Glauser, Friedrich
Matto regiert
Glauser, Friedrich

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Der Tatort und der Festsaal

Der Busch vor dem Fenster trug weiße Beeren, die an Wachskugeln erinnerten. Auf dem Fenstersims, zwischen den Glassplittern, tanzten zwei Spatzen. Sie benahmen sich wie Stehaufmännchen. In kurzen Zwischenräumen tauchten ihre Köpfe über dem untern Rand des Holzrahmens auf, verschwanden, tauchten wieder auf. Als Studer den umgefallenen Bürostuhl wieder auf die Beine stellte, flogen sie fort…

Zuerst setzte er sich, zog noch einmal sein Wachstuchbüchlein hervor und schrieb in seiner kleinen Schrift, die ein wenig an Griechisch erinnerte:

›Caplaun Herbert, Sohn des Obersten, Angstneurose, Patient des Dr. Laduner.‹

Dann lehnte er sich befriedigt zurück und betrachtete die Verwüstung.

Blut am Boden, das stimmte. Aber nur wenig: einzelne Tropfen, die auf dem glänzenden Parkett zu dunklen Plättchen eingetrocknet waren. Sie liefen in einer Linie von der zerbrochenen Fensterscheibe zur Tür. Vielleicht war einer mit der Faust durch die Scheibe gefahren und hatte sich verwundet.

Das kleine Tischchen, links neben dem Fenster, war wohl für die Schreibmaschine bestimmt, während sich der Schreibtisch, groß und breit, verschnörkelt, in der Ecke rechts vom Fenster breitmachte. Studer stand auf und hob die Schreibmaschine auf. Fingerabdrücke brauchte man hier wohl nicht zu suchen. Und vorläufig wußte man ja noch gar nicht, ob ein Mord passiert war oder ob sich der alte Direktor auf eine kleine Erholungsreise begeben hatte. In letzterem Falle hätte er zwar die Ärzteschaft avisiert, aber alte Herren haben manchmal ihre Mucken…

Über dem Schreibtisch hing ein Gruppenbild. Da stand inmitten von jungen Männern und Mädchen in Schwesterntracht ein alter Herr, der auf dem Kopfe einen breitrandigen schwarzen Hut trug. Ein lockiger, grauer Bart wucherte ihm aus Kinn und Wangen, und eine Stahlbrille saß auf seiner Nase.

In weißen Buchstaben stand unter der Photographie: »Unserem verehrten Herrn Direktor zum Andenken an den ersten Kurs.« Ja, ja, die jungen Männer sahen alle sehr brav aus, sie trugen schwarze Anzüge und hohe steife Kragen, und ihre Krawatten saßen ein wenig schief.

»Unserem verehrten Direktor…« Kein Datum? Doch. Inder Ecke unten: 18. April 1927.

Unter dem Bild, auf einem grünen Löschblatt, lag ein in der Mitte zusammengefalteter Brief. Studer las die ersten Zeilen: »… bitten wir Sie dringlichst, die schon seit zwei Monaten fällige Expertise über den Geisteszustand des…«

Hm! Ein bequemer Herr, der Direktor Borstli mit seiner Pelerine und seinem breitrandigen Hut… Wetten, daß er einen Schwalbenschwanz trug!… Gewonnen! Auf dem Bild trug er einen – einen grauen, soviel man sehen konnte, und die Hosen waren an den Knieen ausgebeult… Ein alter Mann, ein Mann der alten Schule… Wie war er mit dem betriebsamen Dr. Laduner ausgekommen? Eigentlich wußte man noch nicht viel über den Herrn Direktor Ulrich Borstli, außer daß er an hübschen Pflegerinnen Gefallen fand und sich von ihnen Ueli nennen ließ. Warum sollte er auch nicht? Er war niemandem Rechenschaft schuldig, ein kleiner König in – wie hatte Dr. Laduner das gesagt? – ja, richtig: in Mattos Reich. Diesen Schül, der den Geist Matto erfunden hatte, den mußte man kennenlernen. Matto! Glänzend! Matto hieß ja verrückt auf italienisch. – Matto! Das hatte Klang!

War er verheiratet gewesen, der alte Direktor? Sicher! Witwer? Wahrscheinlich…

Es war doch nichts zu holen in dem Büro. Warum war man dann von Dr. Laduner hineingeschickt worden? Der Mann tat nichts ohne Überlegung. Wovor hatte er Angst?… Man war leicht gehemmt, weil man den Dr. Laduner gern hatte, aufrichtig gern, weil man vor allem das Bild nicht vergessen konnte, das Bild aus der Anstalt in Oberhollabrunn… Und dann auch, weil er einem Brot und Salz geboten hatte… Chabis! Aber es war nun einmal so…

Wo mochte nur der alte Direktor stecken? Auf alle Fälle war es vielleicht gut, man sprach mit dem Portier. Portiers waren gewöhnlich mitteilsame Menschen, um nicht geradeheraus zu sagen: klatschsüchtige… Aber auf alle Fälle waren sie immer auf dem laufenden.

Und während aus dem Nebenraum, dem Ärztezimmer, durch die geschlossene Verbindungstür, eine eintönig referierende Stimme sickerte, drückte sich Wachtmeister Studer aus dem Direktionsbüro wie ein Schüler, der sich vor dem Lehrer drücken will. – Der Lehrer? In diesem Falle Dr. med. Ernst Laduner, zweiter Arzt und stellvertretender Direktor…

Der Portier Dreyer trug eine Weste mit angesetzten Lüsterärmeln und eine grüne Schürze vorgebunden. Er war daran, den Gang z'wüsche. Studer stellte sich breitbeinig vor ihn hin:

»Loset, Dreyer!«

Der Mann sah auf, sein Blick war leer. Die linke Hand, die auf dem Besenstiel ruhte, trug einen Verband.

»Ja, Herr Wachtmeister?« Der Mann kannte ihn also schon. Desto besser!

»Ihr seid verwundet?«

»Nüt vo Belang…« sagte Dreyer und senkte den Blick.

Bluttropfen im Direktionsbüro… Der Portier verwundet – an der Hand!… Studer nahm sich zusammen. Nid! Nid! Keine verfrühten Hypothesen. Einfach registrieren: Portier Dreyer ist an der Hand verwundet… Weiter!

»War der Direktor verheiratet?«

Der Portier grinste. Seine Augenzähne trugen Goldplomben, das störte Studer, darum blickte er beiseite.

»Zweimal«, sagte Dreyer. »Zweimal war er verheiratet. Und beide Frauen sind tot. Die zweite war zuerst Köchin bei ihm, Haushälterin hat man das genannt. Sie war aus keiner schlechten Familie. Sie hat's dann gut verstanden, ihre Geschwister in der Anstalt unterzubringen: den Bruder als Maschinenmeister, die Schwester als Buchhalterin in der Verwaltung – und ihr Schwager, der Mann ihrer zweiten Schwester, ist vierter Arzt.« Es war zu erwarten gewesen, und die Erwartung hatte nicht getäuscht. Portiers waren wirklich auf dem laufenden. Sie redeten weniger witzig als beispielsweise Dr. Laduner, aber sachlicher.

»Danke«, sagte Studer trocken. »Hat der Direktor gestern eine größere Geldsumme empfangen?«

»Woher wisset ihr das, Herr Wachtmeister? Vom Mai bis in den August war er krank. Er hat Ferien genommen. Aber dann war der Herr Direktor noch bei einer Krankenkasse. Gestern ist das Geld gekommen: hundert Tage zu zwölf Franken Taggeld machte gerade tausendzweihundert Franken.«

»So«, sagte Studer. »Und am Ersten hat er wohl den Lohn gezogen, das war doch auch gestern?«

»Nein, den läßt er immer auf der Verwaltung stehen, und wenn eine größere Summe beieinander ist, läßt er sie an die Bank schicken. Er hat ja fast nichts gebraucht. Wohnung frei. Eine Haushälterin hat er nicht mehr nehmen wollen. So hat man ihm das Erstklaßmenü aus der Küche gebracht.«

»Wie alt war der Direktor?«

»Neunundsechzig. Nächstes Jahr hätte er seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert…«

Dann, als sei die Sache damit erledigt, schob Dreyer den schwarzen Haarbesen vor sich her, und für einen Augenblick herrschte der Geruch von Staub über die beiden andern: Bodenwichse und Apotheke.

»Hat er das Geld bei sich behalten? Ich meine die zwölfhundert Franken…«

Der Portier wandte sich um und gab Auskunft:

»Eine Tausendernote und zwei Hunderter. Er hat die drei Noten in seine Brieftasche gesteckt. Er hat zu mir gesagt, daß er das Geld morgen – das heißt also heute – auf die Bank tun wolle. Er fahre sowieso nach Bern…«

»Wo ist die Sichlete gefeiert worden?«

»Geht dort zur hintern Tür hinaus. Dann ist grad vor euch das Kasino. Die Tür ist offen. Ihr werdet ungestört sein…«

Das Kasino! Wie in Nizza oder Monte Carlo! Und dabei war man in der Heil- und Pflegeanstalt Randlingen…

Es sah aus wie nach einem Vereinsfest: Asche am Boden, zerrissene Papiergirlanden an den Wänden, weiße Tischtücher, auf denen Brotreste herumlagen. Die Luft roch nach erkaltetem Rauch. Im Hintergrund eine Bühne, ein Tisch darauf, Weingläser… Die Honoratioren, wie Dr. Laduner sagte, hatten keinen Tee getrunken… Spitzbogenfenster mit billigen farbigen Butzenscheiben gaben dem Raum etwas Kirchenähnliches. Eine Kanzel, die an der Seitenwand hing, etwas über dem Boden, verstärkte noch den Eindruck. Vielleicht hatten die Kirchen während der Französischen Revolution so ausgesehen, wenn man in ihnen das Fest der Vernunft gefeiert hatte…

Studer nahm einen Stuhl und setzte sich der Bühne gegenüber. Er zündete eine Brissago an, und dann begann er kleine Bewegungen mit seiner rechten Hand zu machen, wie ein Regisseur, der zu Beginn einer Szene den Schauspielern die Plätze anweist…

Auf der Bühne der Direktor… Wahrscheinlich saß er in der Mitte des Tisches, auf jenem Armstuhl, der ein wenig schief dastand, so, als sei einer hastig aufgesprungen. Rechts von ihm Dr. Laduner, links von ihm der Verwalter… Die Assistenzärzte.

Der vierte Arzt, dessen Frau die Schwester der zweiten Frau des Direktors war… Komplizierte Familiengeschichten. Der vierte Arzt war also sozusagen ein Schwager des Direktors. Wie hieß dieser Herr? Eigentlich hätte man sich gleich nach seinem Namen erkundigen können, auch wenn es das Namensregister verlängerte.

Dort in der Ecke stand ein altes Klavier… Wer hatte den Patienten Pieterlen, der die Handharfe spielte, begleitet? – Und dann hatte man getanzt… Hier im freien Raum zwischen den Tischen. Männlein und Weiblein zusammen, Pfleger und Pflegerinnen. Und die Patienten hatten – wie hatte Dr. Laduner das ausgedrückt? – ah ja, ›erotische Spannungen abreagiert‹…

Item. Um zehn Uhr wurde der Direktor ans Telephon gerufen. Vom Abteiliger – wie hieß er? – Jutzeler. Wurde vom Abteiliger Jutzeler ans Telephon gerufen. – Schreiben wir in unser Notizbuch, der Abteiliger Jutzeler sei zu fragen, ob eine männliche oder weibliche Stimme den Direktor verlangt habe… Das Telephon… Wo war das Telephon?…

Studer stand auf, er ging zum Klavier hinüber, schlug einige Tasten an… Arg verstimmt, der Kasten!… Dann stieg er auf die Bühne – es kostete Mühe – und begann gebückt den Tisch zu umkreisen. In seinem dunklen Anzug, tief gebeugt, sah er aus wie ein riesiger Neufundländer, der eifrig eine Spur sucht. Er hob einen Zipfel des Tischtuches, bückte sich: Ein Kärtchen, blau, arg beschmutzt. Hulligerschrift… Eine brave Schülerinnenschrift… »Ich läut Dir dann um zehn Uhr an, Ueli. Wir gehn dann spaziren.« Spaziren ohne e… – Keine Unterschrift.

Keine Unterschrift. Wenn das Kärtchen auch nicht gerade unter dem Armstuhl gelegen wäre, so wäre es dennoch nicht schwer zu erraten gewesen, für wen es bestimmt war.

Wo war das Telephon? Studer stieg von der Bühne herab, sah sich um, und da entdeckte er in einer Nebenkammer den Apparat.

Er war schwarz und hatte eine weiße Scheibe mit einstelligen Ziffern, von eins bis neun. Wie ein gewöhnlicher Apparat in der Stadt. In der Mitte der Scheibe stand die Nummer 49. Neben dem Telephon hing an der Wand eine Tabelle. In kleiner Druckschrift war an ihrem Fuße angegeben: »Alle rot gedruckten Nummern haben direkten Anschluß nach auswärts.«

›12 Direktor‹ war natürlich rot gedruckt, ›13 zweiter Arzt‹ auch, Verwaltungsbüro und so weiter. Aber die Nummern der Abteilungen waren schwarz. Wachsaal B (Männerseite) hatte Nummer 44. Und das Kasino mit Nummer 49 war auch schwarz gedruckt.

Also – logische Feststellung: Der Herr Direktor Borstli war vom Innern der Anstalt aus ans Telephon gerufen worden. Wäre er von auswärts verlangt worden, hätte ihn der Portier Dreyer holen müssen und der Direktor hätte vom Direktionsbüro aus sprechen müssen oder von seiner Wohnung.

Ein Meitschi hatte ihm angeläutet… »Ich läut Dir dann um zehn Uhr an, Ueli…« Um zehn Uhr geht man mit einem Meitschi spazieren. Vielleicht war der Spaziergang ausgedehnter gewesen, als er zuerst vorgesehen war, man war nicht zurückgekehrt, hatte einen Frühzug genommen nach Thun, nach Interlaken, auch im Tessin war es sicher jetzt ganz schön, jetzt, wo der Herbst begann.

Und das verwüstete Büro hatte keine verbrecherische Bedeutung; das Verschwinden des Patienten Pieterlen war ein Zufall, und es bestand kein ›Konnex‹, um mit Dr. Laduner zu reden, von ›Imponderabilien‹ ganz zu schweigen.

Vielleicht war man vom kantonalen Polizeidirektor ganz umsonst zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geschellt worden. Blieb immerhin die merkwürdige Forderung Dr. Laduners, die Forderung, »behördlich gedeckt zu werden…«

Da konnte vielleicht etwas dahinterstecken. Besonders, wenn man berücksichtigte, daß der berüchtigte Oberst Caplaun noch in die Geschichte hineinspielte. Sein Sohn… Angstneurose… Gut und recht. Aber gebrannte Kinder scheuen das Feuer, und Wachtmeister Studer scheute den Obersten Caplaun…

›Hulligerschrift!‹ dachte er. ›Das Meitschi ist noch nicht lange aus der Schule.‹ – Und Studer lächelte ein wenig einfältig, weil er sich den alten Direktor Borstli in Pelerine und schwarzem, breitrandigem Hut vorstellte, Arm in Arm mit einem Mädchen. Der junge Totsch blickte voll Verehrung zu dem Manne auf, der ihm etwas ganz Großes schien, und träumte sicher davon, in nächster Zeit Frau Direktor zu werden…

Dr. Laduner würde einen auf die ›große Visite‹ mitnehmen wollen. Wahrscheinlich. Dann traf man wohl den Abteiliger Jutzeler und konnte ihn fragen, wie die Stimme am Telephon geklungen hatte… Man konnte den Nachtwärter Bohnenblust ins Kreuzverhör nehmen und herausbringen, auf welche Art der Patient Pieterlen entwichen war. Dann war alles im Blei, man konnte beruhigten Gemütes zusammen mit dem Dr. Laduner nach Bern zurückfahren, heim in die Wohnung auf dem Kirchenfeld…

Studer zog noch einmal sein Notizbuch, versorgte die blaue Karte mit der Hulligerschrift darin und begann dann, leise und mit viel künstlerischem Empfinden, das Lied vom Brienzer Buurli zu pfeifen. Er pfiff den Beginn der zweiten Strophe, als er aus der Tür des Kasinos trat, aber dann unterbrach er sein Pfeifen…

Denn ein sonderbares Gefährt fuhr vorbei. Ein Zweiräderkarren, eine Benne, und zwischen den Stangen tanzte ein Mann. Am anderen Ende der Benne aber war eine lange Kette befestigt, mit vier Querhölzern. Jedes dieser Querhölzer wurde von zwei Mannen gehalten, so daß also acht Mann an der Kette die zweirädrige Benne zogen. Neben dem sonderbaren Gefährt schritt ein Mann in blauem Überkleid. Er grüßte lächelnd, rief: »Ahalten! Ahalten han i gseit!« Der Mann zwischen den Stangen hörte auf zu tanzen, die acht Mann an der Kette standen still. Studer fragte mit einer Stimme, die vor Verwunderung ganz heiser war:

»Was isch denn das?«

»Der Randlinger Blitzzug!« lachte der Mann. Und erklärte dann zutraulich, das gehöre zur Arbeitstherapie, das sei, damit die Patienten mehr Bewegung hätten… Natürlich, nur die ganz Verblödeten brauche man dazu. Aber sie seien dann viel ruhiger… Und adjö woll!

»Hü, mitenand!« rief er. Und gehorsam fuhr der Blitzzug davon… Arbeitstherapie!… dachte Studer und konnte nicht aufhören mit Kopfschütteln. Heilung durch Arbeit!… Bei den Zugtieren war doch nichts mehr zu heilen!… Aber: Man war ja nicht Psychiater, sondern nur ein einfacher Fahnderwachtmeister… Gott sei Dank, übrigens…


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