Friedrich Gerstäcker
Der Kunstreiter
Friedrich Gerstäcker

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28.

Am nächsten Morgen erhob sich Georg früh von seinem Lager, auf dem ihn der Schlaf die ganze lange Nacht geflohen hatte. Unzählige Pläne entwarf er dabei, aber nur um immer wieder zu fühlen, daß sie unausführbar wären, und keine Ruhe im Zimmer findend, kleidete er sich an, nach Altona zurückzugehen. Dort wollte er einen dänischen Advokaten als letzte Zuflucht aufsuchen, ihm den ganzen Fall erzählen und sehen, was er von ihm für Hilfe erhoffen durfte. Konnte der ihm nicht helfen, dann beschloß er, Gewalt zu brauchen. Wie das geschehen könne, wußte er freilich nicht, aber er vertraute auf sich und seine Kraft; für das übrige ließ er den Himmel sorgen. Den alten Forstwart konnte er jetzt natürlich nicht mehr gebrauchen. Er ließ ihn im Hotel zurück, schrieb ihm dessen Adresse genau auf und riet ihm dann, an den Hafen hinunter zu gehen und sich die Stadt anzusehen, bat ihn aber, um Mittag jedenfalls wieder zurück zu sein, da er nicht wüßte, was bis dahin vorfallen möchte. Dann ging er aus alter Gewohnheit zu dem Stalle, in dem er sein Pferd stehen hatte, nach diesem zu sehen, ob es ordentliche Pflege habe, und darüber beruhigt, schritt er langsam und recht schweren Herzens nach Altona hinüber.

Es war noch früh, und obgleich er in Hamburg selber schon den besten und geschicktesten Advokaten Altonas erfragt, konnte er diesen doch noch nicht sehen. Der Herr hatte seine Sprechstunde von zehn bis zwölf Uhr – vorher nahm er niemanden an. Der Advokat wohnte ganz in der Nähe des Zirkus, und obgleich Georg nicht zu fürchten brauchte, zu so früher Stunde irgendwelchem von den Leuten zu begegnen, vermied er doch die allernächsten Restaurationen und ging in eine andere Straße, um in einem dortigen Café sein Frühstück zu nehmen und Zeitungen zu lesen, bis die anberaumte Stunde schlug. – Zeitungen zu lesen – lieber Gott! er überflog die Blätter; die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen, die Zeilen schwammen durcheinander, und er vergaß den Platz selbst, wo er saß. Nur eine Ankündigung fesselte wieder und wieder seinen Blick – die von Royazet, in der er dem Publikum verkündete, daß er nur noch drei Tage in Altona verweilen und unabänderlich am nächsten Montag die Stadt verlassen würde, um mit seiner Gesellschaft nach Petersburg zu gehen. – Nach Petersburg! – das Wort schon gab ihm einen Stich durchs Herz, und unruhig sprang er auf und trat ans Fenster. Aber dort gingen viele Menschen vorbei; von denen manche hereinsahen; fast unwillkürlich trat er wieder zurück und verbrachte die Zeit in einer Unruhe, die an fieberhafte Qual grenzte.

Und o, wie langsam rückte der Zeiger vor – noch keine Zeit war ihm so lang geworden wie diese wenigen Stunden, die er in dem Café verbrachte! Endlich war es zehn – noch fehlten Minuten daran, aber auch diese mußten ja endlich vergehen – und würde ihm der Rechtsgelehrte Trost und Hilfe geben? – Wenn nicht, so hilf dir selbst, flüsterte da der alte Trotz in ihm, und mit dem festen Entschlusse knöpfte er seinen Paletot bis oben hin zu, drückte seinen Hut in die Stirn und wollte eben, als die große Wanduhr die ersten Schläge der zehnten Stunde tat, das Zimmer verlassen, als draußen auf der Straße lustig schmetternde Musik erschallte und die Leute vor den Fenstern zusammenliefen.

»Was ist das?« fragte er, stehen bleibend, den Kellner, dem er eben seine Zeche bezahlt hatte und der ihm beim Anziehen seines Paletots behilflich gewesen war.

»O, bloß die Kunstreiter,« antwortete der junge Bursche, »sie halten ihren Umzug, weil heute wieder große Vorstellung ist.«

Georg schlug das Herz, als ob es ihm die Brust zersprengen wollte, aber er besaß Gewalt genug über sich, das den Fremden nicht merken zu lassen.

»So?« sagte er, während der Kellner die Augen schon draußen auf der Straße hatte, um nichts von dem Schauspiel zu versäumen, »dann werde ich mir das erst von hier mit ansehen. Ziehen sie lange herum?«

»Eine oder zwei Stunden manchmal, bis sie durch die ganze Stadt sind.«

»Und kommen sie nachher hier noch einmal vorbei?«

»Nein, zurück kommen sie durch die andere Straße da drüben, damit sie sich soviel wie möglich überall zeigen. Sehen Sie, das da vorn ist die neue Dame, die gestern zum erstenmal geritten ist – die kann's! Royazet wird sie heiraten. Sie soll ihrem Manne davongelaufen sein, nur um hierher zu kommen.«

Georg fühlte, wie alles Blut sein Angesicht verlassen hatte; die Aufmerksamkeit des Kellners wie aller im Zimmer befindlichen Gäste war aber in diesem Augenblick einzig und allein auf die Straße gerichtet, und Georg trat zu einem der Seitenfenster. Vor diesem stand ein grünes Drahtgitter, so daß man wohl hinaussehen konnte, aber von draußen völlig unbemerkt blieb, und vor ihm vorbei, kaum zwanzig Schritt entfernt, bewegte sich der ganze Zug. Voran ritt die Musik, wie immer aufgeputzt in grellen Uniformen mit buntgefärbten Federbüschen und riesigen Epauletten; hinter dieser, die einen lustigen Reitermarsch spielte, kam der Herr des Zuges, der berühmte Royazet, und an seiner Seite, siegesstrahlend und Glück und Triumph in den hellen Zügen – ritt sein Weib. – Aber er sah sie kaum – nur einen flüchtigen Blick warf er auf die Treulose, von der er sein Herz schon lange losgerissen. Sein Blick suchte das Kind, sein armes, geraubtes Kind, und als er es nicht unter den ersten des Zuges fand, durchzuckte ihn ein plötzlicher Strahl von Hoffnung. War sie zu Hause geblieben – befand sie sich nicht beim Zuge, dann war es möglich, in dieser Zeit unbemerkt, wenigstens ungehindert, zu ihr zu gelangen, und während der Zug . . . Auch dieser Plan fiel, kaum aufgebaut, zu Trümmern – dort ritt sie – seine liebe, liebe Josefine, sein Kind, an dem sein Herz mit allen Fasern blutend hing – dort, aufgeputzt mit buntem Flittertand, der ihm nie so schal, so entsetzlich vorgekommen war, wie eben jetzt – die bleichen Wangen geschminkt, die Augen niedergeschlagen – eine gebrochene, halbwelke Blume, mit Farbe übermalt. Das andere kleine Mädchen an ihrer Seite lachte und sprach mit ihr, aber sie antwortete ihm nicht; ihr Auge hing an der Mähne des Ponnys, den sie ritt – ihre Gedanken waren weit, weit fort von hier.

Mit Georg war plötzlich eine wunderbare Veränderung vorgegangen. Sein Auge haftete wohl noch auf dem Zuge, aber er sah ihn nicht mehr; sah nicht die faden Späße, die der wie früher dahinterher reitende Clown, der alte Mühler, mit der Stadtjugend trieb, sah nicht das Volk, das lärmend, schreiend vorbeidrängte. Er blieb still und regungslos am Fenster stehen, bis die letzten Reiter vorüber waren und sich die Zuschauer wieder dahinter schlossen. Dann drehte er sich langsam um, verließ das Lokal und schritt auf die Straße hinaus, wo er stehen blieb und sich umsah. Eine zweispännige Droschke kam eben den Weg langsam daher gefahren. Er winkte, und der Kutscher hielt neben ihm.

»Nach Hamburg – Hotel de l'Europe.«

»Sehr wohl.«

»Du bekommst doppeltes Fahrgeld, wenn du mich so rasch dahin bringst, wie deine Pferde laufen können.«

»Soll ein Wort sein,« sagte der Mann vergnügt. Georg stieg ein, und fort rasselte der Wagen über das Pflaster. Die Pferde liefen vortrefflich, und in verhältnismäßig kurzer Zeit hatten sie den bestimmten Platz erreicht.

Georg, der schon vorher dem Kutscher das Fahrgeld gegeben, sprang aus dem Wagen und stand wenige Sekunden später im Stalle neben seinem Rappen.

»Den Sattel – den Zaum!« war alles, was er sagte, als einer der Stalleute dienstfertig herbeisprang, ihm zu helfen. Er nahm das Geschirr aber nur aus seiner Hand und legte es selber dem Pferde an. Er selber schnallte auch den Gurt und befahl dann, als er alles in Ordnung wußte, dem Knechte, das Pferd vor das Haus zu führen.

»Wollen Herr Baron ausreiten?« sagte einer der geschäftig herbeieilenden Kellner.

»Ja, bitte, lassen Sie mir aus meinem Zimmer die Reitpeitsche und den Plaid herunter holen, die zusammen auf dem Fauteuil liegen.«

»Sehr wohl; Charles, Reitpeitsche und Plaid für den Herrn Baron – auf dem Fauteuil Nr. 21.«

Der junge Bursche flog die Treppe hinauf und war wenige Minuten später mit den verlangten Sachen wieder unten. Georg festigte den zusammengeschnallten Plaid an seinem Sattel, nahm die Reitpeitsche mit ihrem schweren, bleigefüllten Griff, faßte den Zügel und flog im nächsten Augenblick die Straße hinunter. Sein wackeres Tier brauchte er auch nicht anzutreiben, denn durch den vollen Tag, den es im Stalle gestanden, war es schon ungeduldig und rastlos geworden. Aber er wollte es auch nicht vor der Zeit anstrengen, um seine Kräfte zu schonen. Überdies durfte er, sobald er in die engen Straßen einbog, nicht so rasch reiten, und sein Tier deshalb einzügelnd, trabte er, so schnell er hier noch vorwärts rücken konnte, seinem Ziel entgegen.

Bald hatte er Altona erreicht, und um ja den günstigen Moment nicht zu versäumen, ritt er augenblicklich dem Zirkus zu, dem Zuge dort, wenn er etwa schon auf dem Rückwege wäre, zu begegnen – aber noch war alles still. Ein Briefträger, den er anredete und nach der Kavalkade fragte, sagte ihm, daß er die Kunstreiter vor kaum zehn Minuten dort irgendwo rechts hinunter gehört hätte. Wo sie jetzt wären, wüßte er nicht, aber jedenfalls müßten sie hier wieder vorbei. Georg wartete nicht darauf; er hielt der bezeichneten Richtung zu und heftete seine ganze Aufmerksamkeit dabei nur auf die abzweigenden Straßen, um nicht in diesen irre zu werden und seinen Weg im entscheidenden Augenblick zu verfehlen. Sein Plan war gefaßt; ernst und ruhig ritt er im Schritt die Straße nieder, dann und wann haltend, ob er die laute Blechmusik durch das Gerassel der Wagen und das Gelärm der lebendigen Stadt nicht hören könne. Noch ließ sich kein derartiger Laut unterscheiden; als er aber wieder eine Straße entlang geritten war, kalt und umsichtig dabei jedes mögliche Hindernis erspähend, und eben wieder um eine Ecke bog, schlugen die fernen Klänge der Trompeten deutlich an sein Ohr. Fast unwillkürlich zügelte er sein Tier ein, den willkommenen Tönen zu lauschen – deutlich unterschied er die Richtung, näher und lauter wurde der Lärm – es war kein Zweifel mehr, sie kamen gerade auf ihn zu. Das aber lag nicht in seinem Plane, mit dem er fest mit sich im reinen war; aber er dachte auch nicht daran, sich zu übereilen. Ruhig erwartete er das Näherkommen des Zuges, sein Herz klopfte dabei fast hörbar in der Brust, sein Gesicht war aschfahl geworden, aber keine Muskel regte sich, und erst als er die voranreitenden Trompeter nach sich einbiegen sah, lenkte er sein Pferd in eine kleine Gasse hinein, die hier schräg abbog und ihn vollständig verdeckt hielt. Dort ließ er den Zug, der wieder dem Zirkusplatze zuhielt und jedenfalls seinen Rundritt vollendet hatte, vorüber, und schon klangen die Trompeten, da der Schall durch eine neue Biegung der Straße gebrochen wurde, wie aus weiter Ferne, als das Pferd den leichten Schenkeldruck des Reiters fühlte.

Der Zeitpunkt war gekommen, in dem er handeln mußte, und ein trotziges Lächeln zuckte zum erstenmal wieder seit langer Zeit um die fest zusammengepreßten Lippen des Mannes. Das Pferd bog in einem leichten Trab in die Hauptstraße ein, und eben konnte er noch die letzten des Zuges, die Clowns, erkennen, die mit dem Volke ihre Spaße trieben. Mühler war der tollste von allen. Aber nicht diesen fürchtete er mehr, denn wenn er ihn auch erkannte, was tat's? Ehe er die vorn im Zug Reitenden warnen konnte, war sein Plan schon gelungen – oder mißglückt, und mit der Gefahr, der er sich aussetzte, wuchs ihm auch der Mut. So kaltblütig hielt er jetzt in scharfem Trabe auf die voranziehende Kavalkade zu, als ob es sich nur um einen Spazierritt handle, und mit raschem Blick sich dabei orientierend, war er auch sicher, keinen Zoll breit seiner Bahn zu vergeben.

Der Zug war gerade in eine der Hauptstraßen der Stadt eingebogen, die direkt auf den breit und hoch aufgeführten Zirkus des Monsieur Royazet zuführte; von weitem ließ sich schon das aus neuen Brettern aufgestellte Gebäude mit seinem schräg zulaufenden spitzen Dache erkennen. Georg übersah das alles; er hatte sein Terrain an diesem Morgen genau rekognosziert. Fest hielt er sein Tier im Zügel und lenkte jetzt um den Menschenschwarm herum, der die Hanswurste lachend und jauchzend umtobte. Allerdings hatten sich schon einige Reiter dem Zuge heute morgen angeschlossen, meist Neugierige, die ihn eine kurze Strecke begleiteten und dann wieder, durch das Schauspiel ermüdet, davon abbogen. Die zu den Kunstreitern gehörenden Personen interessieren sich aber natürlich für jedes Pferd, das sie sehen, besonders wenn es von edler Rasse ist, und der alte Mühler machte keine Ausnahme davon. Mitten in seinen Sprüngen und Neckereien, bei denen er rechts und links mit seiner klappernden Holzpritsche Schläge austeilte, haftete sein Auge an dem Pferde und fuhr erschreckt von ihm empor zum Reiter. Den Rappen konnte er nicht verkennen, und der leise Schreckensruf entfuhr seinen Lippen: »Beim Teufel – Georg!«

So geschickt Mühler auch bisher gewußt hatte, trotz allen ausgeteilten Hieben, Angriffen auf ihn selber zu entgehen und die Lacher auf seiner Seite zu behalten, so ganz aus aller Fassung brachte ihn die plötzliche Erscheinung des Mannes, den er von allen auf Erden in diesem Augenblick am meisten fürchtete. Er hatte in der Tat alles andere um sich her in dem einen Angstgedanken vergessen, was der Mann jetzt mit Georginen beginnen würde. Die mußte er warnen, und er sprang nach seinem Pony, fühlte sich aber auch in demselben Augenblick wieder zurückgerissen, denn drei oder vier Jungen hingen an seinen Schößen und hielten ihn jauchzend fest. Wie der Blitz fuhr er freilich mit seiner Pritsche herum, aber die Jungen waren durch die früher erhaltenen Hiebe schon gewitzigt worden, und sich fest an ihn drängend und ihn mit ihren Armen umfassend, gaben sie ihm keinen Raum, sie ordentlich zu treffen. Das half ihnen indes nicht viel, denn die anderen Clowns ließen ihren Kameraden nicht im Stiche. Von beiden Seiten sprangen sie zu, und so derb hagelten diesmal die Prügel auf die ihnen verlockend genug zugedrehten Rückteile, daß die Bande, sehr zum Ergötzen des übrigen Publikums, heulend und schreiend auseinander stob. Mühler war aber dadurch in seinen Bewegungen gehemmt worden, und Minuten vergingen, ehe er seinen Pony wieder erreichte. In zitternder Hast warf er sich auf dessen Rücken, und seine Flanken mit den Hacken bearbeitend, sprengte er den Zug entlang, Royazet die gefährliche Nähe seines Nebenbuhlers zu melden und Georginen zu warnen.

Lange vorher aber hatte Georgs wackerer Rappe seinen Herrn am Zuge hinaufgetragen. Die Blicke des Vaters suchten dabei und fanden das Kind, und wenige Sekunden später war er an dessen Seite.

Josefine hatte an dem Morgen vergebens ihre Mutter gebeten, sie nicht mit auf die Straße zu nehmen. Bitten wie Tränen blieben gleich erfolglos: sie mußte, denn sie sollte sich wieder an das lustige Reiterleben gewöhnen und nicht allein daheim sitzen, zu denken und zu grübeln und zu weinen. Natürlich gehorchte sie – wie sie aber ihr kleines munteres Tier bestiegen hatte, so saß sie noch, die Blicke an der Mähne desselben haftend, das Antlitz bleich, der ganze kleine Körper zitternd, und die Gedanken waren weit von da. Nicht an den glänzenden Umzug dachte sie, an die schmetternde Musik und das gaffende Volk, sondern an die freundliche Heimat im Walde dort – weit von hier – an den Vater, dem sie entrissen worden und an dem ihre ganze Seele hing, an ihre liebe, freundliche Erzieherin, die sich jetzt ihretwegen sorgen und um sie weinen würde. Und konnten sie je erfahren, wo sie sei? – und wenn das, würde die Mutter sie je wieder freilassen aus diesem Leben, dessen ganze Qual sie erst am gestrigen Abend durchgekostet? Rasche Hufschläge neben ihr weckten sie aus ihren Träumen, und eine hohe, dunkle Gestalt warf ihren Schatten über sie hin.

»Josefine!« flüsterte eine so wohlbekannte Stimme an ihrer Seite. Staunend, erschreckt sah sie auf, und wie ihre Hand fast unwillkürlich, und mehr um sich zu halten, als aus einem andern Grunde, den Zügel faßte, rief sie: »Vater – du – du hier?«

»Willst du mit mir gehen?«

»Wohin du mich führst!«

»So komm – rasch – spring herüber!« rief der Mann, vor innerer Bewegung kaum fähig, die Worte über die Lippen zu bringen.

»Den Teufel auch – der Alte!« rief es da, und Georg sah, ehe Josefine imstande war, ihre Sinne so weit zu sammeln, daß sie begriff, was ihr Vater von ihr wollte, wie sich einer der Reiter durch die übrigen drängte. – Es war Karl, der in diesem Augenblick frei aus dem Zuge, mit verhängten Zügeln nach vorn sprengte.

»Spring!« bat der Vater in Todesangst, denn keine Sekunde war zu verlieren, »spring zu mir; ich fasse dich!«

»Halt! was geht da vor?« riefen andere der Schar, die Georg nicht kannten; Josefine saß noch immer regungslos, nicht fähig, sich zu bewegen; aber Georg war nicht der Mann, den einmal gefaßten Sieg aus den Händen zu geben. Sich im rechten Steigbügel niederbiegend, faßte er sein Kind mit dem rechten Arm um den Leib, und noch während er sich emporhob, fühlte der Rappe den eingestoßenen Sporn, der ihn nach vorn trieb. Frei an seinem Arm hing bei dem ersten Satze des Pferdes das Kind in der Luft, aber schon saß der Reiter wieder eisenfest im Sattel, und während er die willenlose Kleine in seinen linken Arm warf, und der Rappe, das Feuer aus dem Straßenpflaster schlagend, den Zug entlang flog, faßte seine Rechte die bleibeschwerte Peitsche fest und sicher, sich seine Bahn frei zu hauen, wenn ihm kein anderer Ausweg blieb.

Links hinüber konnte er nicht; keine Straße bog hier ab, und hinter dem Zuge wälzte sich der dichte Menschenschwarm – also voraus, und mit Gedankenschnelle flog er hin. Da schoß Karl an Royazets Seite. – Dieser, durch das Getöse betäubt, das die dicht vor ihm reitenden Trompeter machten, hatte von dem, was hinter ihm im Zuge vorging, noch keine Ahnung – als plötzlich des erschreckten Burschen Stimme in sein Ohr dröhnte: »Dort ist Georg Bertrand! er entführt das Kind!«

»Georg? um Gott!« schrie Georgine, erschreckt emporfahrend, und die herandonnernden Hufe bestätigten schon die kaum gesprochenen Worte. Im Nu aber hatte Royazet seinen Zügel aufgegriffen, und dem eigenen Tiere beide Hacken in die Flanken bohrend, flog er mit ihm wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil dem Feinde entgegen.

In dem Moment brauste Georg heran, und aus dem Wege stob alles vor dem Rasenden.

»Halt!« donnerte ihm Royazet zu, und wie er, fast durch die Luft fliegend, an Georgs Seite war, griff seine Faust nach Josefinens Kleid. Da traf die schwere, bleigefüllte Peitsche den ausgestreckten Arm, daß er gelähmt zur Seite sank, und der Rappe schnob mit einem Satze vorbei. Den Verfolger war er deshalb freilich noch nicht los, denn Royazet brauchte die andere Hand nicht für den Zügel; sein Tier, von fast so edlem Blute als das, welches seinen Gegner trug, flog, nur von den Schenkeln geführt, herum, den Rappen einzuholen, aber der hatte schon eine Pferdelänge Vorsprung, und wie ein Wetter sauste er dahin.

»Halt da – halt!« schrie Polizei, die dort im Wege stand, und sprang vor, dem Pferde nach dem Zügel zu greifen – wieder sank die Peitsche, und mit einem Schmerzensschrei fuhr der Dienstbeflissene zurück. Ein Schiebkarren fuhr quer über die Straße – der Mann ließ ihn fallen und floh zur Seite; einem Vogel gleich schnellte der Rappe darüber hin, der graue Araber, den Royazet ritt, blieb dicht an seinen Fersen. Wagen kreuzten ihren Weg, aber die beiden, der leisesten Führung gehorchenden Pferde fanden kein Hindernis, das sie nicht überwunden hätten. Wie ein Blitzstrahl schoß der Rappe über den Boden, wie der Schein, der dem Blitz folgt, folgte ihm der Graue, und beide Pferde schienen den Boden, aus dem sie die hellen Funken schlugen, kaum zu berühren. – Aber der Araber war dem Rappen nicht gewachsen, und selbst wenn er ihn eingeholt, fühlte Royazet recht gut, daß er allein dem Vater das Kind nicht würde entreißen können. Doch seine Ehre als Reiter stand hier auf dem Spiele, und weiter und weiter jagte er sein schnaubendes Roß. Der seidene Mantel, den er trug, schlug im Wind – wild wehten seine Haare hinterdrein, denn das Federbarett hatte ihm der tolle Ritt schon lange entführt. Aber seine Hacken trafen des arabischen Hengstes Flanken; mit Stimme und Schlag feuerte er ihn an – zu mehr, als er zu leisten vermochte – den Rappen einzuholen.

Wie in Erz gegossen saß dagegen Georg im Sattel. Sein dicht an seine Brust geschmiegtes Kind im Arm, das dunkle Auge in Siegesjubel blitzend, die Rechte mit der Peitsche bewehrt, so flog er dahin, sein Tier sich selber überlassend, wie eine Erscheinung an den entsetzt zur Seite Prallenden vorbei, bis Deutschlands Grenze, die Linie, die Altona von Hamburg scheidet, zwischen ihm und seinem Feinde lag. Noch ließ er seinem wackern Tiere die Zügel, bis er die nächste Häuserreihe fast erreicht. Jetzt wußte er, daß er auf deutschem Grund und Boden war, und nicht länger mehr brauchte er zu fliehen. – Wollte ihn sein Verfolger erreichen, hier hielt er ihm stand, und mit dem Willen fast parierte er sein Pferd, das so in voller Flucht, sich auf den Hinterbeinen hob, herumflog und wie angegossen stand. – Aber Royazet war klug genug, dem zum äußersten Getriebenen nicht auf sein eigenes Terrain zu folgen. Die Grenze bildete für ihn das letzte Ziel der Verfolgung, und dort sein Pferd so rasch und sicher parierend wie Georg, lenkte er es zurück, und war wenige Minuten später, beschämt, besiegt, zwischen den Häuserreihen Altonas verschwunden.

Ein triumphierendes Lächeln zuckte um Georgs Lippen, aber es war nur ein Moment. Die Gegenwart nahm ihn genug in Anspruch – das andere lag dahinten. Rasch schnallte er den Plaid von seinem Sattel, denn sein wilder Ritt sowohl, wie die wunderliche Tracht des Kindes, das er vor sich trug, erregten die Aufmerksamkeit der ruhigen, an so etwas nicht gewöhnten Bürger Hamburgs – Neugierige begannen schon sich um ihn zu sammeln. Ohne Zögern hüllte er die Kleine in den weichen Plaid, nahm ihr das Barett vom Haupte, das er darunter barg, verdeckte ihr geschminktes Antlitz, und trabte dabei schon wieder scharf dem nächsten Tore zu. Aus Sicht den Leuten, und er war vergessen. In der Stadt selber konnte der auf schweißbedecktem Tier Vorübertrabende nur flüchtige Aufmerksamkeit erregen; die Leute dort hatten auch zu viel mit sich selber zu tun, sich noch um andere, Fremde zu bekümmern. So gewann er ohne weiteres Hindernis sein Hotel, sprang vom Pferde, das er dem Hausknecht übergab, um es rasch in den Stall führen und abzureiben, und trug sein Kind, noch eingehüllt in den Plaid, die breite Treppe selbst hinauf.

Das Stubenmädchen erstaunte allerdings, als ihr der Auftrag wurde, so rasch als möglich Kinderkleider für die Kleine herbeizuschaffen; dort aber war das leicht. In einer halben Stunde hing Josefine, Freudentränen weinend, in einem dunkeln warmen Kleide an ihres Vaters Halse, und schon der Abendzug, der Hamburg verließ, führte sie mit dem Vater und dem alten erstaunten Barthold der Heimat wieder zu.

 


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