Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Vierzehntes Kapitel

Das Glück, das Oskar Steinert so leidenschaftlich ersehnt hatte, kam nicht. Im Verhältnis zwischen den beiden Gatten war etwas zerbrochen, und wie tief auch der Rechtsanwalt in seinem selbstgeschaffenen Glückstraum befangen war, er mußte es dennoch fühlen und erkennen. Ein Zweifel lag auf der Lauer hinter seinem Glück, ein Zweifel, dem er kein Schweigen gebieten konnte; und dieser Zweifel war geweckt worden durch die Bitterkeit, die seine Frau schon am ersten Tag gezeigt hatte, als Tora Ljungs Name erwähnt wurde. Er wurde noch genährt durch mancherlei Umstände, die zufällig zusammentrafen, an sich kleine, unbedeutende Geschehnisse, die aber zusammen doch ein Gewebe von Unruhe und qualvoller Beklemmung bildeten, das sein ganzes Seelenleben umspann. Während er äußerlich die Rolle des glücklichen Ehemannes durchzuführen suchte, beobachtete Steinert in dieser Zeit seine Frau zum erstenmal; und seine bisherige Hingebung begann einer kalten, eigensinnigen Unruhe zu weichen, die er selber nicht verstand. Je mehr er nach einer Erklärung suchte, desto mehr Anlaß zum Zweifel glaubte er zu finden, desto mehr fühlte er sich davon überzeugt, daß seine Frau im innersten etwas barg, was sie vor ihm verheimlichte, was sie ihm entzog. Wie ein geheimnisvolles Schweigen war es, das sie umgab, wenn sie allein waren, und wenn er einmal unerwartet zu ihr und den Kindern ins Zimmer trat, merkte er, daß die Fröhlichkeit sofort verstummte. Mehr und mehr kam es ihm vor, als wäre seine Frau zu den Kindern heimgekehrt, aber nicht zu ihm, und wenn er von Hause fort war, ließen ihm die Gedanken an sie auch keine Ruhe.

Was eigentlich ihrem Verhältnis fehlte, darüber wurde er sich jedoch nicht klar. Ihm war, als lebe er in ständiger Erwartung von irgend etwas Geheimnisvollem, Unerklärlichem, wovon ihm nur eine schöne Erinnerung geblieben war, das er nie wieder sehen würde. Manchmal schimmerte es durch das Wesen seiner Frau wie ein Versuch, sich mit etwas von der einstigen Zärtlichkeit dem Mann wieder zu nähern. Aber immer sah es aus, als wäre dieser Wunsch zu schwach oder würde erstickt von anderen, gefährlichen Mächten, die keiner kannte, vielleicht nicht einmal die Frau, in der sie doch tätig waren, selbst. »Vielleicht geht es ihr gerade so wie mir«, dachte Steinert. »Vielleicht trägt auch sie eine heimliche Sehnsucht in sich nach dem, was einst war.« Und bei diesem Gedanken ging es ihm ganz plötzlich auf: »Tag für Tag sehne ich mich, sehne mich nach meiner Frau! Sie ist wieder bei mir – und doch ist sie weit weg. Was einst war, kommt nie wieder.«

Aber die Sehnsucht nach dem Vergangenen war so stark in Oskar Steinert, daß sie die Kampflust in ihm weckte, das Verlangen, sich das Verlorene wieder zu erobern. Sonst hatte das Leben keinen Sinn mehr für ihn. Wenn er auf sein Bureau ging, grübelte er über allerhand Mittel und Wege nach; wenn er an der Arbeit saß oder auf dem Gericht war und für einen Klienten das Wort führte, fühlte er dies ständige Nachgrübeln in sich wie einen schmerzhaften kranken Punkt, dessen Qual nur auf einen Augenblick durch die Notwendigkeit, klar zu denken und zu handeln, betäubt wurde. Wenn er heimkam und die Seinen wieder sah, verfolgte es ihn. Und doch kam über seine Lippen nie die Frage, die in ihm brannte: »Warum ist nicht alles wie früher? Was steht zwischen uns?« Ihm war, als müsse sich ihr ganzes Verhältnis von selbst auflösen, sobald er den Versuch machte, zu sprechen.

Es ist etwas Zartes und Empfindliches um das Verhältnis zwischen zwei Menschen; fast unmerkbar sind die Fäden, die sie vereinen, noch unmerkbarer die Kräfte, die an diesen unsichtbaren Fäden zehren, sie mürbe machen und schließlich zerreißen. In dem Leid, das da den Menschen packt, sucht er nach Heilmitteln, selbst auf die Gefahr hin, daß das Mittel, das er wählt, sich als Gift erweist. Er handelt aus einer Verzweiflung heraus, die ihn blind macht, und die Sehnsucht nach Glück wird so qualvoll stark, daß er die Gefahr gar nicht sieht.

Oskar Steinert kam bald auf den nicht ungewöhnlichen Gedanken, daß er seine Frau vielleicht wieder erobern könne, wenn er ihr Gelegenheit verschaffe, sich zu zerstreuen; und er beschloß, dies Mittel zu versuchen, trotzdem es seiner Natur widerstrebte. Aber die Jahre, in denen seine Frau krank gewesen war, hatten den Rechtsanwalt sehr einsam gemacht; die Notwendigkeit, anderen das Wesen dieser Krankheit zu verschweigen, hatte auch um ihn eine Leere geschaffen. Zufällige Bekannte hatte er wohl, Geschäftsfreunde, Besuche aus der Provinz, die ab und zu die Einsamkeit der beiden Gatten belebten. Aber eigentliche feste Freunde hatte er nicht; die alten, die er früher besessen, hatten in den schweren Jahren seiner Zurückgezogenheit neue Beziehungen angeknüpft und waren anderweitig in Anspruch genommen. Neue Kreise hatten sich rings um ihn und seine Frau gebildet. Aber sie selber standen außerhalb.

Es gab jedoch ein einfaches Mittel für den Rechtsanwalt, seiner Frau den Umgang und die Zerstreuung zu verschaffen, die er für nötig für sie hielt. Stockholm hatte sich in den letzten Jahren, während er fern von der Welt lebte, ganz umgestaltet und eine neue Form des Verkehrslebens geschaffen, die die alten Formen nicht verdrängte, sondern sich ihnen nur an die Seite stellte als eine neue, lockende Art der Zerstreuung. Es waren jetzt nicht mehr nur die Männer und Reisenden, die Restaurants und Cafés bevölkerten. Ein Diner im Hotel Rydberg oder Grand-Hotel gehörte nicht mehr zu den seltenen Gelegenheiten, zu denen der Familienvater vielleicht ein einziges Mal seine Frau und die erwachsenen Kinder feierlich einlud. Die Restaurants hatten auch die Frauen an sich gelockt, und die Frauen strömten hin, um nicht mehr abends allein sein zu müssen, um sich den Männern gleich zu fühlen – auch in ihren Unsitten. Dazu kam der Gedanke an die unerträgliche Langeweile und steife Konvenienz der großen Gesellschaften. Im Restaurant tat jeder, was er wollte. Keiner war Wirt, und keiner war Gast. Die Damen gaben sich dem Genuß eines heitern Diners hin, ohne daß ihnen die Angst, ob auch jedes Gericht gelungen sei, die Kehle zuschnürte, ohne Zuschuß zur Haushaltungskasse fordern zu müssen, ohne irgendwelche Mühe mit der Anordnung des Ganzen zu haben. Der Mann konnte binnen einer halben Stunde per Telephon ein Diner arrangieren, die Frau brauchte nur rasch Toilette zu machen und sich in eine Droschke zu werfen. Improvisierte Veranstaltungen sind ja bekanntlich meist die heitersten. Außerdem war im Restaurant der Mann ein ganz anderer als daheim. Daheim war er sparsam und schwerfällig, murrte über die kostspieligen Diners und knickerte, wenn er bezahlen sollte. Draußen war er in seinem Element, an die Restaurantpreise war er von seiner Junggesellenzeit her gewöhnt, er knickerte nicht und brummte nicht, sondern aß und trank und war vergnügt. Wenn's ans Bezahlen ging, war er meist so guter Laune, daß die Ausgabe ihm eine Kleinigkeit schien.

Im Restaurant traf man auch immer Menschen. Für den Verkehr im Haus waren doch gewisse Formalitäten nötig, um die Leute überhaupt erst zusammenzubringen; draußen war all das so viel einfacher. Sogar die berüchtigte schwedische Steifheit und Vorliebe für Formen duckte sich geschmeidig vor der maßlosen Genußsucht, die in den obersten Schichten der Bevölkerung herrschte. Die Wirte, die merkten, woher der Wind wehte, richteten sich danach ein. Von den neunziger Jahren an taten sich alle größeren Restaurants gradezu als Familienlokale auf, ohne daß darum die Privatwohnungen sich verkleinert hätten. Und am Ende des Jahrhunderts hatte sich diese Sitte als eine feststehende, wohlorganisierte Einrichtung eingebürgert. Ein langweiliges Pflichtdiner endete gewohnheitsmäßig mit einem Souper im Restaurant, wo die Stimmung frei war und die Heiterkeit ganz von selber kam; ein eintöniges Familiensouper fand am nächsten Tag im vertrauten Kreis in irgendeinem Lokal seine Fortsetzung, bei der sich Wirte und Gäste schadlos hielten für den trübseligen Zwang, der sie tags zuvor in einem langweiligen Heim versammelt hatte.

Und während die Restaurants sich füllten, verödete das Heim. Was in diesem vorging, wenn Mann und Frau fort und die Kinder allein waren – wer konnte das wissen! Kinder und Dienstboten verklatschen sich gegenseitig bloß ganz ausnahmsweise, und wenn das Gewissen des Anklägers ganz rein ist.

Jedenfalls war es ein lustiges Leben. Damen, die ihrer Lebtag kaum an einem Glas Wein genippt hatten, tranken jetzt ohne Ziererei Likör und Punsch und fühlten sich recht wohl im Lärm dieser eleganten täglichen Orgie, die sie umbrauste. Es amüsierte sie, so viele Menschen um sich zu sehen, und es verlieh ihren Schritten gleichsam neue Sicherheit, daß jetzt auch sie Bekanntschaft gemacht hatten mit diesem Leben, das früher ein Vorrecht der Männer gewesen und mit einem Gemisch von geheimem Grauen und von Begehrlichkeit betrachtet worden war. An Gesprächsstoffen fehlte es bei diesen Zusammenkünften nie. Ganz Stockholm traf sich hier, Tisch an Tisch. Grüße wurden ausgetauscht, man besuchte einander an den verschiedenen Tischen, man trank einander zu, oder man ging steif und fremd aneinander vorbei, einzig vereint durch das gemeinschaftliche Bedürfnis nach Stimulanz und Vergessenheit, das allem künstlichen Genuß zugrunde liegt. Jeder kannte des andern Leben, Eigenschaften, Beziehungen und Geheimnisse. Jeder stellte sich selber aus als willkommenen Gesprächsstoff für eine zufällige Ansammlung von Individuen, die alle dieselbe verdorbene Luft einatmeten, von denselben elektrischen Flammen geblendet wurden, sich alle im gleichen Übermaß betäubten. Alle machten reichlich Gebrauch von dieser Gelegenheit, sich selber und ihre Nebenmenschen zu sezieren und zu verspotten, zu verkleinern, zu verklatschen und zu verleumden. Von Tisch zu Tisch flogen leichtverständliche Blicke, Lächeln, halblaute Worte und Gebärden. Und das Wort, das auf aller Lippen war und alles erklärte, hieß: »Amüsieren muß sich der Mensch!«

In diese Welt führte Oskar Steinert seine Frau; und nachdem sie erst an dem Gift geleckt hatte, ward es ihr bald zum Bedürfnis. In diese Welt begleitete er sie, und aus einem Zuschauer, der glaubte, einmal an diesem Leben teilnehmen und dann wieder davongehen zu können, wie er gekommen war, wurde ein Unglücklicher, der gewohnheitsmäßig dorthin strebte. Das Hotel Rydberg wurde Oskar Steinerts ständiges Abendlokal, und es dauerte nicht lange, so war er dort mehr daheim, als in der neuen Wohnung, die für ihn eigentlich bald nur noch eine Schlafstelle war. Früh morgens ging er auf sein Bureau, den Tag verbrachte er mit Erledigung der Massen von Geschäften aller Art, die einen Advokaten so ziemlich in jeden noch so geheimen Winkel des Großstadtlebens führen, mittags oder abends, nicht selten beide Male, aß er außer dem Hause. Im Anfang kam es ihm vor, als tue dieser Wechsel ihrer ganzen Lebensweise seiner Frau gut. Ihre Stimmung ward gleichmäßiger, ihr ganzes Wesen freier, sie konnte lachen wie früher und nahm lebhaft teil am gesellschaftlichen Zusammensein. Wenn auf dem Heimweg das Verdeck der Droschke sie umschloß, konnte sie sich an ihn schmiegen, seine Hand drücken und sagen: »Wieviel du für mich tust!«

Wenn er sie dann fragte: »Magst du gern mit Menschen zusammen sein?« so antwortete sie: »Ich glaube, ja.« Die Antwort ließ mancherlei Deutungen zu; da er aber das Gesicht seiner Frau nicht sehen konnte, deutete der Rechtsanwalt sie nach seinem Wunsch und gab sich auch weiter seinen Hoffnungen hin. Der Herbst verging, der Winter kam. Weihnachten rauschte vorüber mit Geschenken und Festlichkeiten, mit Schlittenfahrten und ein paar Abenden des Alleinseins mit den Kindern. Die Neujahrsrechnungen waren bezahlt und vergessen, und schon war das neue Jahr ein paar Monate alt. Die ganze Zeit über hatten der Rechtsanwalt und seine Frau das Stockholmer Leben mitgelebt, wie man das so nennt, und das Verhältnis zwischen ihnen war langsam wieder in den alten Zustand zurückgeglitten, den Steinert einst, als er zuerst begann, unter Fremden Heilung zu suchen, so schmerzlich tief empfunden hatte. Der Unterschied zwischen damals und jetzt war nur, daß er jetzt nicht mehr darunter litt. Seine Gefühle hatten sich abgestumpft, und die Forderungen, die er früher an ein Zusammenleben gestellt hatte, waren bescheidener geworden. Sie waren zusammengeschrumpft, ohne daß er es selber merkte; und wenn er jetzt versuchte, darüber nachzudenken, wie er eigentlich in diese ganze Lebensweise hineingeraten war und was er damit bezweckte, so wußte er das ebensowenig, als aus welchem Grund er sie eigentlich weiterführte.

Diese Frage stieg eines Abends plötzlich in ihm auf, während er an einer großen gedeckten Tafel in der innersten Abteilung des Speisesaales saß. Das Souper war zu Ende, der Kaffee kam, die Zigarren wurden angezündet, und durch die offenen Fenster drangen vom Café herüber das Geräusch lachender, schwatzender, essender und trinkender Männer und Frauen und die abgerissenen Klänge des Orchesters, das eben die Schlußnummer spielte. Ohne daß er sich darüber klar wurde, woher eigentlich der Gedanke kam und weshalb er ihn gerade jetzt beunruhigte, tauchte ganz plötzlich in seinem Innern die Frage auf:

»Warum sitze ich hier? Was gehen mich diese Menschen an?« Er sah auf seine Frau. Sie trug eine helle Seidenbluse, die leicht ihre üppige Figur umschloß; das Haar war wohl frisiert und saß in einem Knoten auf dem Kopf, in einer Weise, die sie ihm gleichsam fremd machte.

Eben lächelte sie ihrem Mann über den Tisch weg zu und nippte an ihrem Likörglas; ihre Augen glänzten hell. Dem Rechtsanwalt kam plötzlich die Empfindung, daß er seine Frau, ohne es zu wissen, auf Irrwegen führe, und daß, wenn er klug gehandelt hätte, dieser Winter, auf den er jetzt in Gedanken zurückschaute, nicht hätte so hoffnungslos zerrissen, unruhig und leer zu sein brauchen. Ihm war, als sähe er in diesem Augenblick alles viel klarer und zugleich auch viel furchtbarer als seit Monaten. Ein neuer Gedanke arbeitete sich in ihm empor, wollte sich mit Gewalt Gehör verschaffen; er sagte es sich endlich selber; nichts war anders geworden – jetzt nicht – und nie – und es würde auch nie anders werden. Er hätte diese letzten Monate zurückrufen, irgend etwas Wichtiges, das sich nicht mehr ändern ließ, doch noch ändern, etwas, das ihm aus den Händen glitt, festhalten, etwas, das er verloren hatte und das er doch um keinen Preis missen mochte, wieder suchen mögen . . . Und wie eine Entdeckung kam es plötzlich über ihn: eigentlich müßte er in seinem ganzen Leben alles, alles noch einmal anders machen!

Neben ihm lehnte sich Frau Granat in ihrem Stuhl zurück mit unbändigem, halbersticktem Gelächter, das ihr Tischherr zur Linken durch eine Anekdote ihr entlockt hatte. Frau Granat war im Begriff, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen; sie zeigte sich viel in Gesellschaft, um den Schein aufrecht zu erhalten. Rechts von ihm saß Konsul Roßling, schweigsam, langsam eine riesige Importe rauchend, und lauschte mit spöttischem, verstohlenem Lächeln dem Lachen der blonden Frau. »Muß eine gute Anekdote sein, die Direktor Verner Ihnen erzählt hat«, sagte er. »Darf man sie nicht auch hören?«

Die Anekdote wurde wieder erzählt, und während die ganze Gesellschaft aufhorchend die Köpfe über dem Tisch zusammensteckte, gingen die Gedanken des Rechtsanwalts weiter und weiter ihre eigenen Wege, forschten, fragten, reizten und peinigten ihn. Um sich zu betäuben, bestellte er Whisky und trank ziemlich viel. Schweigend saß er so am Tisch, von der ausgelassenen Schar Herren und Damen umgeben, folgte ganz mechanisch der Unterhaltung der anderen, lächelte, wenn sie lächelten und warf da und dort ein paar Worte dazwischen, um zu zeigen, daß er sich an dem Gespräch beteiligte. Und die ganze Zeit über wandelten seine eignen Gedanken weiter auf der Bahn, die sie betreten hatten; empfindungslos, kalt für all die Heiterkeit um ihn her, erwachte er, je mehr er trank, mehr und mehr zum Bewußtsein. Allein, einsam, undurchdringlich, gedeckt hinter einem vieldeutigen Lächeln, das auf seinem Gesicht kam und ging, dachte er weiter . . . Ein Fremder war er für die Menschen um ihn her, ein Fremder für seine Frau, ein Fremder für sich selber. Von weit her war er gekommen, den Weg zurück hatte er verloren, ihn wieder zu finden, umzukehren, dazu hatte er nicht mehr die Kraft. Seine Umgebung war ihm zum Ekel. War das Freude, Ruhe? Die Menschen, die da mit ihm an einem Tisch saßen, waren durch nichts zusammengeführt als den Zufall. Keiner wollte was vom anderen. Jeder einzelne von ihnen konnte sterben, verschwinden, ohne daß darum sein Stuhl am nächsten Tage leer zu stehen brauchte. Was war denn das überhaupt? Jetzt scheute er nicht länger zurück vor dem Wort. Eine Orgie war es, eine fortgesetzte Orgie; und keiner schämte sich. Es war die Erschaffung einer neuen Menschenklasse, die da erwuchs, und für die er in einer Art bizarrer Erbitterung das Schimpfwort: »Gesellschaftsboheme« erfand. Was war all das ihm? Betäubung! Was war es den andern? Steinert wich dem Gedanken nicht mehr aus: überhitzt waren sie alle, wie er. Durch den Mangel an ruhigem Leben, durch Genußsucht, durch schlechte Geschäfte und durch zu gute Geschäfte, durch Glück und durch Unglück . . . Alles überhitzt. Alles ohne Gleichgewicht. Und das einzige war noch, daß man seine Gedanken zum Schweigen brachte und das Leben weiter rauschen ließ. Warum saßen sie alle sonst hier? Wozu kamen sie zusammen? Weshalb hatten sich die Sitten so geändert, daß die Tugend ein Wort war, das in der Sprache überhaupt nicht mehr geduldet wurde? Warum beherrschte die Boheme die Gesellschaft, nicht die Boheme der Bücher mit ihrem sorglosen Lächeln auf den Lippen und dem unschuldigen Herzen, sondern die freche, sittenlose, zynische Gesellschaftsboheme, die als Fundament ihrer Existenz das Geld braucht und mit seiner Hilfe verantwortungslos und prahlerisch den Gesetzen der Gesellschaft Trotz bietet? In Gedanken, in Worten, in Taten.

Steinert sah, wie die Tische sich leerten und das Gas heruntergeschraubt wurde. Vom Vorzimmer her klang eine betrunkene Männerstimme, die laut mit dem Portier zankte. Der Oberkellner ging durch den Saal, ruhig, elegant, unzweideutige Blicke nach dem Tisch werfend, dessen Stammgäste dafür bekannt waren, daß sie die Bedienung über die Zeit hinaus wach hielten.

Eine entsetzlich qualvolle Beklemmung überfiel Steinert. Der verflossene Sommer fiel ihm wieder ein. Mit schlafwandlerischer Sicherheit vermied er es, auch nur in der Erinnerung an Tora Ljung zu denken. Er dachte bloß daran, was er gehofft hatte von jenem Sommer, der ihm jetzt so fern, so fern schien. Er dachte an die neue Wohnung, in die er gezogen war, an das erste Mittagessen im neuen Heim, als sie alle wieder vereint waren, und sein Blick suchte den seiner Frau. So gewaltig kam die Sehnsucht über ihn, los zu kommen, fort von hier, von dieser Gesellschaft, von den Menschen, die ihn umgaben, daß es ihm ganz unfaßlich erschien, daß seine Frau die stumme Stimme, die in ihm schrie, nicht hören sollte, die Stimme, die da rief, wie ein Mensch in äußerster Not nach dem schreit, der ihm eine Hilfe sein soll im Leben . . .

Die Vorstellung, daß seine Frau die Worte, die er nicht aussprach, gehört haben müsse, beherrschte den Rechtsanwalt so völlig, daß er noch in der Droschke auf der Heimfahrt darauf wartete, aus ihrem Mund die Bekräftigung des Wunsches zu hören, der ihm einfach menschlich und natürlich erschien. Aus seinen Träumen weckte ihn die Stimme seiner Frau, die sagte: »Du warst so still heut' abend?«

Es lag eine Frage in ihren Worten, und Steinert antwortete kurz: »Ich glaubte, du wüßtest warum.«

»Was meinst du damit?« klang es aufs neue fragend aus dem Dämmer der Droschke

Ohne zu antworten kroch Steinert in seiner Ecke in sich zusammen. Grübelnd saß er so, während die Droschke weiter rollte.

 


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