Friedrich Gerstäcker
Der Kunstreiter
Friedrich Gerstäcker

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5.

Am nächsten Morgen war Graf Geyerstein früh aufgestanden und hatte einige Briefe geschrieben. Nach dem Frühstück ging er unruhig in seinem Zimmer auf und ab, und sah wohl hundertmal nach der Uhr, deren Zeiger ihm nie so langsam fortgeschlichen waren, wie gerade heute. Endlich schlug es acht. Sein Bursche Karl trat herein und fragte nach den Briefen, die ihm der Herr Rittmeister befohlen hätte auf die Post zu schaffen.

»Warte noch einen Augenblick, ich bin noch nicht fertig,« lautete die Antwort. »Hat noch niemand nach mir gefragt?«

»Noch nicht, Herr Rittmeister.«

»Ich werde dich rufen, wenn ich dich brauche.«

Der Bursche schloß die Tür wieder, und der Rittmeister setzte mit untergeschlagenen Armen seinen unruhigen Spaziergang fort. Es schlug halb neun, da klingelte draußen die Vorsaaltür, und der Rittmeister zuckte zusammen. Er blieb stehen und horchte; draußen wurden Stimmen laut, und gleich darauf trat Karl ein und überreichte ihm eine Karte, die den einfachen, außerordentlich sein darauf gestochenen Namen trug »George Bertrand«.

»Es ist gut,« sagte der Rittmeister, »laß – laß den Herrn eintreten – aber warte. Hier, nimm das gleich mit fort: diese beiden Briefe auf die Post – diese Bücher hier kommen zum Buchbinder, und hier die Koppel trägst du zum Sattler und läßt dir eine andere Schnalle für die gebrochene ansetzen. Du magst gleich darauf warten.«

»Zu Befehl, Herr Rittmeister.«

»Also bitte den Fremden, einzutreten, und halte dich nicht länger auf als nötig ist.«

Der Bursche verschwand wieder, gleich darauf aber öffnete sich aufs neue die Tür und schloß sich hinter dem eingetretenen Fremden, der mit leiser, aber fester Stimme und leichter Verneigung sagte: »Sie haben gewünscht, mich zu sprechen, Herr Graf.«

Graf Geyerstein stand der hohen, männlichen Gestalt des Kunstreiters Bertrand gegenüber, aber er antwortete keine Silbe. Totenbleich sah er dabei aus; jeder Tropfen Blut hatte seine Wangen verlassen, und nur seine Blicke hafteten fest, ja stier auf den Zügen Bertrands.

»Sie haben gewünscht, mich zu sprechen, Herr Graf,« wiederholte der Kunstreiter endlich – aber noch leiser als vorher.

Da streckte der Graf die Arme nach ihm aus.

»Georg,« sagte er mit vor innerer Bewegung fast erstickter Stimme – »Bruder Georg!«

Monsieur Bertrand rührte sich nicht. Er hatte die Zähne aufeinander gebissen und sah fest und ernst in die Züge des Grafen, aber es war nur ein Moment, im nächsten warf er sich an seine Brust, und die beiden Männer hielten sich stumm und schweigend Herz an Herz in eiserner Umarmung fest umschlossen.

»Ich hatte keine Ahnung, dich hier in ***schen Diensten zu finden,« flüsterte endlich Georg, als er sich langsam, die Augen von Tränen gefüllt, wieder emporrichtete.

»Ich erkannte dich auf den ersten Blick, wie ich dich die Straße niederreiten sah,« erwiderte der Rittmeister, »aber, Georg, um Gottes, um unserer Eltern willen, welchen Lebensweg hast du gewählt? Was konnte dich in diese Bahn schleudern?.

»Wir sind allein?« sagte Georg, während er einen Blick nach der Tür warf.

»Vollkommen und ungestört. Mein Bursche ist fort; außerdem weiß er, daß er nicht horchen darf. Setze dich zu mir hierher.«

Georg zögerte einen Augenblick, dann legte er seinen Hut ab und ließ sich still neben dem Bruder nieder, der seine Hand ergriff und bittend sagte: »Jetzt sprich, Georg – gestehe mir alles – alles, was geschehen ist, schütte dein ganzes Herz in meine Brust aus, und laß mich dann Mittel und Wege finden, dir zu helfen – dich zu retten.«

»Mich zu retten?« lächelte aber Georg bitter vor sich hin, »das ist vorbei – zu spät, und ich glaubte auch die Vergangenheit schon fest und sicher abgebrochen, glaubte, mit der Welt und meinem früheren Namen abgeschlossen zu haben, als deine Karte gestern all diese Hoffnungen und Pläne mit einem Schlage über den Haufen warf.«

»Und so lange bist du schon nach Deutschland zurückgekehrt, ohne selbst mir ein Lebenszeichen zu geben!« sagte Wolf vorwurfsvoll.

»Ich wagte es nicht,« flüsterte Georg, finster das Antlitz zur Seite wendend. »Ich vermied sogar, die heimischen Grenzen zu betreten, denn ich fürchtete, erkannt zu werden, fürchtete mich selber zu verraten, und – mochte den Spott derer nicht ertragen, die ich früher – als meinesgleichen wußte.«

»Georg,« sagte der Bruder tief bewegt, »nicht um dir Vorwürfe über Vergangenes zu machen hab' ich dich aufgesucht, hab' ich dich gebeten, zu mir zu kommen. Deine eigenen Worte jetzt gestehen mir alles, was ich dir darüber zum Herzen reden könnte; denn du, der sich seinen Lebensberuf darin gewählt hat, dem Tod in seiner häßlichsten Form zu trotzen, schämst dich jetzt, denen unter die Augen zu treten, die früher deinesgleichen waren und aus deren Kreisen du fort – hinab gestiegen bist. Daß du das aber fühlst, bürgt mir auch für die Erfüllung meiner Hoffnung, dich diesem Leben wieder zu entreißen.«

»Es ist zu spät,« sagte düster der Kunstreiter, »ich – kann nicht mehr zurück.«

»Der Mensch kann alles, was er ernstlich will, und deine Seele hast du nicht verpfändet,« entgegnete ernst der Graf, »ja, wenn du es deinethalben selbst nicht tun wolltest, müßtest du es meinethalben – müßtest du es der Mutter wegen tun.«

Georg barg das Antlitz in den Händen, und Wolf, seine Hand freundlich auf des Bruders Schulter legend, fuhr leise fort: »Sieh, Georg, so gut wie ich dich, selbst unter dem dichten Barte und dem Flittertande erkannt, mit dem du dich umgeben, so gut kann einer deiner früheren Kameraden dich ebenfalls erkennen, und daß es bis jetzt noch nicht geschehen, begreife ich sogar nicht einmal. Das Tagesgespräch beschäftigt sich sogar fast ausschließlich mit dir und – deiner Frau, und wunderliche Gerüchte über euch durchlaufen schon die Stadt, wenn sie die rechte Fährte auch noch nicht gefunden haben.«

»Und gerade diese tollen Gerüchte sichern mir vielleicht meine Verborgenheit.«

»Vielleicht – aber auf wie lange? Und glaubst du nicht, daß du das Herz der Mutter brechen würdest, wenn ihr die furchtbare Wahrheit je zu Ohren käme? Sie hat dich als einen Toten beweint; o, laß sie nicht den Lebenden noch mehr beklagen als den Toten!«

Georg war aufgesprungen, und mit unruhigen Schritten maß er das Zimmer auf und ab, bis er endlich wieder neben dem ihm mit mitleidigen Blicken folgenden Bruder Platz nahm und sagte: »Du weißt, Wolf, wie mein ungezügeltes Leben in früheren Jahren langsam, aber sicher das Netz über mich zusammenzog, in dem ich endlich unterging – dem ich erlag. Dem Trunk gab ich mich hin, und in dem Trunk dem Spiel, und mit dem Spiel verlor ich alles, was ich mein nannte – verlor mich selbst. Ich mußte flüchten, mein ganzes mir zukommendes Vermögen reichte nicht hin, die hinterlassenen Schulden zu decken – unterbrich mich nicht – ich weiß, daß du, Wolf, über deine Kräfte beigesprungen bist, wenigstens die Ehre unseres Namens zu retten, wenn du mich auch nicht mehr retten konntest. Da, als ich das hörte, erfaßte mich die Verzweiflung; ich floh nach Frankreich, und mein böser Stern warf mich in die Arme einer dort umherziehenden Kunstreitertruppe. Du weißt, daß ich von je ein guter, vielleicht zu tollkühner Reiter gewesen; die kleinen Kunstgriffe jener Truppe lernte ich deshalb bald und fühlte dadurch einen gewissen Stolz, mein Leben, meine Existenz dem Schicksal selber abringen zu können. Der Chef unserer Truppe war zugleich ein Seiltänzer, und wie mein in eine falsche Bahn geworfener Stolz nicht ertragen konnte und wollte, daß irgend jemand es mir in dem Berufe, den ich mir jetzt gewählt, zuvortun sollte, warf ich mich mit tollem Eifer dieser neuen Kunst in die Arme. Vollkommen schwindelfrei, denn der Leidenschaft des Trunkes wie dem Spiel hatte ich lange entsagt, machte ich rasend schnelle Fortschritte, und mein wertloses Dasein doch nicht achtend und keck bei jeder Gelegenheit in die Schanze schlagend, übertraf ich bald meinen Meister.«

»Und hast du nie dabei an uns gedacht?«

»Ja,« flüsterte Georg, »nur zu oft; aber gerade der Gedanke an euch, der mir beim Ritt die Kraft, beim Seiltanz Mut und Geistesgegenwart raubte, wurde mein schlimmster Feind – wenigstens hielt ich ihn dafür.«

»Es war dein guter Engel, der dich zurück in unsere Arme führen wollte.«

»Möglich,« sagte Georg, scheu den Kopf abgewandt, »aber – ich hielt ihn für meinen Teufel und suchte mich für immer von ihm zu befreien.«

»Aber das war nicht möglich.«

»Doch,« hauchte Georg, »der Menschengeist ist erfinderisch, und – ich fand ein Mittel. Ich lernte damals Georginen kennen, das schönste Weib, das ich je gesehen, und – heiratete sie.«

»Es geht hier ein Gerücht in der Stadt,« sagte der Graf, »daß Georgine die Tochter eines französischen Edelmannes sei, die du aus einem Kloster auf abenteuerliche Weise entführst haben solltest. Ist das begründet?«

»Eines französischen Edelmannes?« erwiderte mit finster zusammengezogenen Brauen und bitterem Lächeln der Kunstreiter. »Du hast ihren Vater gesehen – er ist Hanswurst bei unserer Truppe, dem niedrigsten Pöbel entsprungen, in dem er schwelgt.«

»Also doch!« seufzte Wolf aus tiefster Brust.

»Du siehst, daß es mir gelungen ist, mir den Rückweg für alle Zeiten abzuschneiden,« fuhr sein Bruder fort. »Ich wußte, daß ich mit dieser Heirat mich für immer von allem, was mich noch im alten Vaterlande hielt, was mich dahin zurückzog, losriß, und einmal den Schritt getan, und ich war frei. Von dem Augenblick an war ich Kunstreiter, war ich Seiltänzer mit ganzer Seele. Toller und rücksichtsloser aber trieb ich es als bisher; meine Keckheit wurde zum Sprichwort; die Leute kamen meilenweit, meine halsbrechenden Künste zu sehen und anzustaunen, und – der Ehrgeiz, der Stolz des Edelmannes versank in dem des Luftspringers. – Da hast du meine Geschichte, kurz und einfach bis zur heutigen Stunde, und nun laß mich fort. Daß du mich erkannt, ist mir ein Beweis der Gefahr, der ich mich hier in Deutschland aussetze, wieder einmal einem der früheren Kameraden zu begegnen. Der Gefahr will ich nicht preisgegeben sein und weniger meinet- als eurethalben. Ich kehre nach Frankreich zurück, um Deutschland nicht wieder zu betreten – vielleicht gehe ich nach Amerika mit meiner Truppe, denn dort bin ich ganz sicher. Eine Frage nur beantworte mir noch, Wolf, und glaube mir, daß dein Wiedersehen dabei, du treues Herz, den einzigen Lichtblick auf meinen dunkeln Lebenspfad geworfen, an dem ich viele, viele Jahre zehren werbe – wie geht es – der Mutter?«

Er hatte sich abgewandt und die letzten Silben so leise gesprochen, daß sie kaum zu dem Ohr des Bruders drangen.

»Denkst du noch an unsere Mutter, Georg?« fragt« ihn Wolf, seine Hand ergreifend und seinen ängstlichen Blick fest auf ihn geheftet.

»Glaubst du, daß ich sie je vergessen könnte?« erwiderte der Unglückliche, »o, wenn ich sie noch einmal sehen, mein müdes Haupt noch einmal an ihr treues Herz pressen könnte . . .«

»Armer, armer Georg!« seufzte Wolf, »und mit dem nagenden Wurm in der Brust willst du wieder hinaus? – Bleibe bei uns. Noch ist es möglich, daß du die Mutter wiedersiehst, ohne ihr das Herz zu brechen. Noch ist es möglich, daß du dem Leben, der Gesellschaft zurückgegeben würdest – aber du mußt wollen!«

Georg sah staunend zu ihm auf. »Jetzt noch?« sagte er, »jetzt, nachdem ich dir erzählt, daß der Hanswurst mein Schwiegervater, daß Georgine, die Kunstreiterin, die nur im Zirkus lebt und atmet, mein Weib ist?«

»Selbst jetzt noch,« erwiderte fest der Bruder, »aber du mußt wollen; du mußt das alte Leben mit Gewalt von dir abschütteln, mußt die Deinen zwingen, sich dem zu fügen, und glaube mir, nach einem einzigen Jahre habe ich dich dem bürgerlichen Leben, habe ich dich uns – der Mutter wiedergewonnen.«

»Aus dem Kunstreiter wolltest du wieder einen Grafen machen, Wolf?« sagte Georg, traurig dazu mit dem Kopfe schüttelnd; »ins bürgerliche Leben einzutreten, wäre möglich, was sollte mich daran hindern? denn ich bin mir keiner schlechten, unehrenhaften Tat weiter bewußt als der, die ich im jugendlichen Leichtsinn verübt. Aber meinen früheren Rang habe ich verscherzt, und selbst der Bürger, der vielleicht mit dem früheren Monsieur Bertrand sehr gern verkehren möchte, würde er sich nicht scheu zurückziehen, wenn er den Hanswurst mit in den Kauf nehmen müßte? Nein, Wolf, nein; es geht nun und nimmermehr. Mit nur zu sicherer Hand habe ich mich selber ins Leben getroffen, und ich bin und bleibe für euch verloren. Beantworte mir jetzt noch eine Frage, und dann laß mich ziehen. Dir selber bleibe ich trotzdem ewig dankbar für die brüderlichen Worte, die du zu mir gesprochen. Wie geht es unserer Mutter, und hat sie aufgehört, den toten Georg zu beweinen?«

»Kräftig und wohl ist sie,« erwiderte Wolf, »und in den letzten Jahren besonders hat sie sich wunderbar wieder erholt. Dein Verlust, Georg, hatte sie schwer niedergebeugt, und als die wenn auch unbestimmte Kunde deines Todes zu uns kam, da hat sie jahrelang nicht mehr gelacht, und ging gebeugt, gebrochen still umher. Du warst von je ihr Liebling gewesen, und dein Verlust hat sie bitter, bitter geschmerzt. Jetzt scheint die Zeit jene Wunde in etwas vernarbt zu haben; sie ist wieder heiterer geworden, und nur die Tage, die dein Gedächtnis lebhafter als andere wecken, wecken auch damit den Schmerz aufs neue.«

»Und wenn sie wüßte, daß ich lebte – daß ich so lebte – sie würde mir fluchen und sterben.«

»Sie würde sterben, Georg,« sagte der Bruder tief bewegt, »aber nie dir fluchen. Du weißt nicht, wie viel Liebe in einem Mutterherzen Raum hat – und wie wenig Haß. Aber denke, Georg, wie glücklich, wie unsagbar glücklich du sie machen könntest, wenn du zurückkehrtest.«

»Aber wie kann ich, Wolf? – wie kannst du, der so genau die Sphäre kennt, in der ihr Leben, in der das deine liegt, nur an die Möglichkeit eines solchen Rückschrittes glauben?«

»So höre,« sagte Wolf, »was ich mir ausgedacht. Ich habe gestern mit deiner Frau, mit Georginen, gesprochen, wenig nur, doch vielleicht genug, mich einen Blick in ihren Charakter tun zu lassen, und muß dir gestehen, daß der mir nicht geeignet schien, meine Pläne zu fördern. Dem festen Willen des Mannes aber ist alles möglich, und die Frau soll und muß sich ihm fügen, besonders noch, wenn alles nur zu seinem, zu ihrem Heile selber führt. Deshalb habe ich den Mut auch nicht verloren, und selbst dem Vater kann Gelegenheit geboten werden, sein früheres Leben zu vergessen, ungeschehen zu machen.«

Georg schüttelte seufzend mit dem Kopfe. Wolf aber, von der Hoffnung hingerissen, den Bruder zu retten, fuhr fort: »Wie unsere Vermögensverhältnisse stehen, weißt du so gut, wie ich es dir sagen könnte. Sie sind, wenn auch nicht glänzend, doch vollständig unserer Stellung im Leben genügend. Deine hinterlassenen Schulden erforderten allerdings ein nicht unbedeutendes Kapital, und es verstand sich von selbst, daß das geschafft werden mußte. In den letzten Jahren hat sich aber der Wert des Grundeigentums durch zahllose industrielle Unternehmungen bedeutend gesteigert, und die damals erlittenen Verluste sind schon lange mehr als gedeckt. O, wärest du damals zu uns zurückgekehrt, alles hätte noch gut und vergessen werden können! Doch ich will dir keine Vorwürfe mehr machen, sondern zur Sache kommen, die dich selbst jetzt noch uns erhalten kann. Kunstreiter – Seiltänzer darfst du nicht bleiben, das siehst du ein; selbst ich müßte mich dann von dir lossagen, und wenn mir das Herz auch blutete, aber ich habe eine andere Bahn für dich. Als ich dich zuerst wiedersah, und rasch dabei die Möglichkeit überdachte, einen andern Lebensweg für dich zu finden, kamen mir fremde Kriegsdienste als das Natürlichste vor – o, hättest du selber diesen Weg schon früher gewählt! Jetzt, nachdem ich deine Frau gesprochen, nachdem ich erfahren, daß du ein Kind – eine Tochter hast, fühle ich, daß das nicht mehr geschehen kann. Georginen kannst und darfst du nicht mit deiner Tochter allein zurücklassen; sie würden ohne dich rettungslos zugrunde gehen, und dem zu begegnen, gibt es noch ein anderes Mittel. Wir haben schon vor längeren Jahren das Gut Schildheim im Mecklenburgischen, das du ja selber kennst und welches früher einer alten Großtante gehörte, geerbt. Es ist jetzt der Mutter Eigentum, ich aber habe die Administration darüber und bis jetzt einen Pächter darauf gehabt. Dieser tritt nun in nächster Zeit die Hinterlassenschaft seines gerade verstorbenen Vaters an und übernimmt damit dessen in Preußen gelegenes Besitztum. Dort nun, in Schildheim, rückst du indessen vorläufig ein.«

»Als Pächter? ich verstehe nichts von der Ökonomie,« sagte Georg finster.

»Es ist das keine so schwierige Kunst zu erlernen,« erwiderte aber der Bruder, »und du behältst den Verwalter, der bis jetzt auf dem Gute war, bei dir. Da er sich mit dem vorigen Pächter nicht gut vertragen konnte, wird er nicht mit ihm gehen und hat mich schon gebeten, bei dem nächsten ein gut Wort für ihn einzulegen, daß er bleiben könne. Es ist ein schon bejahrter, aber sehr tüchtiger, nur etwas eigener, pedantischer Mann, dessen Kenntnisse du benutzen, dich auch sicher bald mit ihm befreunden und von ihm lernen wirst. Fühlst du dann, daß dich das Leben freut, fühlst du, daß du bei uns dich heimisch machen kannst, dann, Georg, darfst du getrosten Mutes der Mutter wieder ins Auge schauen, dann finden sich auch Mittel und Wege, dir wieder, wenn auch nicht gleich in deiner früheren Heimat selber, eine selbständige, unabhängige Stellung zu gründen, dann bist du wieder der unsere, Bruder Georg, und gibst dafür mehr, als wir dir je im Leben bieten können, du gibst unserer Mutter mit dem Sohne ihr Glück, ihren Frieden wieder.«

»Wolf, mein treuer, wackerer Wolf,« rief Georg, indem er mit tränenden Augen gerührt des Bruders Hand ergriff, »habe ich das um dich – um euch alle auch verdient?«

»Und du willigst ein?« rief Wolf rasch und erfreut.

»Für mich von Herzen gern,« sagte Georg, in die dargebotene Hand des Bruders schlagend, »Gott mag dir die brüderliche Liebe lohnen, ich selber kann es nie, aber – Georgine! Wird sie sich an das stille Leben gewöhnen, wird sie sich heimisch fühlen können auf dem einsamen Landsitz, fern von dem Geräusche der Stadt, das ihr noch nicht einmal genügt, nach dem aufregenden Leben ihres bisherigen Berufes? Ich fürchte, Wolf, daß mir da schwere Kämpfe bevorstehen.«

»Du glaubst, daß sie dich liebt?«

»Sie liebt mich als den besten und kühnsten Reiter, den sie kennt.«

»Und ihr Kind?«

»Ihr liebster Gedanke war von je – eine zweite Georgine aus ihr zu ziehen. Was ihren Vater anlangt, so glaube ich, daß dieser einem solchen neuen Leben weniger Schwierigkeiten in den Weg legen würde. Er ist in den letzten Jahren recht alt und dabei entsetzlich mürrisch geworden, scheint auch an dem wüsten Treiben und der Schattenseite unseres Berufes, dem Hanswurst, dem wir des Publikums wegen aber doch nicht entsagen können, kein besonderes Vergnügen mehr zu finden. Wenn er nur imstande sein wird, sich an eine geregelte Tätigkeit zu gewöhnen!«

»Er wird es gewiß, wenn er nur sieht, daß eure Zukunft sich dadurch auch sichert. Was um Gottes willen würde aus euch, wenn ein unglücklicher Sturz den einen oder den andern zum Krüppel machte? und seid ihr diesem Schicksal nicht jede Stunde ausgesetzt?«

»Denkt der Soldat an Wunden oder Tod, wenn er dem Feinde gegenübersteht?«

»Aber der Soldat hat noch ein höheres Ziel als seinen Sold – er hat die Ehre, für die er kämpft, sein Vaterland, was er verteidigt.«

»O, wäre ich Soldat geworden!« seufzte Georg.

»Das ist zu spät,« erwiderte Wolf, »aber auch im bürgerlichen Leben kannst du noch deinen Platz ehrenhaft ausfüllen, kannst dich zu dem Range wieder hinaufarbeiten, der dir nach Geburt und Recht gehört; und ist das nicht ein schönes Ziel, dem entgegen zu streben? Denk an unsere Mutter dabei – denke, wie unsagbar glücklich sie sich fühlen würde, wenn ich imstande wäre, den verloren geglaubten Sohn wieder in ihre Arme zu führen! Du bist ohne den Segen der Mutter vom Hause geschieden, kannst du ein schöneres Ziel vor Äugen haben, als einen solchen dir zu verdienen?«

Georg warf sich an des Bruders Brust, und lange hielten sich die beiden fest und schweigend umschlungen. Endlich richtete sich Georg empor und sagte leise: »Aber wie entgehe ich den übernommenen Verpflichtungen? Wie trenne ich mich von der Gesellschaft, selbst angenommen, daß sich Georgine willig jeder meiner Anordnungen fügen würde?«

»Auf wie lange Zeit hast du deine Leute noch engagiert?« fragte Wolf.

»Der Kontrakt der meisten läuft allerdings mit dieser Messe ab. Nur einigen bin ich länger verbunden, aber auch mit denen ließe sich wohl ein Abkommen treffen. – Und meine Pferde?«

»Verkaufst du hier. Du findest kaum einen besseren Markt dafür. Möglich sogar, daß deine Leute dir einen Teil derselben abkaufen, um ihre Laufbahn fortzusetzen.«

»Dazu fehlt es ihnen an Geld,« sagte Georg. »Es ist ein wildes, abenteuerliches Leben, das wir führen, und bares Geld hält sich nicht dabei. Pferde und Garderobe sind auch das einzige, was ich besitze, doch steckt darin ein nicht unbedeutendes Kapital, das schon imstande wäre, mich eine Weile über Wasser zu halten. Sauer genug ist es außerdem verdient.«

»Das Kapital wird dir dann wesentlich den Anfang erleichtern,« sagte Wolf. »Richte dich aber auch ein, daß du jedenfalls imstande bist, gleich nach der Messe, also in acht Tagen etwa, deine Maßregeln zu treffen, dich von deiner bisherigen Gesellschaft loszusagen und den Umzug anzutreten. Und noch eins – deine Frau darf nicht wissen, nicht erfahren, welcher Rang und welcher Titel dir zusteht!«

»Du fürchtest, daß sie nicht schweigen kann?«

»Das sage ich nicht; ich glaube, sie kann ganz gut schweigen, wo es ihren Zwecken entspricht, aber – ich fürchte ihren Stolz. Sie würde dich vielleicht quälen, deinen rechten Namen vor der Zeit wieder anzunehmen, und dir wenigstens, wenn nichts weiter, doch unnötigen Kummer, nutzlose Sorge bereiten.«

»Aber welchen andern Grund kann ich ihr nennen, dem sie auch nur im entferntesten Glauben schenken würde? – Ja, sollte sie sich weigern, mir zu folgen, so gäbe sie mir das Kind auf keinen Fall, und von Josefinen mich zu trennen wäre ich nicht imstande.«

»Das brauchtest du auch nicht, selbst das Schlimmste angenommen!« rief sein Bruder. »Die Gesetze schützen dich darin, denn das Kind gehört vom sechsten ober siebenten Jahre dem Vater, wenn sich beide Gatten trennen sollten.«

»Und wenn sie mir dann gezwungen folgt, so wird sie sich unglücklich und elend fühlen.«

»Die erste Zeit vielleicht, doch dürfte sie sich bald in das neue Leben schicken. Sie wird und muß einsehen lernen, daß des Weibes Beruf nicht der Öffentlichkeit, wenigstens nicht in solcher Welse, angehört. Sie wird dabei ihre Tochter zu einer ehrenvollen, gesicherten Zukunft heranwachsen sehen und in dem Bewußtsein volle Entschädigung für die aufgegebenen, so unweiblichen Triumphe finden. Sie muß sich dann auch glücklich fühlen, oder sie wäre nimmer deiner Liebe – deiner Achtung wert,«

»Ich will es versuchen, Wolf,« sagte Georg, dem Bruder noch einmal die Hand reichend und fest und herzlich schüttelnd, »hier hast du Handschlag und Wort, und was in eines Menschen Kräften steht, dem einmal über ihn hereingebrochenen Schicksal Trotz zu bieten, soll geschehen. Bist du damit zufrieden?«

»Ich bin's, Georg, und stärke dich Gott auf deiner neuen Bahn, der dich so sicher schützen wird, wie ich dir treu zur Seite stehen werde. Beginne denn mit gutem, frischem Mut und wirf dieses Leben, das deiner unwert ist, von dir, wie ein altes, abgetragenes Kleid.«

»Aber diese Woche kann ich mich ihm noch nicht entziehen. Ich muß ihm wie bisher folgen, wenn ich nicht gerade dort, wo ich es am wenigsten möchte, Verdacht erwecken will. Ich hoffe jetzt nur, daß mir der Fürst meine Bitte abschlägt, den Seiltanz zwischen den Türmen zu wagen.«

»Hoffe das nicht,« sagte der Graf, »ich war gestern zugegen, wie er dir günstigen Bescheid erteilte, und konnte es nicht hindern. Aber eine Ausrede findest du leicht: ein verstauchter Fuß, ein plötzliches Unwohlsein selber kann dich leicht verhindern, von der erhaltenen Erlaubnis Gebrauch zu machen. Laß selbst die Vorbereitungen dazu treffen, wenn du willst, nur wage dein Leben nicht weiter in solch nutzloser, frevelhafter – ja, du darfst mir den Ausdruck nicht übelnehmen – entehrender Kunst.«

»Ich will versuchen ob es möglich ist,« sagte Georg. »Aber ich sehe auch ein, daß du recht hast: Georgine darf vorderhand noch nichts weiter erfahren; ich selber muß dagegen alles vermeiden, ihren Verdacht zu erwecken. Sie ist einmal mein Weib, die Mutter meines Kindes, und ich bin mit ihr für dieses Leben verbunden. Sie einen höheren Lebenszweck kennen zu lehren, sei fortan mein Ziel, und mein Kind mag dir später danken, was du an ihm – an uns getan.«

»Georg!«

»Genug, jetzt laß mich fort; ich höre, wie draußen deine Tür geöffnet wird.«

»Mein Bursche kommt zurück; ich habe ihm verschiedene Aufträge erteilt, um ihn für diese Zeit entfernt zu halten.«

»Und wo sehe ich dich wieder?«

»Hier, jeden Morgen bin ich bis zehn Uhr zu Hause. Willst du mich früher treffen, so laß mich durch ein paar Zeilen wissen, wo wir uns ungestört begegnen können.«

»Leb' wohl!«

»Leb' wohl Georg, und Gott stärke dich in deinem neuen Leben!«

 


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