Friedrich Gerstäcker
Der Kunstreiter
Friedrich Gerstäcker

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21.

Frau von Zühbig kannte ihre Freundin Franziska so genau wie Herr von Zühbig den Baron, und beide verließen an dem Abend das Zühbigsche Haus trotz aller Freundschaftsbezeugungen mit einem Stachel im Herzen, der aber nur die junge Dame wirklich schmerzte. Unterwegs blieb sie auch außerordentlich einsilbig, trotz aller Bemühungen des Barons, der es für seine Pflicht hielt, sich liebenswürdig zu machen. Zu Hause angekommen, sagte sie ihrer Mutter kaum guten Abend, schloß sich dann in ihr Zimmer ein, warf sich in ihr Sofa, und ihr Gesicht in die Hand stützend, starrte sie finster brütend vor sich nieder. Fräulein von Zahbern hatte Augenblicke, in denen sie hübscher aussah als in diesem.

»Also doch,« murmelte sie leise vor sich hin, mit dem Fuße dabei den Teppich schlagend, »also doch! – Diese kokette Ralphen, dieses unreife, eingebildete Ding voll Kapricen und Launen! Und wie scheinheilig und unschuldig die – Person gegen mich tat! ob ihr je ein Wort davon über die Lippen gegangen wäre! Das ist Freundschaft, das ist Vertrauen – die kleine giftige Schlange, die! Und was für eine Ursache nur sie und Geyerstein auseinander gebracht haben mag? – Sie hat ihn geliebt, ich weiß es bestimmt, ja meinen Kopf möcht' ich zum Pfande setzen, daß sie ihn noch liebt; sie kann sich einmal nicht verstellen, soviel Mühe sie sich gibt, und als ich ihr neulich nur den Namen nannte, wurde sie bald blaß und bald rot. Hätte ich damals meinen Vorteil verfolgt, ich glaube, ich hätte sie zu einem Geständnis bringen können, aber meine alberne Gutmütigkeit ließ es nicht zu. Gutmütigkeit für solches Entgegenkommen! – Doch warte,« setzte sie entschlossen hinzu, als sie aufsprang und mit raschen Schritten in ihrem Zimmer auf und ab lief, »jetzt hab' ich dich! Liebt sie den Geyerstein wirklich noch, so ist er auch zurückgetreten und nicht sie, und das zu erfahren, hab' ich jetzt ein prachtvolles Mittel. Die Zühbigsche Nachricht ist Gold wert, und daß ich ihr das Gift tropfenweise beibringe, darauf kann sie sich verlassen. Hat sie Selikoff wirklich so fest umgarnt – ist die Verbindung beschlossen und festgesetzt, wie diese boshafte Zühbig behauptet, so kann ich darin so nichts mehr verderben – nur meine Rache will ich noch haben. Der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird, aber die Schlange sticht, und ich will selber jetzt einmal eine Zeitlang die Schlange spielen. Wie sie die Neuigkeit wohl aufnehmen wird? – Ich bin neugierig, ob sie sich so weit verstellen kann! – Aber nein, dazu fehlt ihr Charakterstärke, denn sie ist ja doch weiter nichts als eine arme, hilflose Kokette.«

Fräulein von Zahbern hatte sich selber in eine recht fatale, unangenehme Laune hineingebacht und gesprochen und würde, um dem Resultate zu entgehen, wenn andere Personen gegenwärtig gewesen wären, jedenfalls zu Tränen und Krämpfen ihre Zuflucht genommen haben. Eingeschlossen aber in ihr Zimmer, dachte sie an nichts derartiges, sondern kleidete sich aus, ging zu Bett und grübelte unter der warmen Decke über ihre Rachepläne weiter.


Melanie saß am nächsten Tage allein mit Luise in ihrem Zimmer und arbeitete an einer Stickerei. Graf Selikoff hatte sie gerade verlassen, und ein prachtvolles Blumenbukett lag vor ihr auf ihrem Arbeitstische – aber ihr eigenes Antlitz paßte nicht zu den blühenden Rosen und Kamelien, mit denen es prangte. Sie sah bleich und angegriffen aus, und ein schmerzlicher Zug umzuckte den feingeschnittenen Mund.

»Ich will ein Glas Wasser holen,« sagte Luise aufstehend, »die Blumen welken sonst so schnell.«

»Ich danke Ihnen,« erwiderte Melanie, »aber bitte, setzen Sie die Blumen in das andere Zimmer hinüber, ich habe Kopfschmerzen, und die Rosen duften mir zu stark.«

»Sie sehen heute leidend aus, Melanie,« sagte Luise, zu ihr gehend und leise ihre Stirn küssend, »fehlt Ihnen etwas?«

»Nein, nicht das geringste weiter,« lächelte das junge Mädchen, »ein rheumatischer Kopfschmerz jedenfalls; ich fürchte fast, daß ich mich gestern beim Nachhausekommen erkältet habe.«

»Sie waren auch so leicht angezogen.«

»Es wirb vorübergehen – da kommt jemand.«

»Es ist Rosalie – sie wird mich zum Spazierengehen abholen wollen. Begleiten Sie uns vielleicht ein wenig?«

»Heute nicht – Ruhe wird mir besser sein. Was hast du, Rosalie? Du siehst ja so verdrießlich aus! Ist dir etwas geschehen?«

»Mir?« sagte das junge Mädchen, indem sie zu der Schwester ins Zimmer trat und ans Fenster ging, »was soll mir geschehen sein? Ich ärgere mich nur über jemanden.«

»Über wen? – wer hat dir Ursache dazu gegeben?«

»Über wen? – über den Grafen Geyerstein – es ist recht häßlich von ihm!«

»Was, mein Herz?« sagte Melanie und fühlte dabei, wie ihr das Blut zum Herzen zurückschoß.

»Und hast du es denn auch vergessen?« rief Rosalie erstaunt, »ist denn nicht heute mein Geburtstag, an dem er jedesmal morgens bei mir gewesen und den er mit uns gefeiert hat, und habe ich ihn auch heute nur mit einem Auge zu sehen bekommen? Ja – vorbeigeritten ist er vorhin – vor einer Viertelstunde, gerade wie des Grafen Selikoffs Wagen vorbeigefahren war, aber ob er auch nur herausgesehen und gegrüßt hätte – Gott bewahre! Ich bin so ernstlich böse auf ihn, daß ich ihn recht tüchtig auszanken werde, wenn er das nächste Mal wieder zu uns kommt. Da ist Graf Selikoff viel freundlicher – wenn er nur das Zeichnen verstände!«

»Er wird heute Dienst gehabt haben, Rosalie,« sagte Melanie leise, »und da, weißt du wohl, kann er nicht abkommen, wenn er auch gern möchte.«

»Ach was,« rief das junge Mädchen, »die ganze Woche und die ganzen letzten vier Wochen hat er nicht in einem fort Dienst gehabt, und wenn er kommen wollte, hätte er gewiß schon einmal Zeit gefunden – und heute hatte ich mich so darauf gefreut, denn meine große Schweizerlandschaft hat er noch nicht einmal gesehen. Was macht denn Graf Selikoff so lange bei der Mama drüben? Ich wollte eben hinüber und wurde nicht hineingelassen.«

»Ich weiß es nicht; er hat doch wohl etwas mit ihr zu besprechen.«

»Kommen Sie, Komtesse,« sagte Luise, die recht gut fühlte, wie das Gespräch der Schwester peinlich wurde, »es wird sonst zu spät zu unserm Spaziergang heute.«

»Ich kann heute nicht gehen,« rief Rosalie rasch, »Mama hat mir Besuch geladen – da fährt er fort,« unterbrach sie sich selber. »Gott sei Dank! jetzt kann ich hinüber und Mama fragen, welches Kleid ich anziehen soll.« Und mit den Worten huschte sie leicht und fröhlich aus der Tür hinaus, allen Ärger in dem einen Gedanken ihres Anzuges vergessend.

»Fräulein von Zahbern läßt fragen, ob es der gnädigen Komtesse genehm wäre,« meldete in dem Augenblicke die Kammerjungfer durch die halb geöffnete Tür.

»Lieber Himmel,« sagte Melanie erschreckt, »gerade heute!« aber es blieb ihr nicht einmal Zeit, den Satz zu vollenden, denn Fräulein von Zahbern hüpfte auf Melanie zu, und sie umarmend und küssend, sagte sie lachend: »Ich konnte mir die Freude nicht versagen, unserer kleinen Rosalie zu ihrem Geburtstage zu gratulieren – wo steckt denn der kleine, liebe, wilde Engel?«

»Rosalie, liebe Franziska, ist eben zu ihrer Mutter gegangen; sie wird aber jedenfalls bald zurückkehren. Bitte, nimm so lange Platz.«

»Du siehst auch heute wieder angegriffen aus,« sagte Fräulein von Zahbern, indem sie der Gouvernante, ohne diese selbst nur eines Grußes zu würdigen, Mantel und Muff überließ, den Hut dann auf einen nahen Stuhl legte und sich die Locken vor dem Spiegel ordnete, »fehlt dir etwas, mein Herz?«

»Etwas Migräne, mein altes Leiden, vielleicht auch nur eine Erkältung, die ich mir gestern abend beim Nachhausegehen zugezogen.«

»Ach ja. Ihr hattet ja euer Kränzchen bei Schodens gestern. Nun, was macht unsere überschwengliche Euphrosyne? schmachtet sie noch? – Ich begreife wahrhaftig nicht, wie sie bei dem Vater auf diese Weise hat ausarten können. Sie webt und lebt und schwebt immer in einer höheren Welt, und kommt mit uns anderen armen Sterblichen eigentlich nur bei Kaffeegesellschaften zusammen – hahahaha!«

»Euphrosyne,« sagte Melanie gutmütig, »ist ein sehr liebes, braves Mädchen, und wenn sie kleine Eigenheiten hat, dürfen wir die recht gern, ihrer anderen vortrefflichen Eigenschaften wegen, übersehen oder müssen sie doch wenigstens milde beurteilen. Sie spricht zum Beispiel nie ein böses oder gehässiges Wort über einen andern hinter dessen Rücken, und das ist doch gewiß schon viel wert.«

»Weil sie unsere Schwächen nicht sieht,« lachte Fräulein von Zahbern, »ihr Auge hängt ja immer an den Wolken und ihren Idealen. Bei Zühbigs hat sie neulich geschwärmt, daß mir Amelie versicherte, es sei gar nicht mehr zum Aushalten gewesen. – Apropos, Zühbig, der Intendant, ist gestern von seiner nordischen Reise, wie er es nennt, zurückgekehrt und hat eine ganze Tasche voll Neuigkeiten mitgebracht.«

»Das läßt sich denken,« lächelte Melanie, »und er ist jetzt gewiß recht in seinem Element.«

»Er hat auch eine Entdeckung gemacht.«

»Wirklich? – einen neuen Stern am Theaterhimmel entdeckt? Der wird nach ihm benannt werden müssen. Doch hoffentlich einen Planeten, den wir in dem Falle auch einmal auf seiner Wanderung bewundern dürfen.«

»Nein, einen alten Stern,« sagte Fräulein von Zahbern, »einen Stern, der nur eine Zeitlang vom Horizont verschwunden war – einen Stern erster Größe noch dazu. Die Frau des Georg Bertrand.«

»In der Tat?« sagte Melanie ruhig, »aber ich glaube, die Entdeckung wird im öffentlichen Zirkus und mit Hilfe des Programms nicht so außerordentlich schwer gewesen sein.«

»Sie reitet ja nicht mehr, schon seit sie von hier fort ist,« rief Fräulein von Zahbern rasch, »hat sich auch in ihren Verhältnissen, ja selbst in ihrem Namen sehr gebessert und heißt jetzt Frau von Geyfeln.«

»Von Geyfeln?«

»Und selbst das ist noch nicht das Merkwürdigste,« setzte das gnädige Fräulein still vor sich hin lachend hinzu. »Du rätst gewiß nicht, Melanie, auf wessen Gut sie sich befindet.«

»Wie soll ich das raten?« sagte Melanie, die sich alle Gewalt antun mußte, ihre Fassung zu bewahren; sie schöpfte dabei tief Atem, denn es war, als ob eine eiserne Hand ihr die Brust zusammenschnüre, »Land und Leute dort sind mir vollkommen fremd.«

»Wer hätte das dem stillen Grafen zugetraut!« fuhr Fräulein von Zahbern fort, und ihr Blick hing lauernd an den Zügen der Gepeinigten, »Amelie hat aber ganz recht: stille Wasser sind tief, und die Ruhigen haben es oft faustdick hinter den Ohren.«

»Von welchem Grafen sprichst du?« fragte Melanie. Sie wußte, welcher Name folgen würde und mußte, aber sie hatte einen von der Freundin unbewachten Blick aufgefangen; sie fühlte, daß sie beobachtet wurde, welchen Eindruck die Nachricht auf sie mache, sie wußte, daß Franziska im Innern triumphieren würde, wenn sie sich schwach zeigte, und ihre ganze Kraft zusammenraffend, dem zu begegnen, sah sie ruhig in der Redenden Auge.

»Von welchem Grafen?« lächelte Fräulein von Zahbern, ihres Sieges jetzt gewiß, »von welchem könnt' ich reden als von unserem unvergleichlichen Ritter Bayard ohne Furcht und ohne Tadel, dem Grafen Geyerstein!«

»In der Tat?« erwiderte Melanie, aber so ruhig, als ob Fräulein von Zahbern ihr eben erzählt hätte, daß irgendeine Modehandlung *** einen neuen Kleiderschnitt erhalten hätte. »Hat sich Madame Bertrand von ihrem Gatten scheiden lassen? dann dürfen wir bald einer Verlobungsanzeige in den Zeitungen entgegensehen.«

»Aber du bist gar nicht erstaunt darüber?« rief Fräulein von Zahbern, die eine stärkere Wirkung erwartet hatte.

»Und warum erstaunt? Graf Geyerstein ist sein eigener Herr und hat niemand von uns Rechenschaft über seine Handlungen abzulegen. Wenn er mit seiner Familie wegen einer solchen Mesalliance übereinkommt, wen sonst dürfte und würde es kümmern?«

»Von einer Heirat ist vorderhand wohl noch keine Rede,« rief die junge Dame, die ihr, wie sie beabsichtigt, das Gift tropfenweise zumaß, »denn der Graf hat den Herrn Bertrand ebenfalls mit dort hingenommen, und er wie seine Schöne sind angeblich die Pächtersleute auf dem Gute. Eigentlich ist es ein wunderliches Verhältnis, in dem sich die beiden Herren da einander gegenüberstehen; aber dort in der Wildnis kann man sich über manches hinwegsetzen, und Monsieur Bertrand wird wohl schon seinen Nutzen dabei finden.«

»Herr von Zühbig hat sich wohl sehr auf seiner Reise amüsiert?«

»Außerordentlich, und eine Menge Fährlichkeiten dabei erlebt. Einmal brach ihm ein Rad, gerade in der Nähe des Baron Geyfeln, wie Monsieur Bertrand ja jetzt, ich weiß nicht, von wem geadelt, heißt, und er übernachtete dort. Übrigens hat er mich gebeten, keinen Gebrauch davon zu machen; Baron Geyfeln hat ihn selber darum ersucht, hier in *** nichts davon zu erwähnen, daß er ihn gefunden hätte. – Doch Rosalie bleibt lange. Ist sie noch immer bei der Mama drüben?«

»Wahrscheinlich – sie wird später herüberkommen, um sich ankleiden zu lassen.«

»Dann werde ich doch lieber einmal zur Mama hinüberspringen und auch gleich der lieben Exzellenz meinen Glückwunsch zu dem heutigen Tage bringen. Sie ist doch wohl?«

»Ganz wohl.«

»Und was stickst du da Schönes? – das ist ja ganz prachtvoll, ein reizendes Muster. Was wird denn das?«

»Eine Zigarrentasche.«

»Also nicht für den Papa, denn der raucht nicht.«

»Nein.«

»Aha – ein Geheimnis – nun auf Wiedersehen, mein süßes Herz – auf Wiedersehen, ich habe dich lange genug gestört.« Und ihre vorhin abgelegten Garderobestücke mit Hilfe Luisens, die ein stummer, aber erregter Zuhörer des ganzen Gespräches gewesen war, wieder anlegend, rauschte Fräulein Franziska aus dem Zimmer, in dem sie bitteres Weh, weit ärger, als sie wohl je geahnt, ausgesäet hatte.

Melanie war schweigend aufgestanden, sie bis zur Tür zu begleiten – ihr Kuß brannte noch auf ihren Lippen, und ebenso still wollte sie wieder zurück zu ihrem Stuhle gehen, als ihr Blick auf das mitleidsvolle, teilnehmende und für sie ängstlich besorgte Gesicht Luisens fiel.

»Meine liebe, liebe Melanie,« flüsterte die Gouvernante, »glauben Sie um Gottes willen nicht, was das Fräulein Ihnen erzählt hat. Fräulein von Zahbern ist nicht wählerisch in ihren Neuigkeiten, und der Stadtklatsch zieht alles in den Staub, was er erreichen kann.«

Melanie streckte die Hand aus, als ob sie ihr etwas erwidern wollte – aber sie vermochte es nicht. Bis hierher hatte ihre Kraft gereicht, und die Arme um den Nacken des treuen Mädchens schlingend, barg sie das Antlitz an ihrer Schulter und weinte still. Luise störte sie auch nicht darin; sie wußte aus Erfahrung, daß Tränen den wildesten Schmerz lindern, lösen können, und ließ sie sich ruhig ausweinen. Dann aber, als Melanie ihren Platz am Stickrahmen wieder eingenommen hatte und nur noch den Kopf in die Hand gestützt nach den ziehenden Wolken am Himmel hinaufschaute, sagte sie freundlich: »Es ist nicht wahr. Ich habe die feste, innige Überzeugung: es ist nicht wahr. Was Herr von Zühbig – sollte die Kunde wirklich von ihm ausgehen – veranlaßt haben kann, ein solches Gerücht auszusprengen, weiß ich nicht, daß aber Graf Geyerstein sich mit dieser Frau so weit einlassen sollte, in ein solches, ihrem Manne gegenüber entwürdigendes Verhältnis zu treten, das glaube ich nicht, und wenn« – Luise mochte selber über das Feuer erschrecken, mit dem sie den Grafen verteidigte, denn ruhiger setzte sie plötzlich hinzu – »wenn selbst ein anderer Mund es bestätigte, als der des Fräulein von Zahbern.«

»Doch, Luise – doch – es ist wahr,« flüsterte leise Melanie, »jedes Wort, das sie gesagt, ist wahr, so oft sie sonst auch übertreiben mag. Eine einzelne Lüge läßt sich erfinden und verbreiten, nicht aber ein ganzes Gewebe von Tatsachen, und daß – Graf Geyerstein jene Frau liebt – des bin ich selber Zeuge.«

»Sie selber?«

»Ja – fragen Sie mich nicht weiter, Luise, aber – ich habe die Beweise, und was mich am meisten schmerzt, ist nur, daß ich noch schwach genug gewesen bin das so zu fühlen und – wie ich fast fürchte – der Zahbern verraten zu haben. Jetzt ist das vorbei; ich habe mich selber wieder, und wenn mein Herz noch törichterweise an jenem Manne hing, dem es sich in erster Neigung zugewandt, so ist das jetzt vorbei – vorbei für immer. Ihnen, Luise, konnte ich das sagen; ich weiß, wie lieb Sie mich haben, wie gut und treu Sie sind, und daß ich Ihnen vertrauen darf, wie einer Schwester. Ihnen war ja auch meine unglückselige Neigung kein Geheimnis, aber jetzt lassen Sie es abgetan – geschlossen sein zwischen uns. – Eine flüchtige Leidenschaft für jene schöne, verlockende Frau hätte ich ihm vielleicht verzeihen können – ein Verhältnis aber ihrem Gatten gegenüber, in das kein Ehrenmann treten würde, mag ihm Gott vergeben, ich kann es nicht. Wenn von jetzt an der Name des Grafen von Geyerstein noch zwischen uns genannt wird, so sei es als der eines fremden – gleichgültigen Menschen.«

»Und wollen Sie dem Grafen nicht gestatten, sich zu verteidigen?«

»Wie kann er es?« fragte Melanie schnell, »und hat er selbst nur den Versuch gemacht? Er weiß, daß ich das Verhältnis kenne, wenn er auch vielleicht nicht ahnt, daß ich jetzt von seinem ganzen Umfange unterrichtet bin. Von da an mied er selber unser Haus, meine Nähe, und ich bedurfte fast keines stärkeren Beweises, als dieses stille Eingestehen seiner Schuld. Lassen Sie es deshalb abgetan sein, es ist das viel besser so, als wenn wir ihn vielleicht nötigten, Unwahrheiten und Beschönigungen mir gegenüber zu versuchen. Ich kann ihn nicht mehr achten – ich möchte ihn nicht auch noch verachten lernen.«

»Der arme Graf!« seufzte Luise, »und wenn er nun doch unschuldig wäre, wenn irgendein unglückseliges Mißverständnis . . .«

»Beruhigen Sie sich, Luise; das ist es nicht. Hätte ich mich nicht selber überzeugt – wüßte ich nicht drei, vier verschiedene Fälle, in denen er mit jener Frau in Verbindung stand, ja, ich würde es auch glauben. Madame Bertrand hat ihn aber sogar verkleidet auf seinem Zimmer besucht – verlangen Sie einen stärkeren Beweis?«

»Das wäre allerdings stark genug, wenn es erwiesen . . .«

»Es ist erwiesen und die Sache erledigt. Gott sei Dank, ich habe mich selbst wiedergefunden, und keine solche Schwäche soll mich je mehr überwältigen. Aber still; ich glaube, Rosalie kommt zurück und wird ihren Putz in Ordnung bringen wollen.«

»Es ist die Exzellenz,« sagte Luise, »ich höre ihre Stimme.«

»Meine Mutter?«

In diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und Ihre Exzellenz die Frau Kriegsminister von Ralphen betrat mit Rosalie das Zimmer.

»Fräulein, haben Sie die Güte, Rosalien ankleiden zu lassen,« sagte sie, zu der Gouvernante gewandt, »ich wünsche mit meiner Tochter etwas zu besprechen. Geh, mein Kind, und komme nachher wieder hinüber zu mir – ich erwarte dich in einer halben Stunde.« Die Gouvernante verließ, dem Winke gehorsam, mit ihrem Zögling das Gemach, und Frau von Ralphen, langsam zu Melanie tretend, neben deren Stuhl sie sich auf denselben Fauteuil niederließ, in dem vorhin Fräulein von Zahbern gesessen, sagte freundlich: »Mein liebes Kind – aber ich dächte fast, du hättest geweint; deine Augen sehen so verschwollen aus. Fehlt dir etwas?«

»Nichts, liebste Mutter, nur ein wenig Kopfschmerz hatte ich, und selbst den kaum mehr, denn seit der letzten Viertelstunde fühle ich mich um vieles leichter.«

»Desto besser, denn ich habe ein paar ernste Worte mit dir zu reden.«

»Liebe Mutter!«

»Graf Selikoff war vorhin bei mir, um Abschied zu nehmen. Er war auch vorher bei dir, und du weißt, daß er in Familienangelegenheiten nach Petersburg muß. Wie lange er sich dort aufhalten wird, hängt allerdings von Umständen ab; er hofft aber doch in sechs bis acht Wochen spätestens wieder zurück zu sein, und hat mich indessen freilich um mein Fürwort bei dir gebeten.« Melanie ließ die Hand mit der Nadel, die sie gehoben hatte, um in ihrer Arbeit fortzufahren, wieder sinken und sah still vor sich nieder, und die Mutter, die sie kurze Zeit beobachtete, fuhr mit langsamer, aber eindringlicher Stimme fort: »Ich brauche dir die Vorteile nicht auseinander zu setzen, die für dich wie für uns alle aus einer Verbindung mit einem so edlen und angesehenen Hause entstehen würden; Vorteile sollen auch keinen Einfluß bei meiner Tochter auf die Wahl eines Gatten haben, denn, Gott sei Dank, wir können und dürfen die höchsten Ansprüche machen und stehen keinem nach. Aber Selikoff ist auch ein liebenswürdiger und braver Mensch, mit dem eine Frau schon hoffen darf, glücklich und angenehm zu leben, und ich möchte dir die Sache hiermit warm und dringend ans Herz gelegt haben. Eine Zeitlang glaubte ich einmal – und ich meine sogar, ich hätte Ursache dazu gehabt – daß Graf Geyerstein sich um dich bewerbe, und daß du selber ihm nicht abgeneigt wärest. Ich hätte allerdings nicht das geringste gegen Geyerstein einzuwenden; er ist aus edlem Geschlecht, ein braver und wackerer Mann, und der Vater hat ihn besonders gern und hält große Stücke auf ihn, aber – Selikoff ist denn doch eine bessere und schicklichere Partie für dich, und ich habe mit Genugtuung gesehen, daß du selber so zu denken scheinst. Graf Geyerstein mag das auch wohl fühlen, denn er hat sich in letzter Zeit fast auffallend zurückgezogen.« Die Mutter schwieg eine kleine Weile, um die Wirkung zu beobachten, die ihre Worte auf die Tochter machen würden. Melanie aber erwiderte keine Silbe, regte sich nicht, und die alte Exzellenz fuhr fort: »Graf Selikoff hofft, daß er dir nicht ganz gleichgültig sei. Er hat – schüchtern, wie er ist – freilich noch nicht gewagt, dich selber darum zu fragen, er ist aber bei mir gewesen, und hat mich ohne Umschweife offen und ehrlich gebeten, ein Fürwort für ihn bei dir einzulegen, also förmlich und in aller Ordnung bei mir, der Mutter, um deine Hand geworben. Ebenso einfach und ohne Umschweife frage ich also dich jetzt, Melanie: willst du die Gattin des Grafen Selikoff werden.«

»Liebste, beste Mutter . . .«

»Laß mich eine einfache Antwort haben. Ja oder Nein; Selikoff selber hat dir noch Zeit mit der Antwort gelassen, bis er zurückkommt; nur für mich verlange ich sie, um darüber beruhigt zu sein; denn diese Ungewißheit reibt mich auf, und das vertragen meine Nerven nicht. Hast du etwas gegen ihn einzuwenden?«

»Nein!«

»Also darf er hoffen, daß du ihm deine Hand reichst, dich wenigstens mit ihm verlobst, sobald er zurückkehrt, denn die Vorbereitungen zu deiner Vermählung sind nicht so im Nu beendet, wie die jungen Leute gar nicht selten glauben. Also: Ja oder Nein?«

»Ja!« hauchte Melanie.

»Ich danke dir, mein liebes Kind,« sagte die Mutter mit einiger Rührung, denn sie freute sich, daß ein Lieblingsplan von ihr zur Wahrheit geworden war, und fühlte doch auch dabei, daß Melanie noch irgend etwas auf dem Herzen hatte, das nicht so ganz mit diesem Ja übereinstimmte, ihr also dadurch vielleicht ein Opfer brachte. Sie hütete sich aber wohl, danach zu fragen, denn sie fürchtete und haßte jede Aufregung. Die Hauptsache war überdies erledigt, und alles andere konnte nicht weiter in Betracht kommen.

»Meinst du da nicht vielleicht,« setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu, »daß wir dem armen Grafen ein paar Zeilen schreiben sollen, um ihn aus seiner Ungewißheit zu reißen?«

»Nein, ja nicht!« bat Melanie rasch.

»Ich meine nicht eine bestimmte Zusage; nur ein paar freundliche Worte, die ihm Hoffnung machen und seine Rückkehr zu uns vielleicht beschleunigen – wenn er sich überdies nicht schon genug beeilt, um seine Geschäfte zu beenden.«

»Nein, Mama – bitte, nein! Ich kann ihm nicht schreiben, ehe er selber bei mir um meine Hand geworben hat, und – ich möchte auch weiter keine Vermittlung in einer so wichtigen Sache haben. Er hat sich selber diese Frist gestellt, wir dürfen sie auf keinen Fall kürzen.«

»Du hast recht,« sagte die Exzellenz, »das sähe am Ende gar aus, als ob wir es nicht erwarten könnten. Übrigens scheint er fast einen Brief zu erhoffen, denn er hat mir seine Adresse in Petersburg dagelassen.«

»Kehrt er zurück,« sagte Melanie, »so ist es früh genug, und ich selber brauche die Zeit, mich zu sammeln und – darauf vorzubereiten. Es ist ein wichtiger Schritt, den ich zu tun gedenke – ein Schritt, von dem es keinen Rückweg gibt. Laß mir, liebe Mutter, die mir dazu gegönnte Zeit ungeschmälert, damit ich mich nicht vorher schon als gebunden zu betrachten brauche – versprich mir das.«

»Von Herzen gern, liebes Kind; guter Gott, die kurze Zeit wird überdies so rasch verlaufen, daß man am Ende gar nicht weiß, wo sie geblieben ist, und ich habe noch so erstaunlich viel zu tun! Jetzt mach' mir aber auch kein so trauriges Gesicht mehr; das ist kein Gesicht, wie es sich für ein glückliches Bräutchen schickt. Apropos, ich habe der Rosalie zu ihrem Geburtstage heute Gesellschaft gebeten – ihre gewöhnlichen Spielkameraden und Freundinnen aus der Tanzstunde. Komm später ein wenig zu uns hinüber, das wird dich zerstreuen.«

»Weiß Papa darum?« fragte Melanie, ihre Augen zu der Mutter hebend.

»Um die Kindergesellschaft? – Ja so, du meinst Selikoffs Antrag? – Nein, er war nicht zu Hause. Es wird ihm nicht so ganz recht sein; ich weiß, er hat sich zu deinem Gatten einen andern ausgedacht, aber er schätzt den jungen Russen doch auch sehr; er weiß, wie gern ihn der Fürst hat, und ist außerdem ein viel zu guter Vater, als daß er deinem Willen Zwang antun sollte. Also beruhige dich darüber nur vollkommen; ein Einspruch von seiner Seite ist nicht zu befürchten. – Aber ich sitze hier und schwatze und schwatze, und drüben warten eine Menge Geschäfte auf mich. Also adieu, meine liebe Melanie, adieu. Sei wieder freundlich – nicht so ernst, mein liebes – glückliches Bräutchen!« Und die Tochter umarmend und küssend, nickte sie ihr noch einmal zu und verließ dann rasch das Zimmer.

 


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