Friedrich Gerstäcker
Der Flatbootmann
Friedrich Gerstäcker

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5. Die Abfahrt

»Hallo«, rief Bill, der oben mit einem der Kameraden etwa hundert Schritt vom Boot entfernt auf der Levée saß, »was war das? Klang das nicht wie das Zeichen des Alten?«

»Der Teufel wird ihn doch nicht plagen, daß er den alten Kasten noch heut abend in den Strom hinausschieben will?« sagte ein anderer.

»Dem ist alles zuzutrauen«, meinte Bill, »aber dann... Wahrhaftig, da ist der zweite Pfiff!« unterbrach er sich rasch emporspringend. »Jungens, da muß was vorgefallen sein, und wir wollen machen, daß wir an Bord kommen.«

Die Bootsleute zögerten auch nicht lange und hatten kaum den Fuß an Deck gesetzt, als der Alte mit seiner gewöhnlichen Ruhe sagte:

»Seid ihr alle da?«

»Ich denke, ja«, meinte Bill.

»Wo ist Jack?«

»Hier, Sir.«

»Gut – Planke ein...«

»Wollen wir fort?«

»Jawohl, mein Herz.«

»Jetzt wird's aber schon dunkel«, meinte Tom, einer der Leute, »und bei Nacht und Nebel werden wir wahrscheinlich auf das Holz da unten rennen.«

»Bill, kannst du die Leine an dem Stamm da oben festbringen?« sagte der Alte. »Nimm das Kanu – hier wirst du wohl gegen die Strömung aufkommen. Du tust mir aber einen Gefallen, wenn du dich ein wenig beeilst.«

»Kann ich? Gewiß, kann ich!« sagte Bill, dem es ordentlich unheimlich vorkam, daß ihn der Alte um etwas bat. Im Nu griff er auch die Leine auf, warf sie in das Kanu hinein, dessen Seil der Alte löste, und ruderte im nächsten Augenblick schon dem ihm bezeichneten Stamm zu, der etwas weiter im Strom draußen und höher, als sie sich befanden, festgeschwemmt saß. Es kostete allerdings einige Mühe, das schwankende Kanu gegen die starke Strömung zu stemmen. Bill war aber ein kräftiger Bursche und gewandter Ruderer und erreichte nach kurzer Arbeit einen der Äste, an dem er sich jetzt leicht hinaufziehen konnte. Sowie er den Stamm erreichte, schlug er das mitgebrachte Tau darum, und das andere Ende an seinem Kanu befestigend, war er mit wenigen Ruderschlägen wieder an Bord zurück. Die ganze Mannschaft hängte sich jetzt an das Tau. Das vom Ufer freie Boot wurde gegen die Strömung an- und mehr hinausgezogen, bis es außer aller Gefahr von dem unterhalb liegenden Holz war, dann stellten sich die Leute alle wieder an ihre Plätze, und während sich Bill mit dem Kanu rasch wieder an dem Tau hinaufzog, bis wo es befestigt war, löste es der Alte von Bord ab.

»Jetzt alle zusammen!«

Die ausgehobenen Ruder fielen zusammen ein, das Steuer knarrte, als es den breiten Bug herumwarf, und während Bill schon wieder mit der eingeholten Leine zurückkam und rasch an Bord kletterte, nahm die Strömung das schwere Boot mit hinaus in das offene Fahrwasser, in dem sie jetzt schnell und gefahrlos dahinglitten.

Zu gleicher Zeit sah übrigens der Alte, der mit seinen Augen das Ufer überflog, wie ein Reiter die Levée hinab der Plantage zusprengte. Der Aufseher war es nicht, es konnte möglicherweise der Konstabler sein, und er wandte sich langsam pfeifend und mit einem spöttischen Lächeln auf den schmalen Lippen dem Strom wieder zu.

Die Nacht brach allerdings jetzt ein, und von den Häusern der Pflanzer, an denen sie vorüberglitten, schimmerten ihnen schon einzelne Lichter entgegen.

Der Mond goß aber dafür sein helles Licht auf sie herab, und wenn sie sich nur aus der Nähe des Ufers hielten und keinen Nebel bekamen, konnten sie recht gut hier unten die Nacht durch unterwegs bleiben. Hier durften sie übrigens die langen, schweren Ruder noch nicht ruhen lassen, da die Strömung nach dem eben verlassenen rechten Ufer hinübersetzte und einige hundert Schritt weit, unterhalb der Plantage, eine scharfe niedere Landspitze vorsprang. Die aber einmal passiert, hatten sie auch nicht das geringste mehr zu befürchten, und breit und offen lag ihre Bahn dann mitten im mächtigen Mississippi hin.

Die Leute wußten das auch recht gut schon selber, denn sie waren alle lange genug auf dem Strom gefahren, um den sich ziemlich gleichbleibenden Charakter desselben zu kennen. Mit bestem Willen legten sie sich deshalb in die schweren Ruder, während der Steuernde den Bug fast ganz vom Land abhalten mußte.

Jack war natürlich ebenso rasch wie die anderen dem Zeichen an Deck gefolgt und hatte dort, was ihm oblag, mit bestem Willen verrichtet. Während sich die Kameraden aber bei ihrer Arbeit lebhaft miteinander unterhielten, sprach er kein Wort und blickte nur stumm und traurig nach den Gebäuden hinüber, an denen ihr Boot jetzt vorbeiglitt. Dort konnte er den Garten wiedererkennen, die düstere Baumgruppe bezeichnete den Platz, an dem die Unglückliche heute gepeitscht worden – in einer jener kleinen, niederen Hütten, die selbst jetzt mit ihren hellen Mauern durch die Dunkelheit zu ihnen herüberschimmerten, lag sie, von Schmach und Qual das Herz gebrochen – eine Sklavin, der Willkür der Tyrannen preisgegeben. Aber Sklavinnen werden von ihren Herren auch verkauft – wie nun, wenn er selber sein kleines Besitztum daheim veräußerte, zu Geld machte, was ihm gehörte, und sie befreite? Wie ein Messer stach ihm der Gedanke plötzlich durch das Herz, und die Glieder zitterten ihm ordentlich in dieser so jäh auftauchenden, neu gezeigten Hoffnung. Wenn er vor sie treten und sie als sein Eigentum – nein, frei – in die Welt hinausführen und das arme mißhandelte Kind zum erstenmal in ihrem Leben glücklich sein durfte.

»Paß auf, Jack, paß auf!« rief ihm der Alte da vom Steuer aus mahnend zu und weckte ihn aus seinen süßen Träumen.« Du vergißt ja das Rudern, Mann. Wenn wir erst an der Spitze dort vorüber sind, könnt ihr euch ausruhen, soviel ihr wollt.«

Jack erschrak ordentlich und legte sich wieder mit aller Kraft in das Ruder, daß sich das elastische Holz unter seinem Gewicht bog. Der Alte aber sah schon nicht mehr nach ihm hin; sein Auge haftete an einem hellen Gegenstand, der sich vom dunklen Ufer loszulösen schien.

»Da kommt ein Kanu oder Boot auf uns zu«, sagte da Bill, der zunächst dem Alten sein Ruder mit der Schulter vorwärtsdrückte, »dort gleich über der Spitze, Kapitän.«

»Ich hab' es schon gesehen, Bill«, erwiderte dieser, »möchte nur wissen, was sie wollen. Etwa zu uns herüber?« Vom Ufer ab schoß jetzt ein kleines, schmales Kanu gerade auf sie zu, und Bill sagte halblaut: »Verdammt will ich sein, wenn da nicht ein einzelnes Weib drinsitzt!«

Auch die übrigen Leute waren jetzt aufmerksam darauf geworden, durften aber nicht mit dem Rudern aufhören, da sie sich fast dicht an der Landspitze befanden – nur noch ein Büchsenschuß, und sie waren vorüber, während die hier gerade sehr starke Strömung sie reißend schnell darauf zu führte. Das Kanu war indessen dicht vor ihrem Bug vorbeigefahren; vergebens schauten sie sich aber auf der anderen Seite danach um – es kam dort nicht wieder zum Vorschein, und der Alte durfte sein nach rechts hinübergedrücktes Steuerruder nicht verlassen, um zu sehen, was daraus geworden wäre.

Jetzt passierten sie glücklich die Landspitze, die kaum fünfzig Schritt an ihrer Rechten liegenblieb. Ein Reiter hielt dort an – sie konnten die Gestalt des Pferdes und des Mannes darauf auf dem hohen Damm gegen den helleren Himmel deutlich erkennen. Er winkte mit dem Arm und rief etwas herüber, aber die Worte verstanden sie nicht.

»Was sagt er?« fragte Bill, zum erstenmal jetzt das Ruder ruhenlassend, indem er sich nach dem Alten umdrehte und den Schweiß von Stirn und Nacken trocknete.

»Weiß nicht«, brummte dieser, mit dem Kopf schüttelnd, »ist auch gleichgültig. Wenn er uns hätte etwas sagen wollen, konnte er früher kommen, wie wir noch am Land waren. Jetzt ist's zu spät, und in einer Viertelstunde sind wir mehr drüben an der anderen Seite und in einem anderen Staat. Da drüben ist doch noch Mississippi, nicht wahr, Bill?«

»Gewiß«, sagte der Bootsmann, »noch wenigstens für dreißig oder vierzig Meilen. Aber was ist aus dem Kanu vorhin geworden?«

Der Alte hatte das Kanu fast ganz vergessen; jetzt aber, da er sein Steuerruder über den anderen Bug drückte, kam er auch damit mehr an die linke Seite seines Boots und sah über Bord.

»Alle Wetter!« brummte er dabei. »Da liegt es – dicht unter dem vorderen Ruder längsseits. Was ist nun wieder im Wind, und wer sitzt drinnen?«

Er hatte allerdings recht. Das Boot lag dicht an der Stelle des Flatboots an, und eine helle Gestalt kauerte darin, rührte sich aber nicht und hatte mit der Hand nur den vorderen niederen Ausbau oder Bug des Boots erfaßt, an dem sie sich festhielt:

»Hm«, sagte Bill, der ebenfalls hinübersah, »das ist am Ende jemand, der ans andere Ufer oder ein Stück stromab will und hier bequeme Passage nimmt. Ich will aber gehängt werden, wenn's nicht wie ein Frauenzimmer aussieht.« Die übrigen waren jetzt ebenfalls an den Rand des Boots getreten, und Jack, der gerade über dem Kanu stand, zuckte, wie vom Blitz getroffen, zusammen. Die Gestalt im Boot war allerdings eine weibliche, aber der helle, ihm zugedrehte Rücken zeigte dunkle Flecken – heiliger Gott! Wenn jenes Mädchen... Kaum seiner Sinne mächtig, sprang er vorn in den Bug hinab, wo er den Vorderteil des Kanus erreichen konnte, ergriff ein in diesem liegendes kurzes Tau, das zum Anhängen desselben benutzt wurde, und befestigte es sicher an Bord. Jetzt, da keine Gefahr mehr war, daß es abgleiten konnte, fragte er laut:

»Wer ist da drinnen? Wollt Ihr zu uns an Bord?«

Da hob das Mädchen das bleiche, vom Mond jetzt hellbeschienene Angesicht empor und flüsterte mit bittender, zitternder Stimme:

»Oh, verratet mich nicht – rettet mich, rettet mich um des Heilands willen!«

»Was ist da los?« sagte in diesem Augenblick der Alte, der sein Steuer an Bill gegeben hatte und nach vorn kam. Auch Mrs. Poleridge hatte die klagende Mädchenstimme gehört und kam mit zurückgeschobenem Bonnet, den eben gebrauchten Kochlöffel noch in der Hand, auf den Vorbau heraus, um zu sehen, wer da gesprochen.

»Jesus!« hauchte der junge Bursche und konnte den Blick nicht von dem bleichen, zu ihm aufgehobenen Gesicht abwenden.

»Ein weißes Mädchen«, rief da Mrs. Poleridge erstaunt, »und allein hier bei Nacht und Nebel in einem Kanu. Aber so helft ihr doch ins Boot, Jack! Steht der Mann nicht da, als ob er den Gebrauch seiner Glieder verloren hätte und nicht bis drei zählen könnte?«


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