Friedrich Gerstäcker
Der Flatbootmann
Friedrich Gerstäcker

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8. Salomo

Momentan hatten sie allerdings gar nichts für ihre Sicherheit zu fürchten. Sally war weiß genug, um in keinem, der sie nicht persönlich kannte, auch nur den Verdacht aufkommen zu lassen, daß Negerblut in ihren Adern fließe. Nur an den Fingernägeln bleibt gewöhnlich bei den Quadroonen noch ein matter, dunkler Schein, verräterisch die Abstammung zu künden. Aber selbst das war so unbedeutend, daß es nur dem genauen Beobachter aufgefallen wäre, während Sally das selber wußte und sich wohl davor hüten konnte.

Jack aber, trotz der furchtbaren Anstrengung der letzten Nacht, trotz der Aufregung, in der er sich fortwährend befunden, konnte selbst nicht schlafen. Zum erstenmal, zwischen all den fremden Menschen, in deren Gewalt er sich rettungslos befand, sowie sie nur das am letzten Tag Geschehene geahnt, wurde ihm die Gefahr klar, der er sich ausgesetzt. Solange die Aufregung selber dauerte, hatte diese kein anderes Gefühl in ihm aufkommen lassen, als das, seinen Verfolgern zu entgehen. Jetzt aber, in dem Zustand von Ruhe, den er genoß, mit keiner unmittelbaren Gefahr mehr, die ihn bedrohte, kühlte sich sein Blut auch ab, und er begann zum erstenmal zu überlegen. Mitten in den Sklavenstaaten, in diesem Augenblick sogar noch weiter und weiter auf dem flüchtigen Boot gegen Süden schnaubend, war er auch jede Stunde der Gefahr ausgesetzt, daß irgend jemand das Mädchen erkenne oder Verdacht über ihre Abkunft schöpfe. Entweder mußte er sich dann von ihr lossagen oder – Rechenschaft von ihr geben, das eine aber wollte, das andere konnte er nicht, und einmal erst den Verdacht auf sich gelenkt, war er verloren. Der morgige Tag mußte ebenfalls die glückliche Flucht wie den Mord des Aufsehers aufdecken, und wenn er sich über den letzteren auch nicht die geringsten Gewissensbisse machte, wußte er doch recht gut, daß ein entsetzlicher Lärm darüber entstehen werde und die Zeitungen so rasch als irgend möglich die Tatsache, mit der genauen Beschreibung des flüchtigen Mädchens, verbreiten würden.

Zu keiner Zeit war dabei in den südlichen Staaten die Aufregung gegen den Norden größer gewesen als gerade jetzt; zu keiner Zeit hatten die Sklavenhalter ihre vermeintlichen Rechte unnachsichtlicher überwacht als in den letzten Monaten. Mit furchtbarer Strenge waren alle Neger, gegen die nur der geringste Verdacht vorlag, meuterische Absichten zu hegen, bestraft worden; mit dem größten Eifer hatte man alles verfolgt, was nur mit dem Abolitionistentreiben im Norden in der geringsten Verbindung stehen konnte, und Versammlungen waren fast in allen größeren Städten des Südens abgehalten worden, um einander in dieser Hinsicht mit allen nur zu Gebote stehenden Kräften zu unterstützen. Das alles hatte er schon vor ihrer Abreise im Norden gehört, und die Warnung des Alten, sich um Gottes willen in acht zu nehmen, daß er nicht gehängt würde, fiel ihm in diesem Augenblick mit aller Schärfe wieder ein.

Keinesfalls gedachte er weiter den Strom hinabzugehen als irgend nötig, und schon mit Tagesanbruch bot sich ihm eine passende Gelegenheit, einen Landeplatz zu finden. Der einzige Schutz, den er vorderhand erwarten konnte, war, wie er recht gut wußte, nur in einer großen Stadt, und als er von einem der Bootsleute hörte, daß sie etwa mit Sonnenaufgang Natchez, die bedeutendste Stadt in Mississippi, erreichen würden, beschloß er, dort mit seinem Schützling an Land zu gehen. Noch konnte die Nachricht der entflohenen Sklavin nicht hierhergelangt sein, und jeden Tag, ja oft drei-, viermal des Tags hatte er in einer solchen Stadt Gelegenheit, ein stromaufgehendes Boot zu benutzen.

Mit Tagesanbruch kam der Buchführer aus seiner Kajüte herunter, die in Natchez ausgehende Fracht wie etwa das Boot verlassende Passagiere zu revidieren. Diesem meldete er sich vor allen Dingen, seine Passage zu zahlen und sein Billett zu lösen, um keine Unannehmlichkeiten zu haben.

»Hallo«, sagte dieser erstaunt, als er ihm sein Anliegen vortrug, »wo seid Ihr an Bord gekommen?«

»An der letzten Landung, da, wo Ihr Holz eingenommen habt«, erwiderte Jack, der recht gut wußte, daß nicht die mindeste Gefahr für ihn in der Wahrheit lag, »ich war mit meiner Frau oben bei meinem Bruder zu Besuch und will jetzt wieder nach Hause zurück. Ich wohne in Natchez.«

»Ahem«, brummte der Buchhalter, der darin nichts Außerordentliches sah, denn Ähnliches geschah alle Tage. »Also Passage für Euch und Eure Frau?«

»Für uns beide.«

»Na, zahlt zwei Dollar zusammen«, lautete die Antwort, »von Vicksburg hättet Ihr drei zu zahlen gehabt.«

Das Geld wurde gezahlt, Jack bekam seinen Zettel und weckte jetzt Sally, die Landung nicht zu versäumen. Ungehindert erreichten sie auch das Land, wo Jack gleich unten am Hügel ein deutsches Kosthaus aufsuchte, um jeder Möglichkeit zu begegnen, irgendeinen Bekannten dort zu treffen. Das war bald gefunden, denn vier oder fünf solche lagen dicht beisammen. Die einzige Schwierigkeit blieb, ein kleines Stübchen allein zu bekommen, aber auch das gelang endlich, und, die Entflohene solcherart in Sicherheit gebracht, erwartete er mit peinlicher Ungeduld das nächste, stromauf gehende Boot und – es kam keins! Den ganzen Tag stieg er den Natchezer Hügel auf und ab, den Strom hinabzugehen – so viele Boote sonst den Strom befahren und so vielen sie selbst unterwegs begegnet waren, heute schien der Fluß wie ausgestorben, und wenn ja der puffende Dampf eines derselben laut wurde, kam es auch sicher stets den Strom herab.

Die ganze Nacht blieb er solcherart auf der Lauer, nur dann und wann das arme Mädchen beruhigend, das in tödlicher Angst jetzt fast verging. Die Zeit verfloß, und mit der Schnelle, mit der sich in Amerika solche Nachrichten verbreiten, war jeden Augenblick zu befürchten, daß ihnen nachgeforscht würde.

In solcher furchtbaren Aufregung befand er sich zuletzt, daß er, wo er nur zwei zusammen heimlich sprechen sah, wo nur ein fragender oder selbst gleichgültiger Blick ihn traf, sein Herz rascher zu klopfen anfing und er sich oft fast selbst verraten hätte. Endlich – endlich, wie die aufsteigende Sonne die auf dem höchsten Gipfel gelegenen Häuser vergoldete und aus den blanken Fensterscheiben ihr Licht widerspiegelte, kam einer der breiten, mächtigen Dampfer, die besonders zwischen New Orleans und Saint Louis ihre regelmäßigen Fahrten haben, stromauf. Alle diese legen dabei in Natchez an, um Passagiere zu wechseln und auch Fracht auszuladen, vielleicht auch für den Norden zu nehmen.

War übrigens Kunde von dem Geschehenen nach Natchez gekommen und spürte man hier den Flüchtigen nach, so wußte Jack recht gut, daß an der Bootslandung Konstabler postiert sein würden, die aus- oder eingehenden Passagiere zu mustern. So keck und mutig er dabei jeder wirklich gekannten Gefahr entgegenging, so lähmend wirkte diese unbestimmte auf ihn ein. Die Ungewißheit, in der er schwebte, hatte ihn ganz zermürbt, und als er zu Sally ins Zimmer trat, sie abzuholen, sank das Mädchen zitternd in die Knie, denn sein totenbleiches Gesicht ließ sie das Schrecklichste ahnen.

»Wir sind entdeckt?« rief sie und barg das Antlitz in den Händen. »Oh, verheimlicht es mir nicht – die Verfolger sind auf unserer Spur!«

»Aber, Kind, wie du mich erschreckt hast!« sagte der Mann und fühlte, wie ihm selber die Knie zitterten.« Und sprich auch nicht so laut – die Wände hier sind dünn, und ein solches Wort, dem falschen Ohr zugetragen, könnte uns allein schon verderblich werden. Nein, komm; noch ist nichts geschehen, daß mich etwas Derartiges könnte ahnen lassen; aber – wir selber müssen auch den Kopf oben tragen. Es darf uns niemand ansehen, daß wir uns selber nicht sicher fühlen, und dann, hoffe ich, kann noch alles gutgehen. Den Kopf also in die Höh', mein Mädchen; daß du einen entschlossenen Charakter hast, beweist schon deine Flucht, und führe das jetzt durch, was du begonnen. Nur wenige Tage noch, und wir sind in Sicherheit.«

»So kommt«, sagte das Mädchen, sich gewaltsam zusammennehmend. »Ihr habt recht und – Ihr sollt mit mir zufrieden sein.«

Jack sah die lieben, von Tränen schwimmenden Augen lächelnd zu sich aufgeschlagen, und es war, als ob mit diesem Blick der alte frische Mut in sein Herz zurückgekehrt sei. Die eigene Gefahr hatte er vergessen, und mit der Sorge um das holde Wesen, das seinem Schutz sich willenlos überlassen, fühlte er auch die Kraft in sich, das Begonnene durchzuführen. Den Schwachherzigen selbst überkommt ein eigenes, sonst nicht einmal gekanntes Bewußtsein von Stärke, eine festere Zuversicht, wenn er noch einen Schwächeren, seiner Hilfe vertrauend, zu sich aufblicken sieht. Wieviel mehr denn mußte ein solches Gefühl den jungen tatkräftigen Mann erheben, der, an Gefahren von Jugend auf gewöhnt, nur in der zögernden Gefahr einen Augenblick gewankt. Seine Hand umspannte fester die treue Waffe, die er wieder auf der Schulter trug, und als das Mädchen jetzt an seiner Seite zum Boot hinabschritt, schaute er fest – doch trotzdem heimlich forschend – ringsumher.

Aber nur fremde, gleichgültige Gesichter waren es, die ihm begegneten, und durch das wilde Drängen einer Menge von Müßiggängern hin, die stets ein anlegendes Boot belaufen, durch Kofferträger und das Boot verlassende Passagiere bahnte er sich, mit dem Mädchen an der Hand, mühselig den Weg an Deck.

Übrigens hatte er keine Vorsicht versäumt und die Zeit, die ihm in Natchez geblieben war, vortrefflich genutzt, seinen Schützling durch nichts auffällig zu machen. Das etwas zu weite Kleid der alten würdigen Mrs. Poleridge war mit einem passenden vertauscht worden, ein neues Bonnet schützte ihr Gesicht gegen die Sonnenstrahlen sowohl wie den neugierigen Blick der Menge, und leichte Handschuhe verhüllten die verräterische Farbe der Nägel.

War es den beiden dann auch am Anfang noch ein unbehagliches Gefühl an Bord, ehe sie ihre sämtlichen Mitpassagiere gemustert und sich überzeugt hatten, daß nur Fremde sie umgaben, so wich das doch bald einer größeren Sicherheit. Nur jetzt erst einmal die Plantage hinter sich und aus der unmittelbaren Nähe ihrer gefährlichen Feinde, und alles Schwere war dann überstanden. Allerdings hatte Jack gehofft, schon am vorigen Abend ein stromauf gehendes Boot zu finden, wo sie dann in der Nacht jene ihnen gefährliche Gegend passiert und mit Tagesanbruch weit hinter sich gelassen hätten. Derartige große Boote, wie das war, auf dem sie sich jetzt befanden, legen aber nur selten unterwegs an einzelnen Plantagen an. Dadurch verringerte sich ihre Gefahr; was ihnen aber auch drohte, sie mußten den Weg hier zurücklegen, um rasch in freies Land zu kommen.

Die ›Queen of the West‹, wie der Dampfer hieß, arbeitete indessen mit voller Kraft gegen die starke Strömung des Mississippi an, und während sich Sally ein dunkles Eckchen im Zwischendeck gesucht, ging Jack hinaus auf das Vorderdeck, um die dortigen Leute zu mustern.

Vom Vorderdeck nieder stieg jetzt ein älterer Herr, der auf der nächsten Plantage an Land gesetzt sein wollte. Die Kajütenwärter trugen sein Gepäck hinter ihm her; die ›Deckhands‹ oder Matrosen hatten indessen das Boot längsseits geholt, das er bestieg und an Land gerudert wurde. Indessen arbeitete die Maschine nur langsam gegen den Strom an, eben genug, um nicht zurückgetrieben zu werden, und das gewaltige Boot lag ziemlich still auf dem Wasser.

Eine kleine Flotte von Flatbooten kam indessen mit der Flut herab, und die Leute an Bord arbeiteten aus Leibeskräften, dem Dampfer auszuweichen, der nicht gut weiter nach dem Land zu hinüberhalten konnte. Die ›Queen of the West‹ ging wenigstens siebzehn Fuß im Wasser, und das Ufer schien nach dort zu ziemlich seicht.

Jack hatte mit dem eigenen Interesse, das er für diese Boote fühlte, sie rasch gemustert. Freilich war es schwer, sie untereinander zu kennen, da sie – alle gleichmäßig von ungehobelten Planken nach einer Form zusammengenagelt – sich nur hier und da in der Größe etwas voneinander unterscheiden. Auch die Mannschaft derselben geht ziemlich gleich, an Bord nur einfach in Hose und Hemd gekleidet, und wenn nicht manchmal eins oder das andere absichtlich einen weißen oder roten Streifen um das Boot herum malt oder eine kleine Flagge führt, sind sie sehr schwer auseinanderzuhalten.

Auf dem vordersten, das jetzt rasch herabkam, stand allerdings eine Figur am Steuer, die von weitem dem alten Poleridge glich. Das Boot selber trug einen weißen breiten Streifen und keine Fahne; es war also nicht das seine. Jacks Blick flog schon nach den anderen hinüber, als ein kleiner Hund auf dem ersten sichtbar wurde, der gegen das schnaubende Dampfboot anbellte.

»Der Dackel! »rief Jack fast unwillkürlich laut aus, und im Nu hatte er die alten Kameraden, hatte er seinen alten Kapitän erkannt.

»Hallo, das Boot!« rief er vom Vorderdeck jubelnd aus, und Poleridge, der das Hinterteil seines Fahrzeugs eben mit aller Kraft herumgeschoben und sich die Passage an dem Dampfer vorüber freigemacht hatte, drehte sich rasch nach dem Ruf um.

»Hallo, wie geht's an Bord?« rief ihnen da Jack, auf die niedere Brüstung springend, hinüber. »Alle wohl?«

»Jack! Soll mich der Teufel holen! »schrie Bill.

»Jack! »jubelte aber auch der Alte, der ihn ebenfalls erkannt, seine Mütze nach ihm hinüberschwenkend. »Hurra, Junge, alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung!« schrie Jack zurück, während das Boot rasch vorübertrieb.

»Das ist brav – das ist brav«, nickte der alte Mann, und es war fast, als ob Bill in ein »Hurra« ausbrechen wolle. Wenn das aber wirklich der Fall gewesen, besann er sich zur rechten Zeit, und alle schwenkten die Hüte dem Dampfer zu. Der Alte hatte aber indessen etwas unter Deck hineingerufen, und plötzlich erschien auch die würdige Mrs. Poleridge mit dem halben Körper über Deck. Zum Rufen waren sie schon zu weit, aber zum Grüßen schwenkte sie ein altes, in der Eile aufgegriffenes baumwollenes Tuch und ruhte nicht und wedelte damit, bis der Dampfer anbrauste. – In wenigen Minuten waren die Boote außer Sicht. Ein paar der Bootsleute hatten zugesehen, wie die Mannschaft des Flatboots den Passagier so jubelnd grüßte. Das aber kam alle Tage vor. Alle diese Burschen schwimmen auf solchen Fahrzeugen den Fluß mit der Strömung nieder und kehren dann mit dem nächsten Dampfer stromauf in ihre Heimat zurück. Daß sich da alte Bekannte, die sich zufällig solcherart wiederfinden, begrüßen, ist natürlich. Jack aber war in mehr als einer Hinsicht über das Begegnen froh. Einmal freute es ihn, den alten Kameraden noch ein letztes Lebewohl zurufen zu können; dann aber gab ihm die Sicherheit des Boots auch die Gewißheit, daß es nicht weiter verfolgt oder, wenn verfolgt, nicht entdeckt war. So konnte es also auch nicht über den Schutz zur Rechenschaft gezogen worden sein, den es der flüchtigen Sklavin an jenem Abend, wenn auch nur für kurze Zeit, gewährte.

Um ganz sicherzugehen, hatte der alte Poleridge übrigens seine Flagge eingezogen und um sein ganzes Boot den weißen Streifen gemalt. Ein Wiedererkennen unter den hundert ähnlichen, die überall den Fluß befuhren, war also fast unmöglich, wenigstens entsetzlich schwierig. Er schien sich übrigens trotzdem dort oben nicht lange aufgehalten zu haben und machte jedenfalls, daß er aus dem Bereich der dortigen Pflanzung kam. Weiter unten hatte er für sich nichts mehr zu fürchten; wußten doch die Verfolger, daß die Negerin das Boot wieder verlassen hatte.


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