Friedrich Gerstäcker
Der Flatbootmann
Friedrich Gerstäcker

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3. Die Alligatoren

Es war ein wundervoller Morgen. Die Sonne brannte allerdings ein wenig heiß, doch bot das kleine Orangendickicht, das bis zum Fahrweg niederlief, erfrischenden Schatten, und der wunderbare Duft der Blüten erfüllte die Luft, während daneben die reifen Früchte in dem dunkelglänzenden Laub ordentlich funkelten und zum Genuß einluden. Jack pflückte sich hier vor allen Dingen ein halbes Dutzend, legte sich damit unter einen der Bäume und sog mit außergewöhnlichem Behagen den Saft derselben ein. Oben in den Städten am Ohio hatte er allerdings schon Apfelsinen zu Hunderten gegessen, es kam ihm aber so vor, als ob ihm noch nie eine so gut geschmeckt wie die, die er sich hier selber von den prachtvollen Bäumen abschlagen konnte. Das wurde er aber bald müde und sehnte sich jetzt danach, auch den Wald dieser Gegend kennenzulernen.

Für den wirklichen Jäger hat nämlich nichts einen so wunderbaren Reiz, als zum erstenmal einen fremden Wald zu betreten, in dem man doch noch dazu erwarten darf, fremdes Wild zu finden. Freilich hatte er schon weiter oben am Strom gehört, daß es mit den Hirschen da unten sehr spärlich bestellt sei und es der Mühe nicht verlohne, im Sumpf nach ihnen zu jagen. Dafür gab es hier genug Alligatoren und doch wohl auch manches andere Getier, das zu sehen ihn freute. Jedenfalls wollte er sich den Sumpf einmal in der Nähe betrachten, denn Zeit hatte er genug.

Ein schmaler, an beiden Seiten durch Fenzen begrenzter Fahrweg führte unfern davon gerade darauf zu, und Jack, der den Dackel erst über die Fenz heben mußte, schlenderte, mit dem kleinen Hund an seiner Seite, langsam darauf hin. Mrs. Poleridge hatte ganz recht gehabt: Jack war wirklich zum erstenmal in ›Südamerika‹ und alles hier eigentlich eine andere Welt für ihn. Das wunderliche, von den Bäumen in langen Festons niederhängende graue Moos, den sogenannten ›Spanischen Bart‹, hatte er allerdings schon weiter oben am Strom gesehen; ebenso die sonderbar gestalteten, schlanken Zypressen mit ihren pyramidenähnlichen Wurzeln. Aber schon die weiten, schattenlosen Baumwollfelder, in denen hier und da kleine Negertrupps verschiedenartig beschäftigt arbeiteten, waren ihm in dieser Ausdehnung neu, und die ungeheuren, von allen Baumstümpfen freien, trefflich urbar gemachten Felder interessierten ihn sehr.

»Das ist freilich keine Kunst«, brummte er vor sich hin, indem er den Blick nach rechts und links hinüberschweifen ließ, »wenn wir ein paar hundert arme schwarze Teufel bei uns so wollten arbeiten lassen, ohne ihnen einen Cent Lohn zu zahlen, könnten wir auch solche Maisfelder haben. Ich wollte aber einmal sehen, wie das Land hier ausschauen sollte, wenn die weißen Faulenzer es selbst bearbeiten müßten. Verdammt will ich sein, wenn ich glaube, daß sie einen einzigen Ballen Baumwolle auf den Markt brächten! Und was für Boden haben sie hier – lauter Prachtland, wo der Pflug nur so durchläuft – und düngen dazu mit Schweiß und Blut – da soll's wohl wachsen! Kann mir aber nicht denken, daß ein Mensch Freude daran haben soll, solch ein Feld aufkeimen und reifen zu sehen – ich wenigstens möchte meine Hände nicht damit besudeln.«

Die Sonne brannte auf den schattenlosen Pfad fast sengend nieder, und der junge Bursche schritt schärfer aus, um den schützenden Waldesschatten bald zu erreichen. Für so gering er die Entfernung aber am Anfang gehalten, so weit dehnte sie sich aus, da er sie nach Schritten messen mußte, und er war eine reichliche halbe Stunde marschiert, ehe er die letzte Fenzecke gewann.

Hier hatte er erst noch einen nicht mehr breiten Wiesenplan mit kleinen, einzeln zerstreuten Büschen vor sich, dem sich rechts ein teichähnlicher, mit Wasser gefüllter Sumpf anschloß, während den Hintergrund der düstere, dichtverwachsene Wald bildete. Die Büsche lebten ordentlich von kleinen Singvögeln, besonders von den sogenannten Mockingbirds, die nachts ihren lieblichen Gesang hören lassen und die hier überall ihre Nester hatten. Er hielt sich aber doch nicht lange zwischen ihnen auf, sondern ging, so rasch er konnte, auf die nächste Waldecke zu, deren äußerste Bäume bis dicht an das Wasser liefen, um sich dort erst einmal vor allen Dingen auszuruhen und wieder abzukühlen. War doch selbst sein Büchsenlauf in der brennenden Sonne so heiß geworden, daß er nicht einmal mehr die Hand darauf leiden konnte.

Auch der Dackel schien entsetzlich müde geworden zu sein und lechzte nach Wasser. Der kleine Hund mit seinen kurzen Beinchen war an Bord allerdings ein ruhigeres Leben gewöhnt und mochte jetzt auch wohl schon bereuen, mit seinem langbeinigen Freund eine solch entsetzliche lange Tour unternommen zu haben. Er blieb wenigstens sehr häufig stehen und sah zurück, als wenn er es sich eben nur überlege, ob er nicht selbst jetzt noch wieder umkehren solle. Der Weg zurück, und noch dazu allein, mochte ihm aber auch langweilig vorkommen; überdies sah er vor sich den Wald, witterte auch vielleicht das Wasser dort und folgte zuletzt immer wieder seinem selbstgewählten Herrn und Begleiter.

Jack hatte sich am Fuß einer riesigen Zypresse lang ausgestreckt, und der Dackel nahm indessen dicht neben ihm ein Bad, das ihm außerordentlich zu behagen schien. Dabei zog er aber fortwährend die Luft ein, die von dem Sumpf herüberwehte, und als er wieder an Land gekommen war, lief er noch immer am Ufer auf und ab und windete nach dem Wasser hinüber, von wo aus ihm jedenfalls irgendein Stück Wild in der Nase stak. Der Hund war ganz vortrefflich auf der Jagd, besonders auf einer Fährte, und zeigte etwas Derartiges nicht umsonst an. Jack blickte auch aufmerksam ringsumher, besonders gegen den schwachen Luftzug an, ob er dort in der Gegend irgend etwas Lebendiges erkennen könne; es war aber nichts zu sehen, selbst nicht einmal ein Alligator, von denen es doch Massen in diesen Sümpfen geben sollte. Nur etwa zwei- oder dreihundert Schritt entfernt, bemerkte er auf dem Wasser an mehreren Stellen einen hohen kegelförmigen Gegenstand von fast rosenroter Farbe, aus dem er nicht recht klug werden konnte. Waren es die Blätter irgendeiner Wasserpflanze, die da so wunderlich breit emporstanden? Wieder sah er sich dabei nach Alligatoren um, konnte aber keinen einzigen erkennen, als es plötzlich einen lauten Schlag aufs Wasser tat. Jack fuhr rasch danach um, und der Dackel, der die Augen gerade auf jene Stelle geheftet, bellte laut. Fast in demselben Augenblick sprang aber auch der junge Bootsmann von seinem Lager auf, denn wie mit einem Zauberschlag wimmelte der ganze Sumpf von Alligatoren. Die rosenroten Kegel, die er für Blätter gehalten, kamen klappend aufs Wasser nieder, und Hunderte von dunklen schmalen Stellen, von denen er am Anfang geglaubt, daß es aufragendes Erdreich oder faules angebranntes Holz sei, gewannen plötzlich Leben und Bewegung und glitten geräuschlos, aber rasch vorbei.

Dem Dackel war diese Veränderung auf dem Wasser aber ebenfalls nicht entgangen. Kaum sah er, wie sich darin alles regte und bewegte, als er laut kläffend dagegen anschlug, und Jack konnte im Augenblick bemerken, daß die braunen langen Ungetüme dem Bellen des Hundes sehr viel Aufmerksamkeit schenkten.

»Da kommt ihr mir gerade recht, meine braven Burschen«, lachte er leise vor sich hin, indem er vorsichtig seine Büchse aufgriff und spannte, »und was für eine Gesellschaft! Wohin man sieht, kommen die Bestien ja angezogen, na wartet, euch will ich empfangen, daß euch die Jacke jucken soll!«

Der Sumpf dehnte sich hier, wie schon gesagt, am Rand sämtlicher Felder hin, die sich in ihrer vollen Breite auf dem zunächst dem Strom liegenden Land befanden. Weiter hinein in den Wald schien sich das Wasser aber noch mehr auszudehnen, und um die Verbindung mit dem dahinterliegenden Land herzustellen, war ein flacher und ziemlich schmaler Damm hindurchgebaut. An diesem herunter kamen jetzt besonders drei oder vier alte, lange Burschen geschwommen, hielten aber, als sie den Hund nicht mehr hörten, und ruderten dann langsam querüber, einigen einzeln im Sumpf stehenden Zypressen zu. Andere kreuzten auch wieder von drüben herüber, und einer von ihnen stieg sogar auf den Damm hinauf und blieb dort in der Sonne, den Oberkörper auf dem Trockenen, den langen, gezahnten Schwanz noch im Wasser hängend, liegen.

Ein paar dicht am Damm wachsende Büsche gestatteten Jack, sich hinter ihnen zu decken und vielleicht bis in bequeme Schußnähe an den Alligator heranzukommen. Soviel hatte er dabei im Norden von der Panzerhaut der Tiere gehört, durch die eine Kugel gar nicht schlagen könnte, daß er nahe genug zu kommen wünschte, um einen der Burschen mit der Kugel ins Auge zu treffen, und auf dreißig bis vierzig Schritt wußte er, daß er seines Ziels gewiß war. Leise winkte er deshalb dem Hund, hinter ihm zu bleiben. Der Dackel wußte auch recht gut, was das zu bedeuten hatte, und schlich dann rasch und vorsichtig der im Auge behaltenen Stelle zu.

Der Alligator, soweit er ihn jetzt hinter den Büschen sehen konnte, blieb vollkommen ruhig liegen und schien die Gefahr, in der er sich befand, entweder nicht zu ahnen oder auch vielleicht nicht zu achten. Gar nicht weit vom Damm ab hatten andere gelegen, die jetzt, als sie den Mann darauf hingehen sahen, von ihm fortschwammen. Ein paar hatten ihn sogar auf kaum zwanzig Schritt herangelassen, und er hätte sie recht gut auf die von ihm abgedrehten Köpfe schießen können. Da er aber fürchtete, daß die Kugeln dort abprallen möchten, ließ er sie ruhig fort, um sein Glück an dem auf trockenem Land liegenden zu versuchen, und war auch an diesen schon in recht bequeme Schußnähe gekommen.

So gespannt hielt er indessen seine ganze Aufmerksamkeit auf die erhoffte Beute, daß er auf gar nichts anderes um sich her geachtet hatte. Jetzt aber, wie er die Büchse hob, sein Ziel zu treffen, sah er in der Richtung über den Lauf hin sich etwas Helles bewegen und erkannte in demselben Augenblick auch ein junges Mädchen in einem weißen Kleid, die den schmalen Gang entlang und gerade auf den Alligator zukam. Sie konnte überhaupt kaum noch vierzig Schritt von diesem entfernt sein und ihn gar nicht bemerkt haben, sahen doch die Bestien auch wirklich nur aus wie ein Stück altes, trockenes Holz, wenn sie so still und regungslos in der Sonne lagen. Jack wollte jetzt schießen, aber er fürchtete, die Kugel könne auf der panzerartigen Haut abprallen und das Mädchen treffen, und ein eigenes Gefühl der Angst überschlich ihn, als er sah, wie dieses, vertrauensvoll näherkommend, einer furchtbaren Gefahr mit raschen Schritten entgegenging. Unschlüssig zögerte er, aber es war keine Zeit mehr zu verlieren.

Das junge Mädchen hatte ein kleines, langhaariges braunes Hündchen auf dem Arm, das sie liebkosend streichelte, und sah dabei nicht weiter auf ihren Pfad, als eben nötig war, den Damm zu halten. Kaum noch zehn Schritt konnte sie von der Bestie entfernt sein, und sprang er jetzt vor und rief sie an, und floh sie, so war ja nichts wahrscheinlicher, als daß der heimtückisch lauernde Alligator sie verfolgen würde. Dann aber war es nicht mehr möglich, ihr Hilfe zu bringen, und sich deshalb auf seine gute Büchse verlassend, hob er den Lauf, zielte, um die Kugel womöglich unter das Ohr und von hinten in das Hirn zu bringen, und drückte ab.

Mit dem Schuß schnellte sich das kolossale Tier über den Damm weg in das Wasser; das junge Mädchen aber, das dicht vor ihren Füßen in diesem Augenblick zum erstenmal das Ungeheuer entdeckte, durch dieses wie den Schuß erschreckt, ließ den kleinen Hund fallen und sprang eben noch in Zeit zurück, dem nach ihr hinüberschlagenden Schwanz der Bestie zu entgehen – ein Schritt nur weiter vor, und sie wäre davon erreicht worden. So traf sie allerdings der Schlag nicht, aber der arme kleine Hund wurde davon mit in das Wasser gerissen, und während er laut aufschrie, drehte sich der zu Tode verwundete Alligator noch einmal nach ihm um, packte ihn in seinem riesigen Rachen und verschwand damit in der über ihm zusammenschlagenden Flut. Jack aber, der sich verwünscht wenig um den Hund kümmerte, stieß einen lauten Freudenschrei aus und sprang auf die Fremde zu, die an allen Gliedern zitternd und keiner Bewegung fähig auf dem Damm stand.

Es war ein junges, bildschönes Mädchen von kaum siebzehn Jahren, mit vollen dunklen Haaren, aber blauen Augen, mit zartem, jetzt fast marmorbleichen Teint. So einfach aber auch ihre Kleidung sein mochte, so zart und edel war die ganze Gestalt, die nur leise erbebte, als der Arm des jungen Mannes sie umfaßte und stützte.

»Haben Sie keine Furcht weiter, Miß«, rief Jack, sein gutmütig-ehrliches Gesicht mit voller Röte übergossen, »ich denke, die Bestie hat genug, und der Appetit wird ihr wohl vergangen sein. Meine Kugel ist hineingefahren; sehen Sie nur, wie der Blutstreifen, den sie in der Flucht gezogen, dort schillernd auf dem Wasser liegt. Sie müssen das Untier gar nicht vor sich gesehen haben; die verwünschten Dinger gleichen auch wahrhaftig einem alten Baumstamm auf ein Haar!«

»Ich – ich danke Ihnen«, flüsterte das junge Mädchen, während das Blut, das vorher ihre Wangen verlassen, in einer wahren Flut zurückschoß und ihr Antlitz und Nacken fast dunkel färbte. »Ich hatte es wirklich nicht gesehen – aber – guter Gott, mein Joly, mein armer Joly ist verloren – oh, ich armes unglückliches Mädchen, wie wird es mir jetzt gehen!«

»Das arme kleine Ding hat der Satan allerdings mit über Bord genommen«, sagte der Bootsmann etwas verlegen, denn es kam ihm sonderbar vor, daß die junge Dame, wo sie eben erst kaum selber dem Tode entgangen, so über den Verlust eines Hundes klagen konnte. »Das läßt sich aber nicht ändern, und ich danke Gott, daß das Ganze noch so abgelaufen ist. Sie haben sich recht erschreckt, nicht wahr?«

»Oh, mein Gott, ja – ich hätte ja sonst den Hund nicht fallen lassen«, seufzte das Mädchen und machte sich dabei leicht von dem sie noch immer stützenden Arm des jungen Mannes frei. »Sollte es – sollte es denn gar nicht möglich sein, das arme Tier zu retten?«

»Retten? Schwerlich«, sagte Jack, dem diese Sorge, die sich nur mit dem toten Hund beschäftigte, eben nicht besonders gefiel. »Wenn ihn der Braunbuckel nicht noch als letzten Bissen verschluckt hat, sind ihm doch wenigstens alle Knochen im Leib zerbrochen, und er liegt jetzt irgendwo da unten auf dem Grund vom Sumpf, als Bissen für einen von der Verwandtschaft.«

Die junge Fremde barg das Antlitz einen Augenblick in beiden Händen, und als sie sich wieder aufrichtete, sah Jack, daß ihr die hellen Tränen an den Wangen niederliefen.

»Herr du mein Gott«, sagte der junge Bursche gutmütig, »ich habe gar nicht geglaubt, daß Sie sich den Verlust des kleinen Tieres so zu Herzen nehmen würden! Wenn der Dackel da mir gehörte, wollt ich ihn gern Ihnen dafür lassen, und wär es auch nur, daß Sie wieder ein fröhliches Gesicht machten. Der aber gehört dem Baas, und der gäbe ihn nicht um viel Geld her.«

»Verloren, verloren!« stöhnte die junge Fremde vor sich hin, senkte den Kopf und wollte langsam den Damm hin an Jack vorübergehen.

»Und darf ich Sie nicht begleiten«, sagte dieser, »hier schwimmen noch eine ganze Menge von den Bestien herum, und ich weiß nicht, ob...«

»Ich danke Ihnen«, sagte aber das Mädchen abwehrend, »ich danke Ihnen recht von Herzen – auch – auch für die Güte, die Sie mir bewiesen, aber – ich muß allein gehen – ich darf wirklich nicht«, setzte sie rasch und wie bittend hinzu, als Jack eine Bewegung machte, als ob er sein Gesuch erneuern wolle, »leben Sie wohl!« Und mit flüchtigen Schritten eilte sie jetzt, als ob sie fürchte, daß ihr der Fremde dennoch folgen würde, den schmalen Damm entlang, floh über den kleinen Wiesenplan und entschwand bald hinter den einzelnen Büschen den Blicken des Nachschauenden.


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