhaltung. –

Ja, sagte Frau Laduner mit ihrer tiefen, warmen Stimme, die selbst im Telephon angenehm tönte, aber er solle nicht versäumen, um halb neun zu kommen. Er müsse unbedingt die Aufsichtskommission kennenlernen.

Studer versprach, pünktlich zu sein…


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