Friedrich Gerstäcker
Der Kunstreiter
Friedrich Gerstäcker

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9.

Am nächsten Morgen saß Komtesse Melanie allein in ihrem Boudoir. Rosalie war mit Luisen ausgefahren – sie selber hatte sie nicht begleiten können oder wollen – und Kopfschmerzen, Unwohlsein vorgeschützt. Sie war in der Tat nicht wohl, wenigstens ganz ungewöhnlich aufgeregt und unruhig, und nahm bald ein Buch zur Hand, ein paar Seiten desselben zu durchblättern, bald begann sie an einer angefangenen Zeichnung, bald an einer Stickerei und schob nach wenigen Minuten alles wieder beiseite, um sich auf das Sofa zu werfen und ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. So war es zwölf Uhr geworden, als es leise an die Tür klopfte und auf ihr Herein ein Diener eintrat, welcher meldete: der Herr Rittmeister von Geyerstein lasse anfragen, ob er der gnädigen Komtesse seine Aufwartung machen dürfe.

»Graf Geyerstein?« rief Melanie, fast erschreckt von dem Sofa emporfahrend. Die Überraschung dauerte aber nur wenige Momente, denn schon im nächsten Augenblicke wieder vollständig gesammelt, sagte sie ruhig: »Es wird mir sehr angenehm sein; führen Sie den Grafen herein.«

Wenige Minuten später hörte sie draußen den festen, klirrenden Schritt des Offiziers, und der Graf stand in ihrem Zimmer, ehe sie selber sich genug gefaßt hatte, ihn ruhig begrüßen zu können.

»Komtesse,« sagte der Rittmeister, sich förmlicher vor ihr verneigend, als er sonst als alter, gern gesehener Freund des Hauses getan, »Ihr Herr Vater trägt die Schuld einer Störung, wenn ich Ihnen eine solche verursacht habe; denn mein Dienst rief mich zu ihm, und da er für den Augenblick noch beschäftigt ist, war er so gütig mich indes zu Ihnen herüberzuweisen – ich wäre sonst nicht so früh bei Ihnen erschienen.«

Eine rasche, freundliche Entgegnung lag schon auf Melanies Lippen, aber sie zwang sie zurück und sagte artig, aber lange nicht mit der gewohnten Herzlichkeit im Ton und Ausdruck: »Mein Vater weiß recht gut, daß Sie uns immer willkommen sind, auch ohne die Entschuldigung, Herr Graf.«

»Aber auch ohne diese Veranlassung hätte ich Sie heute noch aufgesucht, Komtesse,« nahm der Graf nach einer leisen Verbeugung wieder das Wort, indem er sich, einer einladenden Handbewegung Melanies folgend, auf einen Stuhl ihr gegenüber niederließ, »denn ich wollte mich auf einige Zeit von Ihnen verabschieden.«

»Sie wollen fort von hier?« rief Melanie schneller und mit weit mehr Teilnahme, als sie vielleicht zu verraten willens war.

»Nur auf kurze Zeit; auf eine, vielleicht auf einige Wochen; und zwar in Angelegenheiten, die meine Anwesenheit auf einer meiner Besitzungen dringend nötig machen. Ich habe dazu den Urlaub vom Fürsten erbeten und erhalten.«

Melanie sah zu ihm auf und vermochte keine Silbe als Antwort zu finden. Allerlei wunderliche, wirre Gedanken kreuzten ihr Hirn. Jetzt gerade wollte er fort? – jetzt, wo – sie durfte dem nicht weiter folgen – und so kalt, so förmlich nahm er jetzt Abschied, er mußte bemerkt haben, wie sie Graf Selikoff bevorzugte. – Und weshalb nicht? war sie nicht frei, zu tun, zu lassen was sie wollte, war sie nicht von ihm, der so kalt und eisern vor ihr saß, schändlich, schmählich betrogen und verraten worden? – und wenn nicht? – – Auch der Graf schwieg; das Herz war ihm voll und schwer, und den kalten, förmlichen Empfang des Wesens gegenüber, das er mehr als sein eigenes Leben liebte, hatte er sich bezwingen, hatte er ebenso kalt und ruhig von ihr scheiden wollen – scheiden vielleicht für ein ganzes Leben, indem sie sich von nun an nur als Fremde wieder begegnen sollten. Als er aber die Bewegung in Melanies Zügen sah, als ihm nicht verborgen bleiben konnte, daß die Jungfrau, so kalt und abgemessen sie sich auch gezeigt, doch vielleicht mehr, ja innigeren Anteil an ihm nehme, da raffte er sich selber auch empor, und mit bewegter Stimme sagte er: »Komtesse – Melanie – es ist in letzter Zeit etwas zwischen uns gewesen – was, weiß nur Gott – was aber nicht sein sollte.«

»Zwischen uns, Herr Graf?« unterbrach ihn, wie erstaunt, Melanie, die durch die Worte rasch zu sich selbst gerufen wurde.

»Stoßen Sie mich nicht so ungehört zurück,« fuhr der Rittmeister, der jetzt einmal das Eis gebrochen hatte, fort. »Womit ich Sie beleidigt oder gekränkt haben mag, ich weiß es nicht – wissentlich nicht, beim ewigen Gott, und nur ein Mißverständnis kann es deshalb sein, was Sie in diesen Tagen mir entfremdet hat. Sehen Sie mich nicht so stolz an, Melanie, Sie waren sonst offen, so ehrlich gegen mich – o, lassen Sie die Zeit, die liebe, liebe Zeit, nicht so mit einem Schlage abgebrochen sein. Sagen Sie mir was ich getan, was ich verbrochen habe, gestatten Sie mir dann, daß ich mich verteidige.«

»Was Sie getan, Herr Graf,« erwiderte Melanie, der bei der Erinnerung alles dessen, über das sie Ursache zu haben glaubte – gerechte Ursache – zu zürnen, das Blut mit voller Macht in Wange und Schläfe strömte, »ich glaube nicht, daß es mir zusteht, Sie über irgend etwas, was Sie getan haben könnten, zur Rede zu stellen. Hätten Sie es für gut gefunden, mich irgend eines Schrittes wegen, den Sie zu tun gedachten, um Rat zu fragen, wäre es vielleicht etwas anderes, doch so . . .«

»O, weichen Sie mir nicht aus,« bat Geyerstein in herzlichem Tone und von der Gewalt des Augenblicks hingerissen, »Melanie, Sie müssen wissen, wie mein Herz . . .«

»Herr Graf – nicht weiter, wenn ich bitten darf,« unterbrach ihn plötzlich mit ernstem, strengem Tone die junge Gräfin, indem sie sich zu ihrer vollen Höhe stolz, ja fast zürnend, emporrichtete. – »Ersparen Sie sich und mir ein Thema, das nur für beide Teile – schmerzlich enden kann.«

»Melanie!« rief Geyerstein entsetzt, »was, um aller Heiligen willen . . .«

»Sie vergaßen wohl in dem Augenblicke,« fuhr die Komtesse fort, und ihre Züge glichen jetzt denen einer Marmorbüste, »das Verhältnis, in dem Sie zu der Seiltänzergruppe jenes Bertrand stehen? – Sie vergaßen . . .«

»Großer Gott!« stöhnte der Rittmeister, und bleich, wie das ihm gegenüberstehende schöne Weib, fuhr er von seinem Sitz empor.

»Wie das Geheimnis zu meinen Ohren kam,« fuhr Melanie kalt und ruhig fort, »bleibt sich gleich. Sie selber bestätigen alles durch Ihr Schweigen. – Jetzt aber werden Sie doch auch wohl fühlen, daß zwischen uns nicht mehr von den Empfindungen des Herzens die Rede sein kann. Die Tochter des Grafen von Ralphen dünkt sich zu gut . . .«

»Halten Sie ein, Komtesse!« rief der Graf mit ausgestreckter Hand und fast tonloser Stimme, »sagen Sie nichts weiter! Es ist genug – übergenug – und das wenige selbst – hätte sich vielleicht auf weniger harte Weise sagen lassen – aber es ist geschehen. Sie haben nicht zu fürchten, daß ich Ihnen je wieder mit Wort oder Blick nur nahen werde – dennoch bitte ich Sie, in den Augen der Welt . . .«

»Fürchten Sie nicht, daß ich Ihr Geheimnis mißbrauchen werde,« unterbrach ihn Melanie, »wie immer die Welt auch wohl dergleichen beurteilen möchte. Was ich gesprochen, sprach ich nur für mich, und wie ich glaube, war ich das mir und meiner Stellung in der Welt schuldig. Aber ich höre meinen Vater – er wird kommen, um Sie abzurufen.«

Der Graf neigte sich ehrerbietig, aber kalt vor ihr, er hatte seine ganze Fassung und Männlichkeit wiedergewonnen, und in demselben Augenblicke auch fast öffnete sich die Tür, in welcher der Kriegsminister, schon in Uniform, um gleich nachher zum Fürsten zu fahren, erschien.

»So, mein lieber Geyerstein,« sagte er freundlich, als er dem jungen Manne die Hand entgegenstreckte, »jetzt bin ich mit allem fertig und stehe Ihnen noch auf eine halbe Stunde zu Diensten. Er will uns davonlaufen, Melanie, will hinauf nach Mecklenburg und Hirsche schießen, Güter einrichten, und Gott weiß was alles. Wir werden Sie hier vermissen, Geyerstein, und Rosalie besonders wird untröstlich darüber sein. Wo steckt denn das Mädchen überhaupt heute morgen – wohl wieder ausgefahren? Aber du siehst so blaß heute aus, Melanie; fehlt dir was, mein Kind?«

»Nichts, lieber Vater – nur ein wenig Kopfschmerz hatte ich heute, und habe deshalb Rosalien auch nicht begleitet. Es wird bald vorübergehen.«

»Exzellenz gestatten mir dann vielleicht, Ihnen oben in Ihrem Zimmer die Papiere vorzulegen,« sagte Graf Geyerstein.

»Schön; wenn Sie alles bei der Hand haben, desto besser. – Apropos, sind Sie auf heute mittag schon versagt? Ich möchte Sie gern noch so lange als möglich bei uns haben.«

»Ich muß unendlich bedauern . . .«

»Machen Sie um Gottes willen keine Umstände; Sie sollen nicht im mindesten geniert sein. Also kommen Sie. – Adieu, mein liebes Kind; lies nicht zu viel, das nimmt dir den Kopf nur noch mehr ein.«

Graf Geyerstein verabschiedete sich bei der Komtesse mit einer tiefen Verbeugung, und ebenso förmlich dankte ihm die Dame. Der alte Herr bemerkte das aber nicht; er übersah schon flüchtig die Papiere, die ihm der Rittmeister eben übergeben hatte, und mit freundlichem Kopfnicken nur von seiner Tochter Abschied nehmend, verließ er gleich darauf, von dem Grafen gefolgt, das Zimmer.

Melanie blieb, als die beiden Männer die Tür hinter sich geschlossen hatten, noch eine ganze Weile stumm und regungslos stehen. Hatte aber auch ihr stolzer Geist in dem entscheidenden Momente den Sieg über das nur zu schwache Herz davongetragen, jetzt – jetzt vermochte sie nicht mehr. Ein leises Frösteln flog über ihren Körper, sie schwankte zum Sofa, barg das bleiche Antlitz in den Händen und weinte – weinte, als ob ihr Herz vor unendlichem Weh zerbrechen müsse in der Brust.

 


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