Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Viertes Kapitel

Auch Oskar Steinert wachte in dieser Nacht. Eine schwere Studierlampe stand dicht vor ihm, hinter ihm ein aufgebetteter Schlafdiwan, der aufs Geratewohl hingestellt schien, damit der arbeitende Mann doch wenigstens gegen Morgen ein paar Stunden Ruhe finden sollte. Er schrieb auf einen großen Bogen Papier, der sich langsam mit kleinen, nervösen, meist halb unleserlichen Buchstaben füllte. Die Rollgardinen waren aufgezogen, so daß das Dämmer der Mainacht hereinschien und sich gegen den Lampenschein brach. Von dem Platz aus, an dem Steinert saß, konnte er den weiten Waldsaum vor dem Valhallaweg überblicken, und wenn er aufstand, hatte er vor sich den Exerzierplatz, unendlich, stumm, düster, im Halbdunkel einer wilden, öden Heide ähnlich.

In rasender Eile kratzte die Feder übers Papier, Seite um Seite füllend. Auf dem Gesicht des Schreibenden lag ein gespannter, angestrengter Ausdruck, und während er ganz mechanisch die Gedanken und Sätze formte, deren unfehlbare Sicherheit berühmt war, und die dazu bestimmt waren, am nächsten Tag einen Menschen zu vernichten, beschäftigte sein Gehirn sich inzwischen mit ganz andern Dingen. Oskar Steinert war über sich selbst erbittert. »Warum hab' ich mich dem Mann überhaupt genähert?« dachte er. »Was geht er mich an? Wozu dient es, alles, was doch tot ist und nie wiederkehrt, aufs neue zum Leben zu erwecken? Kann ich ihm sagen, was für ein entsetzlicher Fiebertraum mein Leben schon lang ist? Und wenn ich das nicht kann – was will ich dann von ihm? Ihn daran erinnern, daß der tote Oskar Steinert noch immer lebt?«

Mit einer raschen Bewegung zog er seine Uhr, fand, daß es schon über zwei war und wollte sie eben wieder einstecken, als die Tür vorsichtig aufging und ein junges Weib eintrat. Sie war von kleinem Wuchs und bewegte sich mit der sicheren Ruhe, die Krankenpflegerinnen eigen ist. Auf dem Kopf trug sie das weiße Häubchen des Roten Kreuzes; und als sie vor dem Schreibtisch stand, wirkten ihre klugen, freundlichen Augen auf den überanstrengten Mann fast wie eine beruhigende Arznei. Seine Miene erhellte sich augenblicklich. Aber als er auf eine unausgesprochene Frage eine ungünstige Antwort zu erhalten schien, verdüsterte sich sein Antlitz wieder zu einem unheimlich gequälten Ausdruck.

»Die gnädige Frau läßt bitten, ob der Herr Rechtsanwalt nicht zu ihr kommen möchte.«

Steinert machte eine Gebärde hoffnungsloser Müdigkeit und warf einen verzweifelten Blick auf die halbfertige Arbeit auf dem Schreibtisch.

»Eigentlich wär's dringend nötig, daß ich mich jetzt legte, Schwester Emma«, sagte er.

»Die gnädige Frau ist so außergewöhnlich unruhig heut' nacht«, lautete die Erwiderung. »Ich kann sie gar nicht zum Einschlafen bringen.«

Ohne ein weiteres Wort erhob sich der Rechtsanwalt und ging mit der Krankenschwester. Und wieder sah es aus, als wäre ein ganz neuer Mensch in dem seltsamen Mann erwacht. Seine Schritte waren kaum hörbar, seine sonst so nervösen, unbeherrschten Bewegungen waren ruhig und sicher, und als er ins Schlafzimmer trat, trug sein Gesicht einen Ausdruck von Weichheit und beherrschter Kraft, den nur wenige kannten an diesem Mann, der bei allen, die mit ihm in Berührung kamen, für sein unruhiges Wesen und eine gewisse Unbeherrschtheit der Laune, die die meisten von ihm zurückschreckten, bekannt war.

Oskar Steinert stand auf der Stelle, die für ihn alles auf der Welt bedeutete, der Stelle, an die er mit unzerreißbaren Banden gebunden war, vor der alles andere in seinem Leben hatte weichen und in den Schatten treten müssen. Das Gesicht, das sich jetzt aus den Kissen nach ihm emporwandte, war wachsbleich; die kleinen Augen mit ihrer unbestimmbaren Farbe brannten in fieberischer Glut. Alles war hell in diesem Gesicht, dem der kleine Mund etwas Kindliches gab und in dem das Fehlen deutlich gezeichneter Augenbrauen den Ausdruck gleichsam verwischte. Die Augen glühten angstvoll und bittend. Als der Blick des Mannes sich in sie versenkte, sah er dort das Schicksal, durch das er gebunden war.

»Liebe Ellen!« sagte Steinert weich. Er bückte sich und küßte die blassen Lippen.

»Es ist so schwer heut' nacht«, flüsterte die Frau. »Ich kann nicht allein sein. Schwester Emma ist so hart zu mir!«

Der Rechtsanwalt sah sich rasch um und merkte, daß sie beide allein waren.

»Sie ist fortgegangen«, fuhr die Kranke fort. »Sie geht immer, wenn du kommst. Schlafen die Kinder?«

Sie warf ihrem Mann einen Blick zu, als drohe irgendeine Gefahr.

»Ja, ja«, sagte er hastig. »Sie schlafen alle beide. Robin ist mit mir spazieren gewesen, und als wir heimkamen, hab' ich ihm und Ebba Märchen erzählt, bis sie zu Bett gingen.«

Der Rechtsanwalt schloß einen Moment die Augen. Es quälte ihn, daß er seiner Frau etwas vorlügen mußte; aber er wußte, es war nötig. Er mußte ausgehen, fort sein, sich betäuben. Sonst hielt er dies Leben nicht aus, das, mit kurzen Pausen, schon jahrelang währte. Darum fuhr er fort, ihr vorzudichten wie einem Kind. Mit sanfter Stimme, als erzähle er ihr Märchen, sprach er von sich und den Kindern, was Robin gesehen und gesagt, wie Ebba gespielt und von Mama gesprochen hatte, die bald wieder gesund sein würde. Er war unermüdlich im Erfinden von Einzelheiten, und während er so sprach, lag die Kranke ganz ruhig und lauschte seinen Worten mit einem schwachen, verträumten Lächeln.

Als er verstummte, sagte sie:

»Es ist so schwer gewesen heut' nacht. Ich wachte auf und glaubte, du seist tot und niemand kümmere sich um mich. Und dann hab' ich etwas gesehen . . .«

Ihr Gesicht verzerrte sich in der Erinnerung; sie zog mit beiden Händen den Kopf des Mannes an ihren Mund herab, so daß sie es ihm zuflüstern konnte:

»Ich habe Ihn gesehen!«

»Wen?«

»Ihn. Du weißt schon. Ihn – ich hab' dir ja von ihm erzählt. Die Schwester war fortgegangen und hatte mich allein gelassen. Da kam er. Er brauchte gar nicht die Tür zu öffnen. Er kam so. Er besucht mich, wenn ich allein bin. Er legte seinen Hut auf den Stuhl dort und stellte sich unten ans Bett. Und dann fing er an zu sprechen. Er sprach schlecht von dir, sagte, du würdest mich verlassen und nie mehr zurückkommen. Ich wäre dir eine Last, sagte er, und wenn die Last zu schwer würde, so würfen die Menschen sie von sich. Er hat ein Parfüm an sich, das nach Heu riecht. Ich kannte es wohl. Es war das gleiche, das du hattest – früher, als ich noch jung war und glücklich – ach, so glücklich! Und dann sah ich – der da saß, das warst ja du selber. Du warst es – du standest da und sahst mich an mit kalten Augen und sagtest, du würdest fortgehen und nie wiederkommen.

»Du gehst doch nie fort von mir? Nie?« schloß sie.

»Nie, Kleinchen, nie!«

Die ganze Zeit, solange sie sprach, saß Steinert ganz still, ließ die Kranke reden und streichelte bloß ihre weiße, schmale Hand, die er zwischen den seinen hielt. Ihn fröstelte vor Müdigkeit, Hoffnungslosigkeit und Grauen, aber er dachte nur immer an das Glück, das so jäh zerbrochen war, als die Krankheit ihr Heim überfallen hatte, an das Glück, das wiederkehren würde, wenn der böse Traum, in dem sie jetzt lebten, entschwunden und sie beide wieder miteinander zum Leben erwacht sein würden.

Als seine Frau schwieg, begann er ruhig, als habe er nichts gehört, wieder zu reden, während er die ganze Zeit über fortfuhr, die weiße Hand zu streicheln, die unbeweglich zwischen den seinen lag. Er wußte längst nicht mehr, was er sprach. Aber die Worte flossen ihm in einem unversiegbaren Strom von den Lippen. Er dichtete, erfand, log, erzählte von sich und den Kindern, von den Kindern und sich, bis sich die Augen der kranken Frau schlossen und die Angst in ihrem Antlitz einschlief und still ward. Dann machte er sich sachte los von der kleinen Hand, die zwischen seinen beiden Händen lag, ging zum Toilettentisch und öffnete eine Schieblade; er suchte nach einem Gegenstand, mit dem er sich eifrig, gebückt, im Dämmerlicht beschäftigte. Darauf kehrte er ans Bett zurück, entblößte das eine Bein seiner Frau, führte mit raschem und sicherem Stich die Morphiumspritze unter die Haut ein und drückte zu. Einen Augenblick lang verzog sich das Gesicht der Kranken im Schmerz, aber bald nahmen die Züge ihre empfindungslose Ruhe wieder an. Und schließlich ging ein Schimmer von Glück über das blasse Antlitz auf den Kissen.

»Danke!« klang es von den schon halbschlummernden Lippen; und sie schlief ein.

Der Rechtsanwalt richtete sich auf und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. »Jetzt muß ich schlafen«, dachte er. »Auch ich muß schlafen!« Nachdem er noch der Krankenwärterin, die im Lehnsessel vor der Tür schlummerte, ein paar Worte gesagt hatte, ging er durch die dunklen Zimmer und verschwand in der Speisekammer. Als er in sein Zimmer zurückkehrte, hatte er eine Flasche Pilsner in der Hand, die er gleich darauf hastig leerte. Müde, matt saß er in seinem Sessel vor dem Schreibtisch, außerstande zu denken oder sich zu bewegen. Er sah aus wie ein gebrochener Mann.

Eine Weile darauf raste die Feder wieder über die großen Papierbogen. Als der Rechtsanwalt endlich todmüde zusammensank, ging die Uhr auf vier.

 


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