Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Einundzwanzigstes Kapitel

Am nächsten Morgen fand die Aufwartefrau den Rechtsanwalt tot in seinem Bett; und schon am selben Tag brachten die Abendzeitungen die Neuigkeit. Als Todesursache war Gehirnschlag angegeben; viel war auch weiter nicht hinzuzufügen. Oskar Steinert war in den letzten Jahren mehr und mehr ein Vergessener geworden, im öffentlichen Leben hatte er ja auch keine Rolle gespielt.

Am folgenden Tag wurde seine Leiche in die Wohnung am Narvaweg verbracht. In dem Zimmer, das seit Herbst leer und abgeschlossen gestanden hatte, ward der Sarg aufgebahrt, mit Blumen und grünen Zweigen; die Wände waren schwarz ausgeschlagen, die Fenster verhängt.

Und Oskar Steinert lag da gerade so, wie sie ihn alle im Gedächtnis hatten. Alle Züge waren gemildert, geglättet, bloß über den Lippen zeigte sich etwas, das einem erstarrten Lächeln glich. Über dies Lächeln redeten auch die wenigen, die ihn sahen, die sich der alten Freundschaft erinnert hatten und gekommen waren, den Toten, den sie im Leben längst vergessen gehabt, zu sehen. Auch Ake Hjälm stattete dem Trauerhaus mit seiner Frau einen Besuch ab. Als sie weggingen, sagte Frau Liese:

»Wie glaubst du, daß das nun in Wirklichkeit alles war?«

Sie meinte die Ehe, die Trennung, an die sich alle schon nach und nach gewöhnt hatten, die aber jetzt aufs neue hervorgezogen, erklärt und besprochen wurde. Aber Frau Liese meinte auch noch mehr. Sie dachte an dies ganze zersplitterte Leben, das mit einemmal allen so rätselhaft erschien.

»Ja«, erwiderte gedankenvoll der Oberlehrer. »Ich habe schon lang' das Gefühl, als hätten wir ihm ganz ohne Grund weh getan. Die Menschen urteilen so kalt und hart. Und dann – eines Tages – stehen wir plötzlich da und merken, daß wir unrecht gehabt haben.«

Daß just sie beide dereinst zu denen gehört hatten, die Oskar Steinert am härtesten verurteilt, sein Tun, seinen ganzen Charakter am schärfsten verdammt hatten, daran dachten die Ehegatten nicht mehr. Still, von ganz neuen Empfindungen erfüllt, verließen sie das Totenbett und überließen es andern, zu deuten, was das erstarrte Lächeln um die Lippen des toten Mannes zu erzählen haben konnte. Und so wie ihnen erging es allen. In den paar Tagen, die auf den Todesfall folgten, ward Oskar Steinerts Name überall genannt, und überall gleichsam unter einer ganz veränderten – zu seinen Gunsten veränderten Anschauung.

An einem schönen Maitag – die Vögel sangen in allen Anlagen der Stadt – war die Beerdigung. Der Sarg war ganz begraben unter Blumen; langsam bewegte sich der Zug den Karlaweg entlang, durch die neuen Stadtviertel, und bog dann gegen Norden ab. Erst in der Norrtullstraße begannen die Wagen schneller zu fahren. Es war kein langer Zug, bloß wenige Wagen. Aber als man an der Kapelle angelangt war, in der die Einsegnung stattfinden sollte, wimmelte es plötzlich von Menschen, die zur Seite wichen, um den Wagen Platz zu machen. In einer Art bestürzter Verwirrung stieg Frau Ellen aus und schritt am Arm des Pastors langsam in die Kapelle. Drinnen war es voll von Leuten; viele von den Gesichtern, die sie sah, waren Frau Ellen ganz unbekannt. »Hat er so viele Freunde gehabt?« dachte sie verwundert, und als sie merkte, wie sich aller Blicke auf sie richteten, glaubte sie zu verstehen . . .

Dies war ein Begräbnis, das alle, die irgend welchen Anlaß hatten, sich einzufinden, sehen wollten. Ein Mann hatte seine Familie verlassen und war einsam, in einer armseligen Junggesellenwohnung gestorben, und zwar ein Mann, der nicht zu den am niedrigsten Eingeschätzten Stockholms gehörte. Die Frau war einmal in einer Nervenheilanstalt gewesen, und eine Freundin hatte währenddessen seinem Haus vorgestanden und in seiner Familie gelebt. Alles, längst Vergessenes, ward aufs neue zum Leben erweckt. Es sprach aus Augen und Mienen, klang in leisem Geflüster um das Trauergefolge her, während dieses still dahinschritt, weckte überall Fragen, Erinnerungen . . .

Stumm und starr nahm Frau Ellen ihren Platz im Chor ein, an der einen Seite den Sohn, an der andern die Tochter, zum erstenmal durchdrungen von dem neuen Gefühl, daß sie für alle, vor allen, die sie hier umgaben, die Witwe eines Toten war; und einen kurzen Augenblick lang ging es sogar ihr auf, daß der Tote jetzt zum erstenmal die Lebenden besiegt hatte.

Der Pastor redet am Sarg, sagt das Wenige über den Verstorbenen, was er weiß, redet von anerkannter Arbeit im Dienst der Gesellschaft, von einem Mann, der reich war an Freunden, den keiner, der ihn gekannt, je würde vergessen können. Leer, ausdruckslos, alltäglich klingen die Worte, die gar nicht hierher zu passen scheinen, und das rechte Wort, das, worauf alle warten, bleibt unausgesprochen.

Still drängt sich die Schar hinter dem Sarg her, der jetzt zu Grabe getragen wird. Etwas wie erwartungsvolle Unruhe liegt über der Menge, als glaubte man, es müsse irgend etwas geschehen. Keiner denkt an die feierlichen Worte, die der Pastor eben geredet hat, es ist, als hätte niemand sie vernommen; aller Augen starren nach der Stelle, wo jetzt der Sarg in die Tiefe gesunken ist, und vor den Augen derer, die den Toten gekannt haben, erhebt sich ein ganz neues Bild, ein neuer Oskar Steinert, den alle längere oder kürzere Zeit hindurch vor Augen gehabt und doch bis zu diesem Tag nicht gesehen haben.

Eine kleine Weile später zerstreut sich der Haufe und kehrt auf verschiedenen Wegen nach der Stadt zurück. Ein neues Urteil nehmen sie mit sich über den Toten, den sie bald alle vergessen haben werden.

Tora Ljung empfing die Nachricht von Steinerts Tod durch eine Morgenzeitung, die sie im Nachtschnellzug in der Nähe von Stockholm kaufte. Es war eine kurze Notiz über die Beerdigung, die Todesanzeige selbst war gar nicht zu ihr gelangt. Mit der Zeitung offen im Schoß saß sie stumm in ihrer Ecke; sie sah nicht die Birkenhügel, die Wälder und Seen, nach denen sie sich so sehr gesehnt hatte, an sich vorübereilen. Auf dem Sitz neben ihr schlief schwarzlockig, dunkel, der kleine Knabe, dem sie Mutter sein wollte.

Sie saß wie betäubt da und vermochte die Eindrücke, die vor diesem plötzlichen Leid über sie hereinstürzten, nicht zu fassen. Träne um Träne glitt aus ihren Augen und tropfte in ihren Schoß – – sie merkte es nicht. Als sie endlich wieder aufblicken konnte, verdichtete sich schon der Dampf der Lokomotive unter der Eisenbahnbrücke, das Wasser mit Masten und Dampfern blitzte vorüber, Häuserreihen drängten sich zu beiden Seiten des vorüberhastenden Zuges, sie war mitten in Stockholm.

Die ersten Tage wagte sie sich kaum hinaus. Es war, als fürchte sie sich vor der Leere, scheue sich, ihr zu begegnen . . . Als sie dann wieder unter Menschen ging, stieß sie überall auf den Umschlag in der Stimmung, der zugunsten ihres verstorbenen Freundes stattgefunden hatte. In derselben Gesellschaft, in der sie an jenem, wie ihr schien, unvergeßlichen Abend gewesen war, war sie auch in diesem Mai wieder einmal. Es war der Kreis Professor Grapes, der auch jetzt wieder in dem traulichen Wohnzimmer unter Herbert Spencers Bild über dem Sofa versammelt war. Gedämpft und mild klang heute das Gespräch; jeder einzelne wußte irgend etwas aus Oskar Steinerts Jugend und früherem Leben zu erzählen, jeder einzelne hatte ein paar gute Worte für ihn. Das Urteil, das einst so hastig gefällt worden war, war vergessen; und Tora Ljung dachte: »Wie leicht verzeihen doch die Menschen sich selbst!« Und sie, die so viel zu sagen gehabt hätte über den Lebenden, fand kein Wort mehr über den Toten.

Sie war froh, als das Gespräch auf andere Dinge überging, an denen gerade heute kein Mangel war. Die Gesellschaft begann über die Ereignisse der letztverflossenen Maitage zu reden; die soziale Frage kam aufs Tapet. Die Polizei hatte einen Zusammenstoß zwischen dem Demonstrationszug der Arbeiter und der öffentlichen Ordnung provoziert, man erwartete eine endlose Reihe von Verhandlungen, ein allgemeiner Streik war erklärt, ganz Stockholm war im Fieber und wartete mit aufgeregter Unruhe auf die Kraftäußerungen der unterirdischen Mächte der Gesellschaft, von denen man einer Eruption gewärtig war. Scharfe Urteile fielen über die Obrigkeit im allgemeinen und über die ganze Entwicklung der letzten zehn Jahre; die Empörung war ehrlich und aufrichtig, die Spannung, mit der man den Tagen der Unruhe entgegensah, stark.

Am ersten Abend des Streiks wanderte Tora Ljung einsam die Sturestraße entlang; sie dachte eben daran, wie verändert das Aussehen der Straße heute war. Leer, ohne das gewohnte Publikum, das sie sonst füllte, lag die breite Straße in der Maisonne da; schweigend zogen die Arbeiterhaufen vorüber. Alles ist ihr so neu, weil sie so lang fort gewesen ist; und weil sie die Einzelheiten, die vorausgegangen sind, nicht kennt, wird ihr alles zu etwas Unverständlichem, etwas Erschreckendem, Gespenstischem und Unheimlichem, als wäre eine allgemeine, große Umwälzung nahe.

Am Stureplan begegnet sie einem Herrn, den sie zu kennen glaubt, an dessen Namen sie sich aber im Moment nicht erinnern kann. Er kommt auf sie zu und grüßt – zögernd, scheu.

»Kennen Sie mich nicht mehr?« sagt er fragend. »Olof Björk.«

Toras Gesicht erhellt sich. Freundlich reicht sie ihm die Hand. Sie erinnert sich des Gesprächs über Oskar Steinert, der Sympathie des jungen Mannes für den Toten, all seiner warmen Worte. Ihr wird ganz warm und froh ums Herz beim Anblick des jungen Dichters; und aufs neue erwacht die Erinnerung an den Verstorbenen und verdrängt alles andere, was um sie her geschieht.

Der Dichter versteht sie. Ohne zu sprechen geht er langsam neben ihr her und biegt, um den vielen Menschen auszuweichen, in eine der Querstraßen ein, die nach Brunkeberg führen. Dann wendet er sich ihr plötzlich zu, deutet, ganz erfüllt von den Gedanken, die ihn beherrschen, auf die sonntäglich gekleideten Arbeiterhaufen, die still vorüberziehen, und sagt:

»Ob es – außer dem schwedischen Reichstag – in der ganzen Welt einen einzigen Menschen gibt, der nicht weiß, was das bedeutet?«

Dann wendet er sich wieder zu Tora und sagt, halb scheu: »Verzeihen Sie, daß ich davon spreche. Ich weiß ja, Sie haben Trauer, auch wenn man es Ihrer Kleidung nicht ansieht.«

Tora sieht dankbar zu ihm auf.

»Wollen Sie mir nicht erzählen, was Sie wissen«, sagt sie.

»Ich weiß gar nichts«, erwidert der Dichter. »Ich hab' ihn nicht einmal gekannt. Und das Sonderbare ist – unter allen, die ich habe von ihm sprechen hören, ist nicht einer, der etwas weiß.«

Sie sind jetzt am Johanneskirchhof; ohne daß eins von ihnen den Vorschlag gemacht hätte, setzen sie sich beide auf eine Bank, über ihnen recken die Bäume ihre neubelaubten Zweige aus; rundum an den Sandhaufen spielen die Kinder.

Und hier redeten sie lang von Oskar Steinert, redeten von ihm, wie Menschen reden, die die Erinnerung an einen kürzlich Verstorbenen zusammenführt; still, langsam fielen die Worte zwischen ihnen, in leisem, gedämpftem Ton, als fürchteten sie sich vor dem Gehörtwerden. Tora vergaß, daß sie zu einem Fremden sprach; sie fing an, von dem Freund zu erzählen, wie sie ihn kennen gelernt hatte, wie er war. Alles, was ihr nur einfiel, erzählte sie; und die ganze Zeit über hatte sie das Gefühl, als spräche sie zu des Toten Ehre und Andenken, als kenne keiner ihn so, wie sie. Zuletzt erzählte sie auch von seinen Kindern, seiner Einsamkeit, ihrem letzten Brief und der Antwort, die sie darauf erhalten hatte. Die Worte kamen ihr so leicht und einfach, als wäre sie allein mit sich selber. Und das bewegliche Gesicht des jungen Mannes ward gedankenvoll und sinnend, während er ihr zuhörte.

»Jetzt sagen sie alle, man habe ihm unrecht getan«, sagte er schließlich. »Was heißt das – einem Menschen unrecht tun?«

Tora Ljung sah vor sich nieder. Seine Worte stimmten sie noch wehmütiger.

»Schade, daß er es nicht mehr hört!« sagte sie. »Keiner weiß so gut wie ich, wie nötig er es hatte!«

Der Dichter zuckte die Achseln.

»So was sagt sich eben nicht leicht.«

»Nein,« erwiderte bitter Tora; »wir Menschen sind so weit auseinandergekommen.«

Und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Es war ein Geheimnis um Oskar Steinert. Wollen Sie es wissen?«

Der junge Mann sah sie fragend an.

»Ja,« fuhr Tora Ljung fort, »er forderte selbst das falsche Urteil der andern heraus, und wußte das auch.«

Damit erhob sie sich, reichte ihm die Hand und sagte:

»Ich habe Pflichten, die auf mich warten, und muß gehen. Schauen Sie einmal zu mir herauf, wenn Sie Lust haben.«

Der Dichter verabschiedete sich und wanderte dann allein durch den breiten Gang unter den Bäumen des Friedhofs. Er dachte an das Schicksal des Toten, an sein eignes, das kaum begonnen hatte. Er dachte an Tora Ljung, die eben von ihm gegangen war, und fragte sich: »Was tut sie jetzt? Was ist ihr Leben und sein Gewinn?« Und: »Ein einsames Weib mit einem fremden Kind«, antwortete er sich selber in jugendlicher Ironie.

In seine Gedanken vertieft war er wieder auf belebtere Straßen gelangt. Seine hohe Gestalt richtete sich auf, die Augen in dem Gesicht mit den beweglichen Muskeln flammten. Er fand die Gedanken, die durch seine Begegnung mit Tora unterbrochen worden waren, wieder. Sinnend ging er weiter, überall, wohin er kam, waren Menschen, und doch war es überall so still. Die Straßenbahnen klingelten nicht. Die Droschken rasselten nicht. Kein Arbeitsgeräusch störte die seltsame Stille. Wohin er blickte, sah er Menschen, die sich vorwärts bewegten, gruppenweise oder zu zwei und zwei.

Eine seltsame, hellwache Stimmung übermannte ihn, während er langsam, grübelnd weiter wanderte. Mit jedem Schritt war ihm, als fühlte er enger die Gedanken all dieser Männer mit, deren stummen Aufruhr er teilte, nur noch tausendfach verstärkt, mehr zusammengesetzt, umfassender, wie er glaubte. Das war kein Gedicht – das war lebende Wirklichkeit! Des Arbeiters Kampftag war es, was er heute sah, der Tag, an dem Mann für Mann aus seinem Hause ging, um seinen stummen Ingrimm in Taten zu weisen, um sein Nein zu sagen, daß alle es hörten, auch ohne Worte, um sich zu erheben gegen alles, was auf seiner Klasse lastet, den Widerstand der Gewaltigen, das Eifern der Frommen, den Druck der Reichen, die Lauheit der Ungläubigen . . .

Weiter ging der Dichter auf seinem Weg.

Langsam folgte er dem Strom, die Drottningstraße entlang, über die Nordbrücke, über die Schiffsbrücke, weiter zur Schleuse. Dort blieb er müde stehen und sah sich nach einer Droschke um. Nein! Es ist ja wahr! Heut' ist keine Droschke zu haben! Keiner tat dem andern einen Dienst. Keiner schaffte dem Hungrigen Essen, dem Müden Ruhe. Das Geld war wertlos heute. Wie ein stummer, unblutiger Aufruhr wirkte es. Still, beherrscht, um nicht mit Ordnung und Sitte in Konflikt zu geraten, wanderten die Scharen auf den Trottoirs hin und wieder. Ernste, verschlossene Gesichter mit zusammengepreßten Lippen und scharfen Augen, wohin man sah. Arbeiter im Feiertagskleid, Arbeiter, die von Stockholm Besitz ergriffen, sich die ganze Stadt aneigneten, sie veränderten, umwandelten wie im Handumdrehen, durch einen einzigen, einfachen Entschluß, an dem alle teilhatten, für den jeder persönlich die Verantwortung übernahm.

Der Dichter schlägt den Weg zur Wasabrücke ein. Es sieht aus, als hätten die Arbeiter allen Ernstes die Menschen verjagt, die sonst die Verkehrsstraßen beleben, überall dieselben stillen, drohenden Scharen, die an diesem schönen Maiabend durch den Schein der sinkenden Sonne dahinwandern. Und wie er so weiter geht, wird alles, was er sieht, ihm zu Schatten, zu menschlichen Schatten, die durch die Straßen huschen, während die Tore der großen Steinhäuser fest geschlossen bleiben hinter denen, die sich nicht herauswagen. Und einsam schreitet er durch die Schatten, bei jedem Schritt getroffen von mörderischen Augen . . .

Und der junge Dichter begreift plötzlich, was ein anderer alter Fortschrittler an einem andern Maitag vor Jahren schon begriffen hatte: daß er hier in Berührung kommt mit einem Willen, der der Eins gewordene Wille Aller ist. Und dies Bewußtsein treibt ihm die Schamröte ins Gesicht. Diese Menschen stehen nicht abgesondert voneinander, die sind nicht vom Lebenskampf zersplittert zu einer Masse von Individuen, die alle ihre eignen Wege gehen. Die sind eine Einheit, wie die obere Klasse sie krampfhaft sucht und doch nie finden kann, solang' die Brücke, die über die Kluft zwischen Hoch und Niedrig führt, nicht geschlagen – nicht tragfähig, fest und stark ist. Dunkel, drohend, selbstbewußt fühlt er diesen Willen rings um sich her; und doch ist in allem, was er empfindet, etwas, das seinen eigenen Willen stählt.

Seine Auffassung dessen, was er sieht, ist sehr verschieden von der des älteren Fortschrittlers, schon darum, weil er jung ist. Alles, was er sieht, erfüllt ihn mit einem feierlichen Empfinden wie vor einer Aufgabe, die, daran zweifelt er keinen Augenblick – seine Generation lösen wird. Und dieser Glaube macht ihm das Dasein reich. Er ist kein Demokrat, der junge Mann. Vom Herrscherwillen träumt er, der aus dem Kampf der Massen ums Recht emporwachsen soll . . .

Freimütig erwidert er alle Blicke, diese Blicke, aus denen der Klassenhaß glüht, freimütig – denn er versteht diese Menschen besser, so deucht ihm, als die andern seiner Klasse, freimütig, wie die Jugend der Zukunft entgegenblickt, wie sie beide zusammengehören.

Ruhig, gedankenvoll wandert er immer weiter durch die Scharen von Arbeitermännern und ‑frauen, die auf leeren Straßen an verschlossenen Toren vorüberziehen, von deren Schlitten das Pflaster wiederhallt. Er sieht sich um, und wieder fällt sein Blick auf all diese Tore, die heute abend so wohl verschlossen sind hinter vollen Börsen und leeren Herzen, hinter wachem Entsetzen und schlummernden Gewissen. Und plötzlich packt ihn das Verlangen nach Einsamkeit. Er will fort – fort von all den Menschen, deren scharfe Augen ihn wider Willen zu beunruhigen beginnen, fort von all den stummen Vorwürfen, deren Last ihn um so schwerer drückt, je mehr er zu verstehen glaubt . . .

Aber es ist seltsam: er kann sich nicht losreißen von diesen Menschen, deren Tritte in seinen Ohren wiederhallen. Ohne es zu wollen, geht er mit der Menge, die um ihn wogt. Wie verzaubert geht er durch die Gassen, in denen die stillen Menschen an ihm vorübergleiten. Wie in einem nie versiegenden Strom von Menschen wandert er dahin, immer langsamer und stiller werden seine Schritte, als fürchte er, die Stille der andern zu stören. Die schweigende Menge ringsum, die vielen Augen, die ihn ansehen, alles wird dem jungen Dichter auf einmal so unheimlich. In seinen Ohren ist ein Rauschen wie vom Flügelschlag vieler Vögel, die erschreckt im Unwetter umherflattern und doch nicht gegen den Sturm ankönnen, der ihnen übermächtig zu werden droht.

Und während er so ruhelos weiter geht, sinkt die Dämmerung; als sei er durch sie ruhiger geworden, blitzt auf einmal ein Gedanke in ihm auf. Ein scharfer, klarer Gedanke, der aus dem Dunkel aufstrahlt und das, was er zuvor sah und fühlte, verbindet mit dem, was er jetzt sieht, und so Klarheit in ihm schafft.

Er sieht den Geist der Sonderung, der in ein System gebrachten Sonderung in Staat, Gesellschaft, in Leben und Wirken, der Sonderung, die der Fluch unserer Zeit ist, den Geist der Sonderung, der über Menschenschicksale wegschreitet, der Recht und Unrecht auf den Kopf stellt, der die Besten isoliert und den Schlimmsten vorwärts hilft.

Und hinter diesem Chaos erblickt er seinen eigenen lichten Traum:

Schweden –
das neue, das erwartete – –

Und plötzlich weitet sich vor ihm der Raum. Er ist auf seiner Wanderung ans Wasser gelangt, das tief und bewegt unter ihm hinströmt. Von der Südstadt blinken die Lichter herüber, die Wolken am Himmel färben sich purpurn in der Sonne, die fern im Westen, dort, wo sein Auge nicht mehr hindringt, versunken ist.

 

Ende

 


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