Friedrich Gerstäcker
Der Kunstreiter
Friedrich Gerstäcker

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13.

Es waren nicht ganz drei Monate seit dem Eingange der neuen Pächtersleute auf Schildheim vergangen, und dieser Zeit hatte es auch bedurft, um die volle Einrichtung der Übersiedelten, das volle Eingewöhnen in ihr neues, ihnen vollkommen fremdes Leben zu regeln und festzustellen – und vieles hatte sich in der Zeit geändert. Georg arbeitete in der Zeit mit dem alten Verwalter aus allen Kräften, sich die für ihn unumgänglich nötigen Kenntnisse zu erwerben, und da sich der Platz als vollkommen geeignet dazu erwies, legte er sogar den Grund zu einer Rassenverbesserung der Pferde und Stuterei – und besser verstand niemand mit Pferden umzugehen als er. Für Karl waren zu gleicher Zeit die nötigen Einrichtungen getroffen, daß er die Schule in Schildheim regelmäßig besuchte und zugleich Privatstunden bekam; denn der große Bursche war in allem, was Lernen betraf, noch hinter den kleinsten Knaben weit zurück! Ein junger Mann wurde dazu, trotzdem daß sich Georgine im Anfange dagegen sträubte, ins Haus genommen und ihm die Aufsicht über den Knaben besonders übergeben. Die Erzieherin, die Wolf von Geyerstein für Josefine besorgte, erwies sich ebenfalls vortrefflich, und in einigen Jahren hoffte Georg die Kinder so weit gebracht zu haben, daß sie sich, ihren Altersgenossen gegenüber, nicht mehr zu schämen brauchten.

Selbst Georgine schien sich in das neue Leben zu finden, und besonders waren es in der ersten Zeit die neuen Bekanntschaften, die sie fesselten. Auf zwei Nachbargütern in der Nähe lebten nämlich zwei sehr liebe Familien, ein ganz jung verheiratetes Paar aus dem Preußischen und ein alter mecklenburgischer Major, der hier sehr bedeutende Besitzungen mit besonders herrlichen Waldungen liegen hatte. Dieser brachte den größten Teil des Jahres auf seinem Gute zu, sah sehr viel Besuch bei sich und machte ein großes Haus, in dem die landesübliche Gastfreundschaft im reichsten Maße herrschte – daß ihm die lebendige, bildschöne neue Nachbarin dabei nur willkommen war, läßt sich denken. Natürlich wurde sie dort bald von einer Schar müßiger junger Herren umschwärmt, und so gleichgültig Georg in früherer Zeit und unter anderen Verhältnissen Ähnliches gesehen und, als eben in den Verhältnissen liegend, geduldet hatte, so überkam ihn jetzt dabei ein unbehagliches, demütigendes Gefühl – ein Mittelding zwischen erwachendem Stolz und Eifersucht, das er nicht niederzukämpfen vermochte. Er machte Georginen deshalb freundliche, indes leere Vorstellungen, denn sie lachte ihn aus und fragte ihn, ob er glaube, daß sie hier zwischen den Bauern ebenfalls verbauern solle. Daß sie sich amüsiere, wo ihr die Gelegenheit dazu überhaupt nur so spärlich geboten werde, dürfe er ihr nicht verdenken, und außerdem sei sie es sich selber und »ihrem Rang« schuldig, den Ton, der nun einmal in der vornehmen Welt herrsche, anzunehmen.

Eine andere Sorge machte dem Manne der Alte, der, jetzt mit gar keiner Beschäftigung, da er sich durchaus nicht zu einer geregelten Arbeit entschließen wollte, der Flasche zusprach, wo er dazu gelangen konnte – und leider fand er dafür nur zu häufig Gelegenheit. Allerdings hielt er sich dabei stets auf seinem Zimmer, aber Georg fürchtete mit Recht, daß er sich einmal wirklich betrinken und dann den Dienstleuten nicht allein ein Ärgernis geben, sondern auch verraten könne, zu welcher Klasse des Volkes er eigentlich gehöre. War es ihm doch nicht entgangen, daß der alte Verwalter, wenn er sich unbemerkt glaubte, schon manchmal heimlich den Kopf über das etwas wunderliche und rohe Benehmen des Mannes geschüttelt hatte, und welches Licht mußte eine solche Entdeckung dann auf seine Frau, auf ihn selber zurückwerfen! Die einzige Beschäftigung, zu der sich Mühler verstehen wollte, war die, daß er sich einen aus dem Dorfe geholten Spitz abrichtete, und stundenlang saß er mit diesem zusammen eingeschlossen, ihm allerlei tolle Kunststücke beizubringen. Den Hund nannte er Hanswurst, und er kam nicht mehr von seiner Seite.

Georg sah das alles, ohne irgendeine Änderung herbeiführen zu können, und fühlte jetzt erst in seiner ganzen Schwere den Fluch seines früheren tollen Lebens, das ihn, den Edelmann, unter die Hefe des Volkes geworfen hatte. Jetzt verdammte es ihn dazu, nicht allein mit solch rohem Menschen, wie dieser Mühler, zusammen zu leben und auszuhalten, nein, es zwang ihn sogar, ihn als Verwandten anzuerkennen und in seiner eigenen Familie zu halten. Das war freilich nicht mehr zu ändern – es mußte ertragen werden und erforderte nur all seine Klugheit und Wachsamkeit, um den fatalen Folgen, die es möglicherweise für seine und der Seinigen Zukunft haben könne, vorzubeugen.

Allerdings sprach er offen mit seiner Frau darüber und machte ihr einmal sogar den Vorschlag, dem Alten irgendeine Heimat entfernt von ihnen zu gründen und ihm – wenn auch mit großen Opfern – dasselbe, was er früher als Gehalt bezogen, als Pension zu sichern. Aber Georgine wollte nichts davon hören – fürchtete sie vielleicht, daß sie durch ein Fortschicken des Vaters die Partei schwächen könne, mit der sie noch immer dem Gatten gegenüberstand?

Der alte Mühler unterstützte sie allerdings nicht in ihren noch schlummernden Plänen: dem müßigen Leben wieder zu entsagen und zu ihrer »Kunst« zurückzukehren; denn er selber hatte von dieser Kunst nur eine sehr geringe Meinung und fühlte sich keineswegs geneigt, das ruhige Schlaraffenleben, das er jetzt führte, mit der alten unbequemen Narrenjacke so bald wieder zu vertauschen. Aber er war doch da – und bildete dadurch den Anknüpfungspunkt, durch den sie an ihre frühere fröhliche Zeit zurückdenken, sich wieder hineinversetzen konnte, und sie mochte sich deshalb nicht von ihm trennen. Nicht kindliche Liebe fesselte sie an den alten Mann, sondern die Erinnerung ihrer Triumphe, und die konnte und wollte sie nicht vergessen.

Und wenn sie dann so manchmal allein in ihrer Stube saß, wenn die gefährliche Dämmerstunde kam und sie im Geiste nun wieder an den mit Menschen gefüllten Zirkus dachte, der in Ungeduld sie, ihr Erscheinen erwartete – wenn sie sich dann wieder und wieder sagte, jetzt – jetzt galt das Zeichen dir, da draußen im Lichterglanz, von Tausenden umjubelt, auf flüchtigem Rosse dahinzufliegen – wenn sie den Beifall, das Jauchzen der Menge hörte und dann plötzlich, zu düsterer Wirklichkeit erwachend, die trübe Lampe neben sich brennen, die kalten, engen Räume um sich sah, da ballte sich die kleine, weiße Faust oft ungeduldig zusammen, der zarte Fuß stampfte den Boden, und ihr trotziger Sinn grübelte und sann, wie er sich dem unwillig getragenen Zwange entziehen sollte.

Und was machten sie hier aus ihrem Kinde – aus ihrer Josefine? eine Modedame vielleicht, mit leerem Titel, ohne Vermögen – eine Pächterstochter auf dem Lande, die sich in Sieg und Jubel ihre Bahn im Leben selbst erkämpfen konnte. Und sie mußte es dulden, mußte zusehen, wie hier Tag für Tag in tatenloser Ruhe langsam, zäh verstrich – es war zum Verzweifeln – aber niemand kümmerte sich mehr um ihren Schmerz, um ihre Ungeduld. Wo sie vergöttert war, wurde sie jetzt schon vergessen, und wenige Jahre nur vielleicht, und die Leute draußen, das schwankende, Veränderung liebende Publikum kannte sie nicht einmal mehr, und doch nur dieses schwankenden, nach Veränderung haschenden Publikums wegen sehnte sie sich fort aus ihrer stillen Häuslichkeit, die Millionen anderer Frauen gesegnet und gehegt haben würden als ihr teuerstes Kleinod.

Georg hatte in dieser Zeit viel auf dem Felde und im Walde zu tun und fand dabei auch in der Jagd eine angenehme und seinem Körper zusagende, seinem Geist entsprechende Erholung – Georgine dagegen war viel allein und deshalb launischer als je, so daß ihr selbst ihr Vater aus dem Wege ging. Da sich übrigens im Schlosse niemand um ihn kümmerte und Karl, sehr gegen seine Wünsche, den ganzen Tag mit Lernen beschäftigt gehalten wurde, schlenderte der alte Mühler einmal in solcher Zeit zur Abwechselung nach Schildheim hinaus, weniger freilich, um die Gegend kennenzulernen als im Stern einzukehren und ein Glas zu trinken.

Hier fand er den unvermeidlichen Stammgast, den »faulen Tobias«, der behaglich hinter dem Ofen kauerte, an einem alten, entsetzlich schmutzigen und verbrannten Maserkopf sog und seinen Krug Bier neben sich auf der Bank stehen hatte.

»Hallo!« sagte Tobias, als der Alte zur Tür hereinkam und sich unfern von ihm, nach kurzem Gruß, an einen der um diese Zeit leeren Tisch setzte, »ich dächte gar, das wäre der Schwiegervater vom preußischen Gute oben. Schön willkommen, das ist gescheit, daß Ihr auch einmal zu unsereinem heruntersteigt« – und er hielt ihm sein Glas zum Anstoßen hin.

»Ist ein verdammt langweiliges Leben da oben,« brummte der Alte, indem er mit ihm anstieß, »muß doch auch einmal heraus und frische Luft schöpfen.«

»Gescheit,« lachte Tobias stillvergnügt, Gesellschaft gefunden zu haben, »und das kann man meiner Meinung nach am allerbesten im Wirtshause. Nirgends ist man so ungestört und daheim wie an so einem Orte, und wenn ich mein Glas Bier bezahle, gehört die ganze Bescherung mir.«

»Hört einmal, Kamerad,« sagte der Alte zutraulich, »Ihr seid der erste vernünftige Mensch, den ich hier im ganzen Neste finde, und ich denke, ich werde öfter hier herunterkommen. Hol' die da oben der Henker! denn mein Bier will ich im Frieden trinken und mich nicht damit verstecken.«

»Verstecken? oho! halten sie Euch so knapp?« lachte Tobias.

»Knapp? – verdamm' es,« murmelte der Alte, »ich bin alt genug, mich selber zu halten, wie ich es gerade für nötig finde.«

»Na, nichts für ungut – meinte nur so,« entschuldigte sich Tobias, der mit dem »Schwiegervater«, wie der Alte, ohne daß er es wußte, in der Nachbarschaft hieß, keinen Wortwechsel haben wollte.

»Ihr seid ein Müller, wie?« fragte Mühler nach einer kleinen Pause, in der er sein Bier ausgetrunken und jetzt mit dem Deckel klappte, sich den Krug wieder füllen zu lassen. Er sah dabei den faulen Tobias von oben bis unten an.

»Gewesen,« meinte Tobias, »habe das Geschäft aber aufgegeben und es den Kindern überlassen – lebe so behaglicher. Was ist Euer Geschäft, wenn man fragen darf?«

»Meins?« wiederholte der Alte, durch die Frage doch in Verlegenheit gebracht, »hm, ich – revidiere die Rechnungen und – besorge die Schreibereien.«

»Aber Ihr seht mir nicht aus wie ein Ökonom.«

»Nicht?« lachte jener verschmitzt vor sich hin, »bin auch mein ganzes Leben nichts weniger als das gewesen. Habe studiert, in meinen jungen Jahren, versteht sich – sage Euch, habe ein verteufeltes Studium durchgemacht und könnte manchem Professor was zu raten aufgeben, aber – wenn man alt wird, versteht Ihr, macht man eben nicht mehr viel Gebrauch davon.«

»So? – studiert?« sagte Tobias, nur mit einem unbestimmten Begriff von der Bedeutung des Wortes, »des Schulmeisters Fritze hat auch studiert, ist aber nie was Rechtes aus ihm geworden. – Konnte das Sitzen nicht vertragen, wie er meinte. – Muß nicht hübsch sein, das Studieren!«

»Und was treibt Ihr nun so hier das ganze Leben durch?«

»Wir? verteufelt wenig. – So lange man jung ist und das Leben genießen könnte, hat man Plackerei und Schinderei genug – und wird man alt – ja, dann ist's eben vorbei, und man kann weiter nichts tun als sich ausruhen – und das gönnen sie einem nicht einmal.«

»Guten Tag mitsammen,« sagte in dem Augenblick eine tiefe Stimme, und der alte Forstwart Barthold trat in die Stube.

»Guten Tag, alter Waldläufer,« lachte Tobias, während sich Mühler nach dem neu Eintretenden umschaute, »na, wo hast du wieder gesteckt?«

»Ich habe ein paar Eisen für Fischottern gelegt,« sagte der Forstwart, »nimm dich in acht, Tobias, wenn du unter dem Wehr etwa herumkriechen solltest – in der Mühle hab' ich es auch schon gesagt – du könntest sonst einmal einen von deinen alten Hinterläufen unversehens in einen Schwanenhals hineinbekommen, und die Dinger spaßen eben nicht.«

»Ich habe nichts unten am Wehr zu suchen,« sagte Tobias, »die Fischerei ist vorbei, und bei dem Wetter gehe ich außerdem nicht raus. Du wirst aber auch was Rechtes fangen. Daß du's nur nicht satt kriegst, die Eisen aufzustellen und in dem kalten Wasser herumzupatschen; es geht dir doch keine Otter hinein.«

»Kann man nicht wissen,« meinte der Forstwart, »und gearbeitet muß doch sein. So bequem wie du können wir's nicht alle haben. Herr Wirt, einen Bittern!«

»Hol's der Teufel, mir auch einen!« sagte Mühler, »mit dem kalten Bier verschwemmt man sich nur den Magen.«

»Ich habe auch nichts dagegen,« stimmte Tobias ein, »bei der Kälte draußen kann man schon was Warmes im Leibe vertragen. Ich begreife nur nicht, wie du Winter und Sommer Freude daran finden kannst, draußen im Walde herumzukriechen. Aus den Wasserstiefeln kommst du im Leben nicht heraus – ich glaube, du schläfst drin.«

»Manchmal nachmittags, ja,« lächelte der alte Mann, »aber ich will dir etwas sagen, Tobias: wem's nicht gegeben ist, der kann auch im Walde keine Freude finden, so wie du und deinesgleichen, die eben nur Büsche und Bäume drin sehen.«

»Na, siehst du was anderes drin?« lachte Tobias.

»Allerdings tu' ich das,« erwiderte der alte Mann und wurde auf einmal dabei ganz ernst, ja fast feierlich, »und wenn ich dir auch das jetzt sage, Tobias, wirst du mich doch nicht verstehen. Aber das schadet auch nichts – gute Lehren und Wahrheiten werden oft weggeworfen, aber manchmal bleibt doch ein Korn davon hängen und fällt auf guten Boden, wie der Baum auch seinen Samen über das dürrste Land hinstreut. Irgendein Körnchen wurzelt doch vielleicht und treibt dann wieder einen jungen Baum.«

»Wirt, mir noch einen Schnaps,« sagte Tobias, »der Waldläufer holt mir zu weit und moralisch aus.«

»Mir auch noch einen!« rief Mühler, den der Bursche mit seinem Ernst zu amüsieren anfing. Barthold nahm keine Notiz von der Unterbrechung.

»Siehst du,« fuhr er fort, »wenn du einen einzelnen Baum da draußen stehen siehst, so denkst du wohl – wenn du überhaupt je etwas dächtest – das sei ein lebloses, totes Ding, was da steht, und allerdings kann sich's nicht von der Stelle bewegen, es muß am Boden haften, wo unser Herrgott es hingepflanzt hat. Aber in ihm lebts und wirkt und schafft und treibt und wächst, reckt die Arme nach dem Himmel empor, von dort her Licht und Regen zu saugen, und hält sich mit den Wurzeln derb im Boden fest, um vom Winde nur gerüttelt, nicht aber geworfen zu werden. Mehr im Leben tut auch nicht einmal der Mensch, nur auf ein wenig andere, sogar nicht immer so erfolgreiche Art. Der Baum ist aber nicht tot, er lebt – er lebt und atmet wie ein jedes Tier, wenn sich ihm auch die Brust dabei nicht heben kann; aber durch seine Poren zieht er Lebenssaft, zieht Luft und Feuchtigkeit, was er zum Leben braucht, und wird ihm das genommen, muß er sterben. Nimm nur die Axt und hau' in einen Stamm hinein und sieh, ob er nicht blutet, wenn auch sein Blut nicht rot aussieht wie das unsere. Langsam tropft es zu Boden, und wenn die Wunde ausgeblutet hat, vernarbt sie wieder, wie bei dem Menschen. Sieh nur einen gefällten Baum dir an, aber nicht, wie es die meisten Menschen tun, die bei einem solchen Baume immer gleich berechnen, wieviel Klaftern Scheite oder wieviel Ellen Nutzholz er geben kann. Sieh ihn an, wie er als Leiche daliegt, denn es gibt ebensogut Baum- wie Menschenleichen – sieh, wie die Rinde abstirbt, ihre gesunde, frische Farbe verliert und fahl und erdfarben wird und die Blätter welken und dorren, die Zweige eintrocknen – und langsam geht er zur Erde zurück, von der er kam, wie der Mensch, anderen, seinesgleichen, Raum zu geben. Und das ist nur der einzelne Baum, nun aber seht die Masse, seht den Wald, wo einer dem andern die Hand hinüberreicht; seht ihn, wenn er sich abends die Sternendecke über den Kopf zieht und duftet und träumt und leise rauschend der Atem des Herrn durch seine Wipfel fährt; seht ihn, wenn er morgens erwacht, mit rosig verklärtem Gesicht der Sonne entgegenlächelt und all die tausend Sänger hegt und pflegt, die mit der Morgensonne dem Allerhalter ihre Danklieder entgegenwirbeln – seht ihn am Tage, wie er die Arme schützend über die Erde breitet, den heißen Sonnenstrahlen zu wehren, seine Quellen und liebsten Kinder, die Blumen, zu erreichen und auszutrocknen; seht ihn, wie ihm am Abend spät der helle Schweiß von der vielen Anstrengung an der Stirn steht und in Millionen Tropfen von den Blättern funkelt. Seht ihn im Sommer in seiner Kleiderpracht, im Winter, wenn er sich fest eingehüllt hat in seine warmen Schneetücher – seht ihn, wenn ihr wollt, aber er bleibt immer schön und groß und hehr, ein Tempel des Herrn, den er sich selber auferbaut.«

Barthold hätte sich für seine schwärmerischen Gedanken keine unglückseligeren und unpassenderen Zuhörer wählen können, und wenn er ein Jahr danach gesucht hätte, als eben die beiden alten Burschen mit dem Wirt zu Kauf, der mit offenem Munde hinter ihm stand. Auf Tobias' Gesicht lag, solange der alte Mann sprach, ein breites Grinsen, und die rotgeränderten feuchten Augen zwinkerten nur manchmal mit einem verschmitzt sein sollenden Lächeln nach dem »Schwiegervater« hinüber. Mühler seinerseits saß mit fast bis in die Haare hinaufgezogenen Augenbrauen, die Stuhllehne zwischen den Knien und beide Ellbogen darauf gelehnt, dicht vor dem alten Forstwart, und über sein Gesicht zuckte und zerrte es dabei so wunderbar, daß Tobias zuletzt gar nicht mehr auf die Worte hörte, sondern nur ganz erstaunt in die wunderbar veränderliche Physiognomie des »Schwiegervaters« schaute.

»Bravo!« sagte dieser mit seiner heisern Stimme, als Barthold jetzt geendet und wie verklärt durch das Fenster nach seinem lieben Walde hinüberschaute, »bravo, alter Junge, vortrefflich – der Pastor hätt's nicht besser machen können! – Wirt, noch mehr Kümmel, für uns alle, und nicht so in kleinen spitzen Gläsern, sondern die ganze Flasche, wir schenken uns selber ein und machen Kreidestriche.«

»Ich danke Ihnen,« sagte der Forstwart ruhig, »ich trinke höchstens morgens ein einziges Glas.«

»Auf einem Beine kann kein Mensch stehen!« rief Tobias.

»Gott sei Dank, daß ich den Branntwein noch nicht brauche, um darauf zu stehen,« meinte der alte Forstwart, »ein nüchterner Kopf und ein volles Herz ist mein Wahlspruch, und – andere Leute führen vielleicht besser, wenn es auch der ihrige wäre. Das aber ist anderer Leute Sache und geht mich nichts an – und nun guten Morgen mitsammen. Ich denke, Tobias, meine Rede hat mir bei dir nicht viel geholfen, und du wirst nach wie vor doch lieber in das Wirtshaus als in den Wald gehen. Du hast aber auch recht, du paßt nicht hinein, und ein Baum sähe gewiß nicht besser aus, wenn du darunter in seinem Schatten lägst. Gott zum Gruß – ich muß wieder hinaus!« Mit den Worten zahlte er dem Wirt sein Glas Branntwein und verließ still, wie er gekommen, die Stube.

»Bei dem rappelt's wohl?« lachte Mühler, als Barthold die Tür hinter sich zugezogen hatte.

»Ein bißchen, ja,« bestätigte der Wirt, »aber er ist ganz harmlos und tut keinem Menschen was. Nur im Walde darf man ihm nicht begegnen, und abends möchte ich da drin nicht um alles in der Welt mit ihm zusammenstoßen.«

»Beißt er?« meinte Mühler trocken.

»Nun, er beißt wohl gerade nicht,« erwiderte der Wirt, »aber daß er allerlei faule Kunststücke kann, ist gewiß. Hier spricht er immer vom lieben Gott, aber draußen, da schwatzt er mit den Bäumen und Vögeln, ruft die wilden Tiere, sucht geheimnisvolle Wurzeln und treibt allerlei heidnischen Unsinn, wie es hier früher soll Sitte gewesen sein. Im Walde drin steht auch noch eine alte Eiche – kein Mensch weiß, wie alt sie ist – mit einem steinernen Altar darunter, auf dem in alten Zeiten die Heiden ihren Abgöttern Menschen geschlachtet haben. Dort ist er am liebsten, und da treibt er auch nicht selten um Mitternacht seinen Spuk mit bösen Geistern, was eigentlich gar nicht geduldet werden sollte.«

»Ach was!« sagte Tobias, der indessen mit Mühler wacker der Flasche zugesprochen hatte, »er schadet doch keinem Menschen damit, und wenn man ihn zufrieden läßt, ist er gut genug; nur manchmal ein bißchen grob.«

»Wieviel Uhr schlägt das?« sagte Mühler aufhorchend.

»Eben elf – Zeit genug zum Mittagessen.«

»Ja, aber ich muß fort,« meinte der Alte, »will meinen Jungen gleich aus der Schule mit nach Hause nehmen. – Hier, Wirt, meine Zeche – zwei Glas Bier und ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schnäpse – gerade sieben – seht Ihr, hier sind die Striche – famoses Zeug, der Kümmel – hahahaha, den alten Forstwart müssen wir uns einmal wieder hierher einladen; das ist ein kreuzkurioser Kerl. – Guten Morgen, Tobias, guten Morgen, Sternenwirt – der Kümmel soll leben!« Und seinen Hut gegen die Decke werfend, daß er ihm zurück gerade wieder auf den Kopf fiel, nickte er den beiden darüber nicht wenig erstaunten Männern huldreich zu und verließ mit steifen Schritten die Wirtsstube.

 


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