Friedrich Gerstäcker
Der Flatbootmann
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Jack sah die Frau seines Kapitäns an. – Ein weißes Mädchen? Aber war sie denn nicht weiß? Hatte er sie nicht selber dafür gehalten? Und dadurch war vielleicht Rettung für die Unglückliche möglich; hatte er erst einmal der alten Dame Teilnahme für sie geweckt, konnte vielleicht noch alles gut werden. Ihm selber freilich schwindelte der Kopf, wenn er an alles das dachte, was die Unglückliche hier hinausgetrieben und zur Flucht gezwungen haben konnte, aber derlei Gedanken trieb er zurück – die sollten ihm jetzt das Herz nicht schwer machen. Rasch streckte er dem Mädchen die Hand entgegen, die sie zitternd erfaßte, hob die Arme zu sich herauf, bis sie aufrecht im Kanu stand, und half ihr dann herein ins feste Boot.

»Aber nun, um Gottes willen, Kind, sagen Sie mir, was Sie hier mitten in der Nacht allein auf den Strom getrieben hat?« fragte die würdige alte Dame, indem sie den Arm der Fremden ergriff und sie in den inneren Raum führte. »Mein Kind, Sie sind ja ganz naß von der feuchten Nachtluft«, rief sie bestürzt, indem sie die Hand, mit der sie das Mädchen gehalten, an ihrer Schürze abtrocknete, »und können sich ja auf den Tod erkälten. Solch ein zartes Figürchen. Ja, wenn sich unsereins die Nacht durch auf dem Wasser herumtreibt, so hat das eben nicht viel zu sagen, aber solch ein Kind noch, wie Sie sind! Doch ich schwatze da und schwatze in einem fort, und Sie stehen hier im Freien und zittern am ganzen Leib. Da bitte, setzen Sie sich und warten Sie – erst will ich Ihnen einmal eine Tasse heißen Tee machen; der tut gut und wird Sie bald wieder ein bißchen durchwärmen.«

Das junge Mädchen hatte der alten, würdigen Dame mit bebenden Gliedern gegenübergestanden. Sie fühlte, daß sie hier fälschlicherweise für etwas gehalten wurde, was sie nicht war, und sie zitterte vor dem Augenblick, wo ihre wahre Abstammung entdeckt werden mußte, aber sie wagte es nicht, ein Wort darüber zu sagen – ja, sie vermochte es nicht einmal. Die Zunge klebte ihr vor Angst am Gaumen, und halb ohnmächtig sank sie auf den für sie hingeschobenen Stuhl. Der alte Poleridge hatte am Anfang allerdings Lust gehabt, ebenfalls in seine kleine Kajüte – ein einfacher Bretterverschlag, im Vorderteil des Boots hergerichtet – zu treten; war er doch selber neugierig geworden, zu hören, was es für eine Bewandtnis mit der Fremden habe. Da er aber sah, daß sich seine Alte derselben so annahm und seine Gegenwart überhaupt für jetzt noch an Deck notwendig war, kehrte er, schon am Eingang, wieder um und stieg nach oben, vor allen Dingen erst einmal zu sehen, ob der am Steuer stehende Bill auch das richtige Fahrwasser halte.

Die Leute standen indes an Deck zusammen und unterhielten sich über das rätselhafte Erscheinen des jungen Mädchens. Daß sie mit dem Kanu vom Ufer abgekommen war, hatten sie alle da oben gesehen; was in aller Welt konnte sie aber zu einer solchen Fahrt bewogen haben? War sie ihren Eltern davongelaufen? Und wo gehörte sie überhaupt hin? Der Alte schüttelte selber den Kopf, meinte aber, als sie ihn danach fragten, seine Alte würde das schon alles in Ordnung bringen und sie sollten für jetzt nur noch eine Weile in der Nähe von ihren Rudern bleiben, wenn sie vielleicht noch einmal gebraucht würden. Jack, der hier allein hätte Auskunft geben können, saß still und regungslos, den Kopf in beide Hände gestützt, gleich über dem Eingang der Kajüte. Was sollte er tun? Der Frau alles sagen oder die Entwicklung dem Schicksal anheimgeben? Und hätte der Alte die Unglückliche an Bord behalten, wenn er erfuhr, daß sie eine Sklavin sei? Hatte ihn nicht die Frau selber erst heute noch gewarnt, sich, um Gottes willen nicht in solche Sachen zu mengen, die, wenn entdeckt, die schlimmsten Folgen haben könnten – und würde sie sich jetzt einer solchen Gefahr eines Niggers wegen ausgesetzt haben?

Er horchte nach unten – dort war alles ruhig. Er konnte hören, wie die Frau die Töpfe rückte und mit den Tassen klirrte – aber kein Wort wurde mehr gesprochen. Diese Stille und Ungewißheit war ihm peinlicher als die furchtbarste Gewißheit, und er sprang endlich auf, um seine fieberheiße Stirn dem kalten Nachtwind entgegenzuhalten. Plötzlich horchte er erschreckt empor. Über dem stillen Strom konnte er deutlich die regelmäßigen Ruderschläge eines hinter ihnen dreinrudernden Boots hören. Waren das schon die Verfolger? Todesangst erfaßte ihn, als ob er selber ein Verbrechen begangen hätte, und er sprang an den hinteren Teil des Fahrzeugs, um dort besser ausmachen zu können, wohin sich das fremde Boot wendete und welchen Kurs es nehme.

»Na, Jack«, sagte Bill, der dort noch am Steuer stand, »hast du unseren Besuch gesehen? Wer ist es denn eigentlich?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete, die Worte kaum hörend, der junge Mann, »wo hinaus ist das Boot, das hinter uns war?«

»Es wird über den Strom wollen, die Ruderschläge klangen wenigstens so. Jetzt hör ich aber auf einmal gar nichts mehr davon, sie müssen still liegen – ha, da sind sie wieder!«

Die Leute in dem Boot hatten jedenfalls kurze Zeit mit dem Rudern aufgehört, jetzt fingen sie wieder an, und das regelmäßige Knarren der Riemen, die sich in den hölzernen Dollen bewegten, klang deutlich zu ihnen herüber.

»Sollte mich gar nicht wundern«, sagte da der Alte, der zu ihnen getreten war, »wenn die Leute da drüben hinter der Mamsell unten her wären. Muß doch jedenfalls erst einmal hören, was damit los ist, damit man weiß, was man sagen soll, wenn sie kommen.«

Der Alte drehte sich langsam um, nach vorn zu gehen, und Bill brummte:

»Weiß, was man sagen soll? Da wird nicht viel zu sagen bleiben. Das Kanu da vorn sehen sie doch jeden Augenblick und wissen dann gleich, daß wir Besuch haben.«

»Hast recht, Bill«, rief Jack, der daran gar nicht gedacht, »das werde ich aus dem Weg bringen. Um Gottes willen, verratet das Mädchen nicht. Es ist eine Unglückliche, die wir verbergen müssen.«

»Hallo«, lachte Bill, als Jack nach vorn sprang, um seinen Plan auszuführen. »Jack hat den ganzen Tag das Maul nicht aufgetan, und jetzt ist er auf einmal Feuer und Flamme. Nun, ich verrate sie schon nicht. Ist auch eine Sache, die mich nichts angeht – das mögen die da unten abmachen.«

Jack war indessen zu dem vorn angehängten Kanu gesprungen, nahm das kleine leichte Ruder an Bord und trat dann nur auf den einen Rand des schwankenden Fahrzeugs, daß es sich von dortherein füllen konnte. Im Nu war das geschehen, das Wasser lief hinein, und das Kanu sank bis an den Rand unter. Im Schatten des großen Boots ließ es sich solcherart nur erkennen, wenn man dicht daneben war und den Platz wußte, auf dem es lag.

Poleridge war indessen in seine kleine Kajüte untergetaucht. Wenn er aber auch erst die Absicht gehabt hatte, seinen Schützling etwas näher ins Auge zu fassen, sah er bald die Unmöglichkeit ein. Mrs. Poleridge wirtschaftete nämlich gar geschäftig mit dem kleinen Kochofen, um den versprochenen Tee für die Fremde herzustellen, und diese saß hinter ihr auf dem niederen Stuhl, den Kopf gesenkt, die Hände im Schoß gefaltet. Die kleine Lampe, die in dem engen Raum hing, fiel aber voll auf die bleichen, wunderlieblichen Züge der Fremden, und der Yankee, sonst eben nicht gerade zarter Natur, fühlte sich doch ganz eigentümlich von dem leidenden Engelsgesicht bewegt.

»Hören Sie einmal, Miß«, sagte er endlich und erschrak ordentlich, als sie die großen Augen fragend zu ihm aufschlug, »ich – ich wollte Sie nicht gern stören, aber da draußen fährt ein Boot im Strom herum, das mir gerade solche Bewegungen macht, als ob es Ihr Kanu suchte. Möglich, daß die Leute auch hier an Bord kommen, ja sogar sehr wahrscheinlich, und da wollte ich Sie denn nur einfach fragen, ob es Ihnen vielleicht recht ist, wenn sie erfahren, daß Sie hier sind. In dem Fall könnte man sie auch vielleicht anrufen.« Das Mädchen hob die Hände bittend zu ihm empor und sagte mit ihrer sanften, klagenden Stimme leise nur die Worte:

»Wenn Sie mich verraten, bin ich verloren.«

»Hm«, brummte der Händler kopfschüttelnd, »also so stehen die Sachen – aber wie, um Gottes willen...«

»Na, laß das arme Kind nur jetzt zufrieden«, sagte die Frau. »Nachts läßt du ja doch kein fremdes Boot an Bord heran, wer weiß denn auch, was für Gesindel drinnen sitzt, und daß die Raubbande doch noch hier und da am Mississippi besteht, dächt ich, hättest du weiter oben zur Genüge gehört. Wenn sie was wollen, sollen sie am hellen Tag kommen, und bis dahin sind wir schon ein tüchtiges Stück stromab. Du siehst doch, wie sich das arme Ding da ängstigt und abquält.«

»Nu, nu«, lächelte der Mann, sie beruhigend, »das gehört gerade nicht mit zu meinem Geschäft, daß ich bei Nacht und Nebel junge Mädchen entführen helfe; wenn du's aber absolut so haben willst, kann's mir auch recht sein. An Bord sollen uns die Burschen schon nicht kommen, dafür werd ich sorgen und bin nur neugierig, was sie vorgeben werden. Übrigens kommen sie näher, wenn ich nicht irre. Na, fürchten Sie sich nicht«, sagte er dann weit freundlicher, als es sonst gerade seine Sitte war, zu seinem Schützling, als er sah, wie die Fremde ängstlich zusammenzuckte. »Wen der alte Poleridge nicht gutwillig herausgeben will, den können sie mit einem Boot voll Nigger nicht holen, so viel ist sicher.« Und ziemlich entschlossen die Hände in die Tasche schiebend, stieg er langsam wieder an Deck. Kaum hatte er übrigens die Kajüte verlassen, und sein schwerer Tritt drückte noch über den Frauen auf das rundgebogene Bretterdeck des Boots, als sehr zu Mrs. Poleridges Erstaunen Jack in den Raum glitt und wie unschlüssig vor ihr stehenblieb. Von den Leuten kam nie jemand um diese Zeit noch zu ihnen herein, ausgenommen, wenn sie zur Koje gingen und dann durchpassieren mußten, oder vielleicht bei heftigem Regen, um vorn unterzutreten. Die alte Dame drehte sich denn auch etwas erstaunt gegen den jungen Mann um und sagte:

»Nun, Jack, was bringt Ihr? Ist das Boot da?«

»Mrs. Poleridge«, sagte da Jack, und ordentlich mit Gewalt mußte er die Worte aus der Kehle pressen, »ich – ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen – hören Sie mich ruhig an.«

»Jesus, meine Güte, was ist Euch, Jack? »sagte die Frau, ihn erstaunt über ihre Brille betrachtend. »Was fehlt Euch denn, und Ihr seht aus...« Sie drehte sich nach der Lampe um, diese etwas höher hinaufzuschrauben. Als sie aber die rechte Hand zu dem Licht aufhob, sah sie erstaunt, daß sie ganz blutig war. »Na?« unterbrach sie sich bestürzt. »Was ist denn das? Blute ich denn, oder – um Gottes willen, liebes Kind, sind Sie...?«

Jack ließ sie nicht ausreden. Einen Schritt vortretend, ergriff er ihre Hand und flüsterte bittend:

»Hören Sie mich, beste Frau, und helfen Sie einer Unglücklichen, die ohne Sie verloren ist.«

»Aber, Jack – ich begreife Euch nicht -«, rief die alte Dame aufs äußerste erstaunt. »Mein Mann hat ihr ja schon seinen Schutz versprochen, und das arme Mädchen...«

»Ist eine Sklavin«, sagte Jack, und Mrs. Poleridge hätte bald einen Schrei ausgestoßen. Ihr Blick flog dabei nach der Unglücklichen hinüber; als er aber auf dem bleichen Antlitz der Armen haftete, sagte sie rasch:

»Unsinn, Mann, die ist so weiß wie Ihr und ich...«

»Und doch Sklavin«, stöhnte Jack, »aber hören Sie alles und urteilen Sie dann selbst... »Und mit hastigen, aber klaren, einfachen Worten erzählte er jetzt der die Hände in Angst und Bestürzung faltenden Frau die ganzen Erlebnisse des heutigen Tages, von denen er Zeuge gewesen war und die das Mädchen wahrscheinlich zu verzweifelter Flucht getrieben hatten.


 << zurück weiter >>