Glauser, Friedrich
Matto regiert
Glauser, Friedrich

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Matto erscheint

Am meisten bewunderte Studer den Arzt Laduner. Er verstand es, Mittelpunkt zu sein und zu gleicher Zeit jedem, der sprach, die Überzeugung beizubringen, daß er, der Redende, die Hauptperson sei… Diplomatisches Geschick…

Den Herrn Pfarrer Veronal mit dem großen Mund ließ er über die Stellung der Landeskirche zur Oxfordbewegung sprechen und lauschte interessiert den langfädigen Ausführungen, unterbrach ihn dann höflich mit einem »Gestatten Sie bitte, Herr Pfarrer«, worauf er sich der Frau Nationalrat zuwandte und lobend von der Armendirektion sprach, die wirklich sehr verständnisvoll auf alle Anregungen eingehe, die von der Heilanstalt ausgingen… Die Frau Nationalrat strahlte, denn ein Bruder von ihr war Adjunkt an der Armendirektion… Übrigens kannte Studer diesen Mann, und er fand, Dr. Laduner übertreibe gar nicht… Beim schwerhörigen Fürsorgebeamten erkundigte sich Laduner nach dem Schicksal eines gewissen Schreier, der zur Begutachtung in Randlingen gewesen und dann ein Jahr in Witzwil versorgt worden war… Wie gehe es dem Manne? Halte er sich gut?… Sicher werde es dem Herrn Fürsorger gelingen, dem Mann bei der Entlassung eine gute Stelle zu verschaffen; nein, nein, die Prognose sei gar nicht ungünstig… Laduner ließ sich auch nicht durch das fortwährende: »Wie me-inet i-ihr?« aus der Ruhe bringen, er wiederholte seine Sätze dreimal, wenn es sein mußte, und inzwischen unterhielt sich Frau Laduner mit der Frau Nationalrat und schenkte Tee ein. Der Herr Pfarrer Veronal trank ihn mit viel Rum. Und Studer auch.

Der Wachtmeister war vorgestellt worden, nun hockte er in der Ecke beim Fenster, stumm, beobachtend.

Um neun Uhr verabschiedete sich die Kommission und Studer blieb sitzen. Dr. Laduner erbot sich, die Mitglieder mit dem Auto nach der Station zu bringen, und das Anerbieten wurde dankend angenommen.

Studer wartete auf die Rückkehr des Arztes in seiner Ecke. Frau Laduner fragte, warum der Herr Studer so schweigsam sei, und erhielt als Antwort ein unhöfliches Brummen. So schwieg auch sie, ging zum Fenster, wo in der Ecke, Studer gegenüber, ein glänzend polierter Kasten auf einem kleinen Tischchen stand. Sie drehte an einem Knopf… Marschmusik. Studer war es zufrieden. Marschmusik war besser als: »Irgendwo auf der Welt…«

Sie warteten beide schweigend auf Laduners Rückkehr. Als dann der Arzt ins Zimmer trat, schickte er seine Frau ins Bett, sehr freundlich und besorgt übrigens, und meinte schließlich: »Sie leisten mir noch Gesellschaft, Studer?«

Der Wachtmeister brummte etwas aus seiner Ecke, das man allenfalls als Zustimmung auffassen konnte…

Laduner schwieg zuerst. Dann sagte er:

»Schad um den Gilgen…« Er schien auf eine Antwort zu warten, aber als es in der Ecke still blieb, fuhr er fort:

»Haben Sie eigentlich darüber nachgedacht, Studer, daß sich niemand unbeschadet lange Zeit mit Irren abgeben kann? Daß der Umgang ansteckend wirkt? Ich habe mich manchmal gefragt, ob es vielleicht nicht umgekehrt ist: daß nur diejenigen als Pfleger, als Ärzte in Irrenanstalten gehen, die ohnehin schon einen Vogel haben, um volkstümlich zu reden. Mit dem Unterschied, daß die Leute, die den Drang verspüren, in Mattos Reich einzudringen, wissen, daß etwas bei ihnen nicht stimmt, unbewußt, meinetwegen, aber sie wissen es. Es ist eine Flucht… Die andern draußen haben manchmal die ausgewachseneren Vögel, aber sie wissen es nicht, nicht einmal unbewußt… Denken Sie, ich bin einmal um die Mittagszeit am Bundeshaus vorbeigegangen und habe die Angestellten herausströmen sehen. Ich bin stehengeblieben und habe mir die Leute angesehen… Es war lehrreich… Gang, Haltung. Der eine hatte den Daumen im Westenausschnitt und ging mit schlenkernden Tritten, sein Gesicht war rot und steif, und ein einfältiges Lächeln lag auf seinem Gesicht… Sieh da! sagte ich, eine beginnende Katatonie!… und versuchte auszurechnen, wann etwa der Schub fällig sein würde. – Ein anderer hatte starre Blicke, sah sich ständig um, dann blickte er wieder eine Zeitlang zu Boden und balancierte vorsichtig auf dem Trottoirrand… Neurotisch, vielleicht schizoid, dachte ich… Ein anderer trug eines jener Lächeln im Gesicht, die man als sonnig zu bezeichnen pflegt, er hatte den Kopf im Nacken, schlenkerte mit dem Stock, grüßte alle Leute… Natürlich: manische Verstimmung wie mein Bundesratsattentäter Schmocker…«

Immer noch spielte das Radio in der Ecke leise Märsche. Es war eine angenehme Begleitung zu den Ausführungen Dr. Laduners.

»Sie haben mit Schül gesprochen, hab' ich gehört? Und er hat Ihnen sein Gedicht verehrt? Sie werden mir zugeben, daß es nicht dumm ist, daß es voll Symbolgehalt ist… Manchmal hab' ich ihn beneidet um seinen Matto… Matto, der die Welt regiert! Matto, der mit roten Bällen spielt und sie wirft, und die Revolutionen flackern auf!… Und die bunte Papiergirlande flattert, und der Krieg lodert… Es hat viel für sich… Wir werden nie die Grenze ziehen können zwischen geisteskrank und normal… Wir können nur sagen, ein Mensch kann sich sozial anpassen, und je besser er sich sozial anpassen kann, je mehr er versucht, den Nebenmenschen zu verstehen, ihm zu helfen, desto normaler ist er. Darum habe ich immer den Pflegern gepredigt. Organisiert euch, haltet zusammen, versucht miteinander auszukommen! Organisation ist doch der erste Schritt zu einem fruchtbaren Zusammenleben… Zuerst Interessengemeinschaft, dann Kameradschaft… Eins geht aus dem andern hervor – sollte wenigstens daraus hervorgehen… Freiwillig übernommene Verpflichtungen… Wenn man es nur nicht so oft auf Schützenfesten prostituiert hätte, das Wort: Einer für alle, alle für einen…«

Ein anderer leiser Marsch… Es war eine Militärmusik, die spielte…

»Es wäre schön… Was tun wir denn eigentlich, wir vielverlästerten Psychiater? Wir versuchen, ein wenig Ordnung zu schaffen, wir versuchen, den Menschen zu zeigen, daß es gar nicht so unnötig ist, ein wenig vernünftig zu sein, nicht allen dunklen Regungen des Unbewußten nachzugeben… Die Menschen haben eines noch nicht begriffen, daß Leid eben auch Lustgewinn bringt… verstehen Sie?…

Wenn es einem Volk zu gut geht, dann wird es übermütig und sehnt sich nach dem Leid. Genügsamkeit ist wohl am schwersten zu ertragen…«

Laduner schwieg. Er schien mehr für sich selbst zu sprechen… Studer hatte plötzlich das Gefühl, daß er die ganze Rede über Pieterlen falsch beurteilt hatte…

Auf dem Grunde aller Menschen hockte die Einsamkeit.

Vielleicht war Dr. Laduner auch einsam? Er hatte seine Frau… Aber es gibt gewisse Dinge, die man auch mit einer Frau nicht besprechen kann. – Er hatte Kollegen… Was kann man schon mit Kollegen sprechen?… Fachsimpeln!… Und mit den Ärzten drunten? Für die war man der Lehrer… Da schneite eines Tages ein einfacher Fahnderwachtmeister in die Wohnung des Dr. Laduner. Und Dr. Laduner ergriff die Gelegenheit und hielt vor besagtem Fahnderwachtmeister Monologe. Warum sollte er nicht?

»Er wirft seine Girlanden, und der Krieg flackert auf…« wiederholte Laduner. Er schwieg. Ein Militärmarsch verklang, und dann erfüllte eine fremde Stimme das Zimmer. Sie war eindringlich, aber von einer unangenehmen Eindringlichkeit. Sie sagte:

»Zweihunderttausend Männer und Frauen sind versammelt und jubeln mir zu. Zweihunderttausend Männer und Frauen haben sich eingefunden als Vertreter des ganzen Volkes, das hinter mir steht. Das Ausland wagt es, mich des Vertragsbruches zu zeihen… Als ich die Macht ergriff, lag das Land verheert, verwüstet, krank… Ich habe es groß gemacht, ich habe ihm Achtung verschafft… Zweihunderttausend Männer und Frauen lauschen meinen Worten, und mit ihnen lauscht das ganze Volk…«

Langsam stand Laduner auf, schritt zum sprechenden Kasten… Ein Knack… Die Stimme verstummte…

»Wo hört Mattos Reich auf, Studer?« fragte der Arzt leise. »Am Staketenzaun der Anstalt Randlingen? Sie haben einmal von der Spinne gesprochen, die inmitten ihres Nestes hockt. Die Fäden reichen weiter. Sie reichen über die ganze Erde… Matto wirft seine Bälle und Papiergirlanden… Sie werden mich für einen dichterischen Psychiater halten… Das wäre nicht so schlimm… Wir wollen doch nicht viel… Ein wenig Vernunft in die Welt bringen… Nicht die Vernunft der französischen Aufklärungszeit, eine andere Art Vernunft, die unserer Zeit… Die Vernunft, die fähig wäre, wie eine Blendlaterne in das dunkle Innere zu zünden und ein wenig Klarheit zu bringen… Ein wenig die Lüge zu verscheuchen… Die großen Worte beiseite zu schieben: Pflicht, Wahrheit, Rechtschaffenheit… Bescheidener zu machen… – Wir sind allesamt Mörder und Diebe und Ehebrecher… Matto lauert im dunkeln… Der Teufel ist schon lange tot, aber Matto lebt, da hat Schül ganz recht… Es ist schade, daß Schül mir nie die Bitte erfüllt hat, eine Geschichte Mattos zu schreiben… Ein kleines Gedicht in Prosa bring ich bei keiner Zeitung an…«

Er schwieg. Studer gähnte leise, Laduner hörte es nicht. »Zweihunderttausend Männer und Frauen – das ganze Volk… Und Kollege Bonhöffer, unser Lehrer, ein Mann, der viel wußte, er ist umgefallen wie ein Kartenhaus…

Erinnern Sie sich an den großen Prozeß?… Der Mann, der soeben sprach, hat Glück gehabt… Wäre er zu Beginn seiner Laufbahn einmal psychiatrisch begutachtet worden, die Welt sähe vielleicht ein wenig anders aus… Ich sagte Ihnen schon, der Verkehr mit Geisteskranken ist ansteckend. Es gibt Menschen, die prädisponiert sind, wenn Sie mich verstehen, aufnahmefähig… Ganze Völker können prädisponiert sein… In einem Vortrag habe ich einmal einen Satz gesagt, der mir übelgenommen wurde: Gewisse sogenannte Revolutionen, habe ich gesagt, sind im Grunde nichts anderes als die Revanche der Psychopathen… Worauf ein paar Kollegen demonstrativ den Saal verlassen haben… Aber es ist doch so…«

Laduner sah müde aus. Er legte die Hand über die Augen. »Wir stehen auf verlorenem Posten. Aber wir müssen weitermachen… Es hilft uns niemand. Vielleicht ist es nicht ganz nutzlos, vielleicht kommen später andere – in hundert, in zweihundert Jahren? –, die bauen dann dort weiter, wo wir aufgehört haben…«

Ein Seufzer. In der Wohnung war es still.

»Trinken Sie noch ein Glas Bénédictine?« fragte Laduner plötzlich. Er ging hinaus, blieb merkwürdig lange fort, kam wieder, mit zwei gefüllten Gläsern auf einem Tablett.

»Prost!« sagte er und stieß mit Studer an. »Sie müssen austrinken!« Studer leerte das Glas. Der Schnaps hatte einen sonderbar bitteren Nachgeschmack. Der Wachtmeister blickte Laduner an, doch der wandte sich ab.

»Gute Nacht, Studer. Und schlafen Sie gut!« sagte er mit seinem Maskenlächeln…

Man liegt im Bett und weiß nicht, schläft man oder ist man wach… Der Schlaf ist wie ein schwarzes Tuch, unter dem man liegt, und man kommt aus seinen Falten nicht los… Man träumt, man sei wach, vielleicht ist man wirklich wach?

Das Zimmer ist doch hell. Unverständlich ist nur, warum die Helligkeit grün ist, obwohl die Nachttischlampe einen gelben Schirm trägt. Und in der grünen Helligkeit sieht man jemanden am Tisch sitzen. Er sitzt zurückgelehnt im Stuhl, hält eine Handharpfe auf den Knieen und spielt, spielt…

»Irgendwo auf der Welt fängt der Weg zum Himmel an…«

Merkwürdig ist nur eines: daß nämlich der Mann (ist es ein Mann übrigens?), daß der Mann, der am Tisch sitzt, ständig seine Gestalt ändert… Bald ist er winzig klein, und nur die Nägel seiner Finger sind lang und flaschengrün… Bald aber ist er groß und dick, sehr dick… Er sieht aus wie der Bundesratsattentäter Schmocker, und er redet, während er handharpft: »Zweihunderttausend Männer und Frauen…« Er singt es zur Melodie: »Im Rosengarten von Sanssouci…« Dann wachsen dem dicken, kleinen Mann plötzlich ein zweites Paar Arme aus den Schultern, die Arme sind lang und dünn, die Hände spielen mit Bällen und Papiergirlanden. Die Bälle fliegen durch das offene Fenster, die Papiergirlanden zieren die Wände… Man ist ja im Kasino, mit den Honoratioren sitzt man am gleichen Tisch, Weißwein füllt die Gläser. Aber in einer Ecke der Bühne, baumelnd mit den Beinen, sitzt der Mann mit den vier Armen und spielt Handharpfe und jongliert mit Gummibällen… Es tanzen Paare im freien Raum, am Fuße der Bühne. Da springt der Vierarmige herab, mischt sich unter die Tanzenden, wie ein Primgeiger aus einer Zigeunerkapelle geht er zwischen den Tanzenden umher und neigt sich jedem Pärchen zu, mit einschmeichelndem Spiel…

»Vernunft!« sagt Dr. Laduner laut. Da ist das Kasino verschwunden. Baracken stehen in ödem Feld. Ein Stern steht am Himmel, sinkt herab und ist eine glühende Fabrik mit vielen, unzählig vielen Bauten. Es stinkt nach Gas, die Augen tränen. Der Vierarmige spielt: »Fridericus Rex unser König und Herr…«

Da stehen sie wie ein stummes, starres Regiment: Bombe an Bombe, langgestreckt, elegant… »Meine Erfindung«, sagt der Vierarmige. Eine Bombe platzt, gelbes Gas strömt heraus, die Luft wird dunkel, die Musik schweigt, laut und deutlich sagt Dr. Laduners Stimme:

»In zweihundert Jahren bauen wir weiter…«

Dann verfliegt der gelbe Gasvorhang, und auf einer weiten Ebene sind Leichen verstreut, die sonderbar verrenkt daliegen, ähnlich wie der alte Direktor oder wie der kleine Gilgen. Ja, richtig, einer ist der kleine Gilgen. Jetzt richtet er sich auf und sagt: »Irgendwo fängt doch der Weg zum Himmel an…« und lacht, und ob dem Lachen erwacht man… Mit schwerem Kopf… Das Zimmer ist dunkel, durchs Fenster sieht man, daß auch der Hof dunkel ist…

Herrgottdonner! Warum hat einem der Dr. Laduner ein Schlafmittel in die Bénédictine geschüttet?…

Ein Geräusch im Gang. Studer fuhr auf. Die Gangtüre schnappte ins Schloß. Mit einem Satz war Studer aus dem Bett… Wohin schlich Dr. Laduner?…

War der Vortrag über Mattos Reich nichts anderes gewesen als ein Ablenkungsmanöver, ähnlich dem Vortrag über das Demonstrationsobjekt Pieterlen?

Die Lederpantoffeln. Ein Blick auf die Uhr: zwei Uhr. – Ein Blick in den Hof: eine Gestalt ging vorsichtig in der Richtung nach der Ecke, in der das K ans R stieß.

Wie hatte Dr. Laduner gesagt? Der Umgang mit Geisteskranken wirke ansteckend?…

Es sickerte keine Handharpfenmusik mehr durch die Decke. Wo mochte Pieterlen sein? Eigentlich hätte man sich schon lange den Estrich ansehen müssen, mit dem Fenster, aus dem nach Schüls Behauptung Mattos Kopf vorschoß und zurück, vor und zurück… Vielleicht hatte Schül wirklich etwas beobachtet, vielleicht hatte Schül seine Beobachtung nur in ein Bild gekleidet… Der kantonale Polizeidirektor, dem man angeläutet hatte, gleich nach dem Gespräch mit Frau Laduner, hatte nämlich mitgeteilt, daß man Pieterlens Spur noch nicht gefunden habe…

Studer schlich über den stillen Hof, trat ins Sous-sol vom R. Die Tür der Heizung war geöffnet, das Licht brannte.

Am Fuß der Treppe, an der gleichen Stelle, an welcher der Wachtmeister den Direktor gefunden hatte, lag Dr. Laduner, und die Tür des Feuerloches stand weit offen.

Dr. Laduner war nicht tot. Nur betäubt. Studer ließ ihn vorläufig liegen. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er in das Ofenloch. Eine lederne Aktenmappe… Daneben halb verkohlte Papiere. Vorsichtig zog Studer sie heraus.

Auf den unverbrannten Blattresten konnte er Worte entziffern: »Pfleger Knuchel gibt an, er habe von Pfleger Blaser erfahren, daß Gilgen ein Paar Unterhosen im Schaft…«

Der Rest fehlte.

Auf einem andern Blatt stand:

»Schäfer Arnold † 25. VIII: Embolie. U 1.
Vuillemin Maurice † 26. VIII. Typhus exanthematosus. U 1.
Mosimann Fritz † 26. VIII. Allgemeiner Schwächezustand, Herzkollaps. U 1.«

Die Liste der Toten, die sich der Direktor angelegt hatte. Aber da war ein Blatt, fast unverkohlt…

»Sehr geehrter Herr Oberst,

In Beantwortung Ihres Schreibens vom 26.VIII. a. ct. teile ich Ihnen mit, daß ich die von Ihnen gewünschte Untersuchung vorgenommen habe. Ihr Sohn hat in letzter Zeit wieder dem Alkoholgenuß gefrönt, und gelang es mir persönlich, ihn zweimal in einer Wirtschaft in halbbetrunkenem Zustande zu betreffen. Es scheint mir, daß die von Dr. Laduner eingeleitete Kur wirkungslos bleibt, und erlaube ich mir, Sie zu bitten, die nötigen Schritte zu unternehmen, um besagte Kur zu unterbrechen…«

»Danke«, sagte eine Stimme neben Studer. Der Wachtmeister wandte sich um. Dr. Laduner stand lächelnd neben ihm, nahm ihm die Blätter aus der Hand, steckte sie in den Ofen zurück, entzündete ein Streichholz. Dann flackerten die Papiere auf. Dr. Laduner holte Holz, eine Wädele, legte zuerst dünnes Holz auf das brennende Papier, dann dickeres, schließlich die Ledermappe zuoberst… »Wir wollen die Vergangenheit verbrennen«, sagte Dr. Laduner.

Einen Augenblick glaubte Studer, er träume noch immer. Aber dann sah er, wie eine fleckige Blässe Dr. Laduners sonst braunes Gesicht überzog, wie der Arzt wankte. Studer stützte ihn. Der Mann war schwer…

»Wer hat euch niedergeschlagen, Herr Doktor?«

Laduner schloß die Augen, er wollte nicht antworten.

»Und«, fuhr Studer fort, »das war nicht recht, mir ein Schlafmittel in den Schnaps zu schütten… Warum habt ihr das getan? Ich bin doch da, um euch zu schützen… Und das kann ich doch nicht, wenn ihr mich einschläfert…«

Laduner öffnete die Augen.

»Sie werden später schon noch alles verstehen… Vielleicht hätte ich mehr Vertrauen zu Ihnen haben sollen… Aber es ging nicht…«

Dr. Laduner hatte eine Beule am Hinterkopf, sie war sichtbar unter der Haarsträhne, die wie der Kopfputz eines Reihers abstand, und Blut sickerte darunter hervor…

»Ich will ein wenig abhocken«, sagte Dr. Laduner mit müder Stimme. »Ein wenig Wasser, wenn dr weit so gut sy…« Er parodierte lächelnd den Oberpfleger Weyrauch…

Studer trat aus der Heizung und ging bis zum B, denn es war die einzige Abteilung, die er kannte. Dort brach er in die Küche im Parterre ein, fand einen Milchhafen, der zwei Liter faßte, füllte ihn mit Wasser und machte sich auf den Rückweg. Unterwegs, im Sous-sol, traf er einen Mann, der in der Dunkelheit herumschlich. Studer sah ihn erst, als er das Licht anknipste. Da blieb der Mann stehen, er war untersetzt, muskulös… Vielleicht ein Pfleger, der von einem kleinen Liebesausflug zurückkam…

Der gedrungene Mann fragte, was denn los sei.

– Das gehe ihn nichts an, antwortete Studer mürrisch. – Ob dem Dr. Laduner etwas passiert sei? – Nein, er sei ein wenig sturm, sonst nichts.

Der Mann atmete auf, wie erlöst. Aber als Studer ihn fassen wollte, um ihn weiter auszufragen, war der Mann in einem dunklen Seitengang verschwunden, und auch er mußte Finken tragen, denn seine Schritte waren unhörbar…

Studer wusch Dr. Laduners Wunde aus, verband sie mit seinem sauberen Taschentuch. Dann führte er ihn vorsichtig über den Hof, die Treppen hinauf…

Es war günstig, daß der Nachtwächter schon seine Runde gemacht hatte.

Im Türmchen der Anstalt schlug der Hammer vier Schläge und dann, kaum süßer, noch drei Schläge. Der letzte hallte scheppernd nach.

»Aber Ernscht!« sagte Frau Laduner vorwurfsvoll. Sie trug ihren roten Schlafrock. Studer half ihr, Dr. Laduner ins Bett zu legen. Dann empfahl er sich und wünschte gute Nacht. Es freute ihn, daß Frau Laduner ihm dankbar nachblickte…

In seinem Zimmer angekommen, mußte er plötzlich an die Szene in der Erziehungsanstalt des Herrn Eichhorn in Oberhollabrunn denken.

Es schien manchmal doch mit Gefahren verbunden zu sein, Proteste ablaufen zu lassen, dachte er. Und ganz verschwommen sah er zum erstenmal etwas, das, übertragen, einem Fadenende glich; jenes Ende des Fadens, das man braucht, um ein Gewirr aufzudröseln… Aber er konnte es noch nicht fassen… er sah seine Farbe, weiter nichts… Vielleicht war auch sein schlafsturmer Kopf an diesem Versagen schuld…


 << zurück weiter >>