Friedrich Gerstäcker
Der Flatbootmann
Friedrich Gerstäcker

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Jack hatte das gar nicht mehr so ferne Land mit den Blicken überflogen, und eine Stelle dort schien ihm die Möglichkeit einer Landung zu gestatten. Fast überall war die Uferbank steil und schroff abgebrochen, nur eine kleine Strecke unterhalb begann eine Sandbank, an deren oberen Teil er hoffen durfte, anzulaufen. Zu gleicher Zeit wandte er den Bug seines Kanus ein klein wenig mehr stromab, und der Aufseher, der am Steuer mit dem Gesicht nach vorn in seinem Boot saß, erkannte zum erstenmal, daß die flüchtige Sklavin nicht allein in dem Kanu sei.

»Alle Teufel!« rief er aus. »Was ist das? Sind wir einem falschen Kanu gefolgt, oder hat die Dirne noch einen Begleiter bei sich? Darum konnte sie so scharf rudern. Aber warte, mein Herz, dir soll die Lust vergehen, zum zweitenmal davonzulaufen – jetzt bin ich nur begierig, deinen Kompagnon kennenzulernen.«

»Dessen Bekanntschaft kannst du bald machen, mein Bursche!« rief da Jack, den Bug seines Kanus herumwerfend, daß es gerade gegen die Strömung anhielt, die Büchse hatte er zugleich auf seine Knie gelegt, die Mündung dem kaum noch zwanzig Schritt entfernten Boot zugekehrt – in dieser Stellung konnte er die Waffe mit Sicherheit führen.

»Verdammnis!« schrie der Aufseher. »Das ist nicht die Stimme eines Niggers – das ist...«

»Ein guter Freund und alter Bekannter von dir, Kamerad«, rief da der junge Mann, sein Ruder vor sich ins Boot werfend und die Büchse in Anschlag heraufnehmend. »Halte das Kanu einen Augenblick in der Richtung, Sally, bis ich den Burschen da drüben abgefertigt habe – und nun herum mit eurem Bug, ihr Schufte, oder so wahr ein Gott da oben über uns lebt, ich schieße dir eine Kugel durch das Hirn!«

»Das ist der Bootsmann von dem Flatboot drüben!« schrie der Aufseher, von seinem Sitz emporspringend. »Hundert Dollar, Jungens, wenn ihr den Burschen lebendig fangt, daß ich ihn hängen sehe.«

Die Neger setzten ihre Ruder mit aller Kraft ein; das Boot sprang bei jedem Schlag, den sie ins Wasser taten, ordentlich nach vorn. Dabei hielt der Steuernde den Bug voll gegen die Seite des Kanus, und Jack durchschaute im Nu die Absicht des Aufsehers. Sobald es ihm gelang, das schwankende Kanu mit dem weit stärkeren, in voller Fahrt herankommenden Boot zu treffen, so mußte es sich füllen und sinken, eine Schußwaffe war dann unbrauchbar, und sie selber im Wasser den Verfolgern rettungslos preisgegeben.

Das Mädchen hatte den Kopf schaudernd abgewandt; die Stimme ihres Henkers füllte ihr Herz mit Todesfurcht, und nur mechanisch folgte sie dem Befehl ihres Begleiters, den Bug des Kanus noch gegen die Strömung zu halten. Jack dagegen wußte, daß der entscheidende Moment gekommen sei. Das Kanu lag vollkommen still, mit der Strömung langsam niedertreibend, während das Boot schäumend heranschoß. Die Büchse hob sich langsam der untergehende Mond schien hell auf das blitzende Korn – Jack wußte, daß von dem sicheren Schuß sein Leben abhing, und als er den Kopf des Aufsehers mit Korn und Visier auf kaum zehn Schritt mehr in einer Linie hatte, drückte er ab.

Ein gellender Aufschrei dröhnte mit dem Schuß zusammen, Jack aber, die Büchse ins Kanu werfend, hatte im Nu das Ruder aufgegriffen, ihr Bug flog herum, scharf ab von dem verfolgenden Boot, und wich, als dieses einmal im Gang heranflog, mit Blitzesschnelle zur Seite aus. Aber auch das Boot änderte seine Richtung, denn der zu Tode getroffene Aufseher war auf das Steuerruder zurückgestürzt, dieses zu Starbord hinüberdrückend. Dadurch wandte sich jetzt dessen Bug stromauf. Die Neger aber, die keine Ahnung gehabt, daß der weiße Mann seine Drohung so furchtbar rasch erfüllen würde, ja, die vielleicht nicht einmal geglaubt, daß er ein Gewehr bei sich führe, ließen erschreckt die Ruder fallen und sprangen auf, um ihrem gestrengen Herrn beizustehen. Mr. Hoofs Regiment hatte aber ein Ende. Die sichere Kugel des jungen Bootsmanns war, nur etwas zu tief, durch seine Stirn gefahren. Er lebte zwar noch, aber nur, um wilde, unartikulierte Schreie auszustoßen und mit den Armen jählings um sich her zu werfen. Nach dem Schuß war er im Boot emporgesprungen und wäre über Bord gefallen, hätte ihn nicht einer seiner Leute gefaßt und gehalten. Dadurch aber, und während er mit seinem zuckenden Körper das Steuer zur Seite drückte, kam auch die ganze Bootsmannschaft in Unordnung, und Jack war nicht der Mann, die ihm solcherart gegönnte Zeit unbenutzt verstreichen zu lassen.

Keinen Jubelschrei stieß er aus über den geglückten Schuß, keinen Blick warf er zurück auf das jetzt von ihm abgewandte Boot. Mit neuer Hoffnung, aber freilich auch dem unbehaglichen Gefühl, ein abgeschossenes Gewehr im Kanu zu haben, legte er sich mit aller Macht in sein Ruder und arbeitete dem Land entgegen. Im Boot entdeckten sie jetzt allerdings die Flucht des schon so sicher geglaubten Kanus, aber ehe sie ihre Ruder wieder aufgreifen konnten, hatte das schon einen tüchtigen Vorsprung gewonnen, und dicht am Land mit der Strömung hin glitten die Geretteten.

Gerettet? Lieber Gott, noch lagen vielleicht schlimmere Gefahren für sie im Hintergrund, als selbst der jähe Tod im Strom gewesen wäre; aber diesem ersten waren sie doch entgangen. Der schlimmste Feind, den sie im Land hatten, war unschädlich gemacht, und allem anderen sah der junge Bursche mit leichtem, fröhlichem Herzen keck entgegen.

Wohl folgte jetzt das Boot; die Neger hatten den Körper des Sterbenden, dem sie doch keine Hilfe bringen konnten, auf den Boden des Boots gelegt und nahmen die Verfolgung wieder auf. Aber es war kein rechter Ernst mehr darin. Was konnten sie auch, Sklaven miteinander, gegen den Weißen machen? Durften sie sich an ihm vergreifen, und stand nicht Todesstrafe für irgendeinen von ihnen darauf, der Hand an einen der bevorzugten, freien Kaste legte? Allerdings hatte der Mann eine Sklavin gestohlen, und vielleicht hätten sie die Gerichte freigesprochen – aber nur vielleicht. Sie wußten es nicht genau, und dann war auch der erste Schuß mit solcher Sicherheit gefallen und hatte sich sein Opfer so furchtbar schnell aus ihrer Mitte herausgeholt – sollten sie der Waffe noch einmal trotzen? Und weshalb?

Die beiden Negertreiber, während sie nichtsdestoweniger so rasch sie konnten hinter dem Kanu dreinruderten, überlegten sich das alles leise miteinander – aber im freien Wasser konnten sie die Flüchtlinge nicht mehr überholen. Um den Wipfel eines in den Strom gestürzten Baumes biegend, war es plötzlich ihren Blicken entschwunden, und als sie dicht davor das Wasser mit ihren Rudern zurückdrängten und vorragende Äste faßten, um sich dort festzuhalten, hatte ein überragender Baum die beiden schon in seinen Schutz genommen.

In dem Boot befanden sich noch, außer dem erschossenen Aufseher, vier Neger – die beiden Negertreiber, Mulatten, und zwei der zuverlässigen Sklaven, die Mr. Hoof für seinen Dienst ausgewählt. Ohne weißen Befehlshaber durften sie aber selber nichts eigenmächtig unternehmen, ja wären sie selbst auf der nächsten Plantage angelaufen, so waren sie der Gefahr ausgesetzt, als entflohene Sklaven aufgegriffen und zurückgehalten zu werden. Nichtsdestoweniger hielten es die beiden Negertreiber für ihre Pflicht, den Flüchtigen wenigstens den Wasserweg abzuschneiden, indem sie das dort eingelaufene und wahrscheinlich jetzt verlassene Kanu herausholten und treiben ließen oder zerstörten. Es war dann immer eher möglich, die beiden hier im Wald wieder aufzufinden und zu fangen. Nach kurzer Beratung entschlossen sie sich denn auch, ihr Boot in das Gewirr von Ästen, durch die das schmale Kanu viel leichter hindurchgeschlüpft war, hineinzuschieben. Gar nicht weit den Strom hinauf hatten sie dann die Anzeige zu machen, und hielt man sie fest, so ließ sich ihre Unschuld leicht beweisen. Vorsichtig machten sie sich deshalb an die Arbeit, und die Ruder auf die Bänke legend, während sie sich an den Ästen langsam vorwärtszogen, brachten sie das Boot auch bald dort ein, wohin ihnen das Kanu vorausgefahren war. Ehe sie aber nur in dem dunklen Schatten der Bäume erkennen konnten, wo es lag, donnerte ihnen des Bootsmanns Stimme entgegen:

»Zurück, ihr Burschen! Schiebt sich euer Boot noch eine Elle weiter hier herein, so schieß ich dem ersten Wollkopf, der sich darin zeigt, eine Kugel durchs Hirn – habt ihr mich verstanden?«

Die Neger antworteten nicht; daß der Mann aber nicht spaße, davon hatten sie den blutigen Beweis in ihrem eigenen Fahrzeug liegen, und rascher, als sie in das Gewirr hineingekommen, arbeiteten sie sich wieder zurück. Mit Gewalt war da nichts auszurichten, und sie selber mußten sich einen anderen Plan ausdenken, um dem Kanu wenigstens die weitere Flucht abzuschneiden.

Jack hatte indessen seinen eigenen Plan gefaßt. Sowie das Kanu mit der Spitze die dort nicht zu steile Uferbank berührte, sprang Sally heraus und stand jetzt zitternd am Ufer, um ihren Beschützer zu erwarten. Der junge Bootsmann säumte denn auch nicht, ihr zu folgen, und einmal erst auf sicherem Boden, wurde ihm leichter, fröhlicher ums Herz. Seine erste Sorge war aber, die abgeschossene Büchse wieder zu laden, und mit der Waffe jetzt schußfertig in der Hand wußte er, daß er sich die unbewaffneten Neger leicht in nötiger Entfernung halten könne. Ihren ersten Versuch, sein kleines Fahrzeug zu nehmen, machte er auch rasch durch seine Drohung zunichte, seine Situation war aber dadurch auch nicht viel gebessert. Vorsichtig horchte er allerdings erst eine Weile nach den Zurückweichenden hinüber, solange er ihre Stimmen hören konnte, und kletterte dann leise wieder in das Kanu hinab.

»Wo wollt Ihr hin?« flüsterte Sally, erschreckt die Hände faltend. »Nur ruhig, mein Herz«, warnte aber der Mann mit ebenso leiser Stimme. »Erst muß ich wissen, was die Burschen da draußen vorhaben – bleib nur ruhig hier und fürchte nichts – ich komme gleich zurück.«

Seine Büchse im Kanu, ohne jedoch das Ruder zu gebrauchen, schob er jetzt den Bug desselben langsam weiter und weiter vor, bis er der ihm ängstlich Nachschauenden im Schatten des dunklen Baumwollholzwipfels entschwunden war – lange Minuten vergingen, und er kehrte nicht zurück. War er geflohen? Hatte er sie allein hier ihrem Schicksal überlassen? Sie schauderte bei dem Gedanken, und noch einmal so unheimlich rauschten die düsteren Wipfel über ihr und tönte klagend der Ruf der Eulen durch den stillen Wald. Eine volle halbe Stunde verging ihr so in peinlich qualvollem Warten, und keine Nacht war ihr so lang noch vorgekommen. Endlich glaubte sie, das Geräusch zurückgedrängter Büsche zu hören; ihr Herz klopfte stürmisch in der Brust, und jetzt – er kehrte zurück. Dort schob sich das lange schmale Kanu langsam dem Land wieder entgegen, und als sie sich vorbeugte, den Bug desselben zu fassen und zu halten, trat Jack, die Büchse in der Hand, zu ihr heraus.

Kein Wort sprach er dabei, nur alles, was noch im Boot lag, hob er heraus, zog das Kanu dann weiter auf den weichen Boden, höher und höher hinauf. Seine ganze Kraft mußte er dabei anwenden und bald an dem, bald an jenem Ende heben, denn das Mädchen konnte ihm wenig dabei helfen. Endlich aber gelang es ihm doch, es, wenigstens vom Wasser aus, außer Sicht hinter einen Busch zu bringen, und er ging nun daran, die hinterlassenen Spuren im weichen Boden so gut als möglich wieder unkenntlich zu machen. Sally hatte ihn dabei, soviel sie konnte, unterstützt, und das beendet, faßte er jetzt des Mädchens Hand und half ihr wieder die Uferbank hinauf, weiter, immer weiter in den Wald hinein. Noch immer sprach er kein Wort und suchte nur sorgfältig die offensten Stellen für seinen Schützling aus, um ihr den rauhen Weg so gut als möglich zu erleichtern, bis sie das Ufer weit, weit hinter sich gelassen.

Sally war ihm, ohne eine Frage zu tun, ohne eine Klage auszustoßen, durch Schilf und Sumpf und über umgebrochenes Holz gefolgt. Da plötzlich blieb er stehen, warf seine Decke zu Boden, lehnte die Büchse an einen umgestürzten Stamm, neben dem sie standen, und sagte freundlich:

»Nun, mein Kind, sind wir deinen unmittelbaren Verfolgern wenigstens entrückt, und wie's nun weiter kommen mag, müssen wir versuchen. Aber hast du Kraft, mir noch ein paar Stunden lang durch dies Gewirr von Schilf und Unterholz zu folgen?«

»Ja«, sagte das arme Mädchen leise, »wohin Ihr mich führt; ich will nicht fragen, was und wie Ihr's tut.«

»O nein, mein Herz, so war es nicht gemeint«, sagte der junge Mann lachend, »du sollst allerdings genau wissen, was ich zu tun gedenke; ob es uns glückt, steht freilich in Gottes Hand. Nun höre: Dadurch, daß ich den Burschen von unserem Kanu zurückscheuchte, sind sie natürlich der Meinung, daß wir ihnen mit dem und zu Wasser noch entgehen wollen. Sie wissen auch ziemlich genau, wie wild diese Wälder sind, und können sich nicht denken, daß ein Fremder seinen Weg hindurch finden würde. Der Wald aber ist meine eigentliche Heimat und ein alter Freund, und einen besseren Führer könntest du dir nicht wünschen.«

»Aber die Verfolger werden nach der nächsten Plantage rudern und dort die Leute auf unsere Fährte setzen.«


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