Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Sechstes Kapitel

Tora Ljung wohnt in der Johannesstraße, der schmalen Straße, die am Kirchhof gleichen Namens vorüberführt. Kommt man aus dem Vorzimmer, in dem die kleine Gasflamme brennt, so glaubt man erst im Stockfinstern zu stehen. Das Eßzimmer ist dunkel, das Schlafzimmer ebenfalls, der Salon liegt im Halbdämmer. Bloß im hintersten Zimmer brennt eine große Lampe auf einem runden, alten Mahagonitisch mit klauenförmigen Füßen, die sich zierlich über den dicken roten Teppich biegen. Die Vorhänge sind zurückgezogen, trotzdem die Lampe brennt. Von der steilen Höhe, auf der das Haus steht, blickt man weit über den Humlepark bis fern zum Kristinaweg, sieht das ganze Stockholm, das über die allmählich verschwindenden Baracken fortwächst.

Die Wohnung, die für eine einzelne Dame sehr geräumig ist, deutet auf Wohlstand und auf die Freude am Alten. Im Eßzimmer stehen schwere, altersbraune Eichenmöbel, der Salon ist fast leer, bis auf einen großen Mahagonitisch, ein gerades Sofa und Empirestühle an den Wänden, die einem prachtvollen Smyrnateppich, der jetzt im Halbdämmer liegt, Platz lassen. An der hinteren Wand steht ein Klavier. Im innersten Zimmer, wo jetzt Licht ist, herrscht überall Wärme – in Farben, in Stoffen, in Menge und Muster der Sofakissen, wie sie auch aus dem Feuer strömt, das im Kachelofen glüht. In einem großen Lehnstuhl sitzt Oskar Steinert; es ist fast merkwürdig, zu sehen, welch sonnige Ruhe jetzt über dem Gesicht liegt, das sonst so düster und erregt oder noch öfter gleichgültig und leer ist.

»Es ist eine solche Erleichterung, bei dir zu sein!« sagt er plötzlich.

Tora Ljung bewegt sich rasch und lebhaft im Zimmer umher. Sie ist von schlankem Wuchs, und nur die scharfen Linien in ihrem Gesicht verraten ihre Jahre. Sie hat eine ganz besondere Art zu lächeln – nicht bloß mit den Lippen, sondern mit dem ganzen Gesicht, das plötzlich aufstrahlen und ganz licht und warm werden kann. Sie selber ahnt gar nicht, wie anders sie dadurch ist als andere. Oskar Steinert kennt sie in- und auswendig. Eine Art Instinkt hat sie gelehrt, daß dieser Mann mit seinem gewaltsamen, kantigen Wesen eigentlich ein weicher Träumer ist, der den Kampf des Lebens mit hinter einer Maske verstecktem Gesicht kämpft. Sich zu ihm vorbeugend, erwidert sie:

»Du brauchst dich bei mir nicht anzustrengen, meinst du.«

»Ja, gerade!« sagt er zufrieden und schließt die Augen.

Lange sitzt er so; er wundert sich selber drüber, wie alles, was ihm noch kurz vorher so übermächtig schwer schien, plötzlich so viel von seiner Macht verloren hat. So frei fühlt er sich, als könne nichts Schlimmes ihn mehr erreichen, so stark, als wäre die Last, die er zu tragen hat, gar nicht mehr schwer. Das liegt daran, daß er sich hier nie zu erklären, nie zu fürchten braucht, ein Wort könne anders aufgefaßt werden, als er es meint.

»Ach,« sagt er lächelnd, »es ist schrecklich anstrengend, sich immer von Fremden umgeben zu fühlen.«

Das Bekenntnis, das in diesen einfachen, so ohne Verhüllung ausgesprochenen Worten liegt, entgeht der Freundin nicht. Mehr als einmal schon hat Steinert mit ihr über seine Frau gesprochen, aber auch dann hat er nur selten ihren Namen genannt oder sich überhaupt direkt auf Mitteilungen über seine Ehe eingelassen. Zwischen diesen beiden hat sich ein Verständnis entwickelt, das Andeutungen und halbgeäußerten Ansichten dieselbe Kraft gibt, wie langen Bekenntnissen und ausführlichen Erklärungen. Steinert hat für gewöhnlich überhaupt nicht das Bedürfnis, von dem zu sprechen, was ihn drückt. Auch ohne Worte hilft ihm die bloße Gegenwart der Freundin über alles weg, was ihn sonst verwundet und zerreißt. In ihrer Gesellschaft wird er das, was er sonst nie ist – ein ganzer Mann; und wenn er auch weiß, daß dieser Zustand vorüber ist, sobald er aus dem Zauberkreis ihres Zimmers tritt, macht ihn dies Gefühl doch froh. Mit einem fast heiteren Lächeln sagt er:

»Wie ist das eigentlich gekommen, daß wir Freunde geworden sind?«

»Es ist wohl so nach und nach gekommen, wie alles Derartige kommt und kommen muß«, ist ihre Antwort.

Sie schweigt eine Weile. Dann sagt sie, leicht und lächelnd, als spräche sie etwas ganz Selbstverständliches aus:

»Im übrigen kam's wohl daher, daß ich deine ganz spezielle Art von Einsamkeit verstand, so wie auch du ein bißchen für die meine fühltest. Nicht?«

»Es wird wohl so sein«, erwidert Steinert.

Was die beiden Freunde da reden, klingt, als warte jeder nur darauf, daß der andere das Schweigen bricht. Steinert ist gewöhnt, in diesem Zimmer auszuruhen, ganz einfach auszuruhen, ohne überhaupt viel zu sprechen. Und der Gedanke, daß es jetzt doch einmal sein muß, ist ihm zuwider. So wohltuend empfindet er das bloße Schweigen.

Schließlich aber erhebt er sich und geht zu der Freundin hin. Mit einer raschen Gebärde umfaßt er ihren Kopf und drückt einen Kuß auf ihr Haar. Dann wendet er sich schnell ab, als schäme er sich seiner Weichheit, und Tora merkt an seinen Augen, die sich plötzlich verschleiert haben, daß er erregt ist, es sich aber nicht anmerken lassen will.

»Ich glaube, ich habe mich nicht geirrt – ich habe dich gestern gesehen?« sagt sie, um ihm zu helfen. »Was ist geschehen?«

Steinert hat sich straff aufgerichtet. Jetzt ist sein Gesicht nicht mehr ruhig. Er antwortet erst gar nicht auf die Frage. Es ist, als blicke er in etwas ganz anderes, viel tieferes als sein eigenes kleines Schicksal, das, er fühlt es, der Vollendung nahe ist. Toras Augen folgen ihm, während er spricht, und ohne daß er es erst erklären müßte, begreift sie, daß die Worte, die er jetzt spricht, ihm schon längst auf der Seele brennen. Aber sie fühlt auch – wenn ihm nicht selber etwas begegnet wäre, das er nicht aussprechen kann oder will, so würden diese Worte nie gesprochen. Sie versteht, – er sucht einen Gesprächsstoff, um für eine Weile sich selber zu vergessen; und sie weiß auch, daß Oskar Steinert zu denen gehört, die so intensiv mit ihrer Zeit leben, daß ihr eigenes vereinzeltes Leben sich mit dem Schicksal aller zu einem furchtbaren Ganzen verwebt, dem sie nicht entrinnen können.

»Weißt du noch,« sagt er, »das erstemal, als ich zu dir kam? Du hattest mich aufgefordert, und ich stand da am Fenster. Es war ein Frühlingsabend wie heute, und ich sah zum erstenmal dies ganze Stück Stockholm, das sich so verändert hat. So viele Menschen waren da. Ja, ich meine das gerade so, wie ich es sage. Menschen waren da, so viele Menschen. Ich hab' sie im vollen Tageslicht gesehen. Ich saß in ihrem Kreis mitten unter ihnen, drückte ihnen die Hände, hörte auf ihre Worte und redete selber, wie ich jetzt bloß noch vor dir rede. Damals konnte ich zu allen sprechen und, was ebensoviel war: andere konnten zu mir sprechen. Keiner zweifelte an dem guten Willen des andern. Alle hatten wir einen Glauben, eine Hoffnung, eine Liebe. Wir hielten zusammen, aber ohne Berechnung; wir stützten einander, aber ohne Großtuerei, wir freuten uns über unsere Fortschritte, wir hatten ein Herz für alle Niederlagen . . . Wir kritisierten einander auch . . . Aber ohne Schadenfreude und ohne Anmaßung!

Und jetzt ist es, als wäre all das weg, oder als wäre etwas Dunkles, Schweres, Schattendes darübergewachsen, hätte alles zugedeckt, daß alles, was wir einst liebten, nicht mehr atmen kann! Was für Mächte sind das, die da tätig waren? Und wir – wir treten jetzt auf all das, was so zugewachsen ist – wir schreiten darüber weg – und die Erde ist öde geworden und leer!«

»Aber aus dem, was jetzt tot scheint, sprießt dereinst die Zukunft.« Steinert hält in seinem Hin- und Herwandern inne. Er hört auf diese Worte, die, von einem andern gesprochen, seinen ganzen satirischen Widerspruchsgeist ins Leben gerufen hätten, hört auf sie, weil sie von der Freundin kommen, hört auf sie, als erwarte er, daß sie vor seinen Augen in Erfüllung gehen müßten.

»Ach ja«, sagt er. »Wer das glaubt, der kann leben. Aber wo ist der Glaube? Wo die Hoffnung? Und die Liebe? Sag' einmal ehrlich: was hoffst du denn? Was glaubst du? Daß du liebst, das weiß ich. Sonst würd' ich dich ja nicht fragen.«

Tora Ljung beugt das Haupt. Ihr Gesicht ist im Schatten. Sie sieht nicht mehr jung aus jetzt.

»Ich lebe so einsam«, sagt sie. »Aber ich seh' doch ab und zu Menschen. In Gesellschaft red' ich nicht viel, sondern hör' zu, was andere sagen. Es sind ein paar Familien, in die ich oft komme. Und ich habe Menschen, mehr als du glaubst, die mich ans Leben binden. Daß du das alles so tief empfindest, kommt einfach daher, daß du so isoliert bist. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen mir gegenüber. Ich weiß, wie du's geworden bist. Aber ich will dir sagen, was ich glaube: es gehen noch mehr herum wie du – mit einem Herzen voll Trauer – und fühlen, daß etwas Dunkles, Schweres, Schlaffes über sie gekommen ist, etwas, das in unserem Land, vielleicht mehr als in irgendeinem andern, die Menschen voneinander trennt. Ich kann ja nichts tun, das weißt du. Schreiben kann ich nicht, noch weniger Vorträge halten. Ich kann nur eins: versuchen, mein Herz jung zu halten und zu warten, warten, bis bessere Tage kommen.«

»Und wenn die nie kommen?«

Steinert ging noch immer im Zimmer auf und ab. Aber er trat leise auf, wie um jedes Wort zu hören. Seine Freundin erwiderte:

»Dann will ich versuchen zu glauben, daß andere, die nach mir kommen, sie dereinst sehen werden.«

Sie machte eine Pause; dann fuhr sie, die Blicke auf Steinert gewendet, der jetzt am Fenster stand und in die Dämmerung des Frühlingsabends hinausblickte, fort:

»Glaubst du, du seist der einzige, der sich vereinsamt fühlt? Glaub mir, Hunderte von Männern und Frauen im ganzen Land leiden unter demselben Gefühl wie du. Bei manchen äußert sich dies Leiden als geistige Überhitztheit. Andere verfallen einem trägen Gewohnheitsdasein, wieder andere verzehren sich in Haß. Manche suchen Vergessen in Ausschweifung und Trunk. Oder sie suchen ihre Zuflucht in Spott und Hohn. Und alle haben sie ein Gemeinsames: sie fühlen sich vereinsamt. Sobald man sie nahe genug beobachtet, merkt man das. Und unter denen, die diese Vereinsamung am allertiefsten und schmerzhaftesten fühlen, findet man auch die, die sich in sich selbst verschließen und arbeiten – und warten. Das sind die, die den Grund bauen für das neue Schweden, das dereinst kommen wird – wenn der Tag der Isolierung vorüber ist.«

»Das neue Schweden? Was ist das für ein Wort?«

Oskar Steinerts Stimme klang scharf, fast gehässig. Aber Tora Ljung lächelte ihm zu – wehmütig und doch voll Vertrauen.

»Betrüg dich nicht selbst«, sagte sie. »Mich kannst du nicht täuschen. Ich hab' dich doch gesehen und weiß, wie all das gekommen ist. Ich weiß, du hast noch viel mehr übrig für diesen Gedanken, als ich. Das neue Schweden. Das, von dem jetzt noch keiner spricht, und das einmal auf aller Lippen sein wird – und was noch mehr ist – in aller Herzen – lebendig und jung!«

»Es gab einmal etwas, was sich ›das junge Schweden‹ nannte«, lautete seine Antwort. »Wenn ich mich recht entsinne, war es ein Schimpfwort und galt auch als solches.«

»So alt sind wir noch nicht«, erwiderte sie.

»Du bist glücklich, daß du an all das glauben kannst!«

Steinert blieb stehen; seine Worte klangen gedämpft:

»Einmal in meinem Leben hab' auch ich auf solche Worte gelauscht; und ebendieser Sirenensang ist jetzt meine Hölle. Mein Unglück ist, daß ich ein so verzweifelt gutes Gedächtnis habe. Ich denke an die Männer, die zertreten wurden, an Frauen, die zugrunde gegangen sind. Andere auch weiß ich, die wie durch ein Wunder gerettet wurden. Und die, die diese Schicksale miterlebt haben, die leben weiter; und um die Namen der Toten ist's still geworden. Die lebenden Toten waren mächtiger als die, die da sterben mußten, weil ihr Geist lebendiger war als der der andern. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, Tora, so ist es manchmal, als säh' ich auf lauter Gräber. Ich kam hierher, voll Kraft, jung, hatte mich hergesehnt, weil die Universität mir zu eng schien. Von den Freuden der Jugend wußte ich nicht viel. Ich kam hierher mit dem Gedanken, daß das Leben eigentlich recht bitter ist, und daß das Beste, was mich erwartete, die Arbeit war. Damals war auch ich wie jetzt du. Ich wartete. Du kennst mich, Tora; du weißt, was ich sage, ist wahr. Mein Vater war eben erst gestorben; meine Mutter lebte sorgenfrei. Und ich ging auf Reisen. Ich reiste – ich kam wieder heim – und jedesmal, sooft ich heimkam, war es leerer um mich. Als ich das letztemal heimkam, brachte ich eine Frau mit, meine Frau. Wir hatten einander gefunden in der großen Stadt an der Seine, wo die Wogen des Lebens hochgehen, wo jeder Tag uns zu neuer Freude weckte. Wir waren miteinander gegangen, als zwei einsame Menschenkinder, die sich gefunden hatten; daß je der Tag kommen würde, an dem wir entdecken sollten, daß es besser gewesen wäre, wir hätten uns nie gesehen – das ahnten wir beide nicht. Der kranke Punkt in meiner Frau lag ganz im Verborgenen. Das Leben trug uns so leicht, der Alltag mit seiner Schwere und Unlust lag so tief unter uns. Wir waren glücklich da draußen, unsagbar glücklich. Ich weiß noch, es war damals, als ob alle Menschen strahlten, wenn sie uns nur ansahen. Dann – eines Tages – packte uns das Heimweh, und wir reisten heim. Ich brachte sie dir – hier – in dies Zimmer. Erinnerst du dich noch an jenen Abend? Nie war es in mir so still, so ruhevoll gewesen, wie damals. Nie war ich so weit entfernt von aller Unruhe, von allem Tand, aller Verwirrung. Und doch – als ich kam, fühlte ich's – ich kam zu spät. Die paar Jahre, die so Hohes verheißen hatten, waren zu Ende. Ich war ein armer Mann, der sein Erbe im fremden Land verpraßt hatte; und so, wie ich eben damals stand, mußte ich ein Rechtsanwaltsbureau eröffnen – meine Träume opfern. Ich eröffnete mein Bureau. Ich mußte ja doch leben. Man sagt, ich habe Glück gehabt, alles sei mir gut von der Hand gegangen. Aber von all dem, was ich einst hoffte und erstrebte, ist nichts mehr übrig; und wenn du sagst, ich müßte trotzdem warten und hoffen, so empfind ich das wie einen Hohn, sogar wenn es von dir kommt. Was willst du denn, daß ich hoffen soll? Ich bin ja doch an Händen und Füßen gebunden. Wahrlich, damals, als ich zurückkam, da kam ich mir so verirrt vor, als hätt' ich die Heimat, die große, schöne Welt, in der ich daheim war, verlassen, wär unter lauter Fremde geraten, die mich ebensowenig verstanden, wie ich sie. All das weißt du ja. Warum sag' ich dir's?«

Tora Ljung hatte sich erhoben. Schlank und rank stand sie vor ihm und blickte in das Gesicht, dessen Augen ihrem Blick nicht standhalten wollten.

»So denkst du in deinen dunkeln Stunden«, sagte sie leise. »Aber so ist es nicht. Du glaubst, unser Volk sei tot. Aber ich sage dir, es lebt. Winter um Winter hockst du in der Hauptstadt und triffst doch keinen Menschen. Denn deine Whiskybrüder und Geschäftsleute, die rechne ich nicht. Du siehst alles schwarz, du und alle unsere Besten, und warum? Weil du der Marktschreierei müde bist, und weil die Marktschreierei so laut spricht und so lang. Schau dich um in der Welt, und du wirst sehen, was Schweden ist. Unsere Wissenschaft, unsere Kunst, unsere Literatur! Ein Volk, das solches hervorbringt, ist das im Niedergang begriffen? Ich sag' dir, so wahr ich hier steh – eine schon fast alte Frau, die keiner kennt, außer dir und ein paar Freunden – das Schweden, das du erträumst, das gibt's. Nur daß du es nicht sehen kannst!«

Ihre Wangen glühten, und so stark war die Überzeugung, aus der sie sprach, daß Steinert ihr nicht zu widersprechen vermochte. Sie fügte noch hinzu:

»Es braucht ja nur irgend etwas zu geschehen, damit du und ihr alle es seht, wie ich es sehe!«

»Was soll denn geschehen?« fragte er zweifelnd.

»Das weiß niemand vorher.«

Oskar Steinert schwieg. Dann sagte er:

»Da wollen wir nur wünschen, daß es bald geschieht. Sonst werd ich – und viele mit mir – zu alt für dein neues Schweden!«

»Das wirst du schon nicht. Da laß mir nur meinen Glauben!« erwiderte Tora und streckte ihm die Hand entgegen.

Steinert ergriff sie; und während er diese freundliche, warme Hand, die er in Freud und Leid so oft gedrückt hatte, in der seinen hielt, ward er plötzlich weich wie ein Kind; das Widerstreben, das ihn vorhin daran gehindert hatte, von sich zu sprechen, begann zu weichen. Noch beherrschte es ihn, noch versuchte er seinen Willen mit Gewalt zu zwingen, daß er nicht nachgäbe . . .

»Warum reden wir über all diese Dinge?« sagte er. »Was nützt es mir, wenn das, was du hoffst, auch einmal kommt? Ich würde ja doch außerhalb stehen, ich hab' nicht mehr die Kraft, die man braucht, um andern nahezukommen.«

Er ließ ihre Hand los und wandte sich ab.

»Ach! ich halte es nicht länger aus!« rief er. »Du denkst, ich sitze hier und rede mit dir. Aber das ist falsch. Ich bin weit weg. Nichts als die Hülle ist es, die du vor Augen hast, ein Schein, ein Schemen, eine Gliederpuppe. Ich kann sprechen und denken – aber das ist nur Verstellung. Wenn ich allein bin, fall ich zusammen wie ein Leichnam. Ich habe kein Teil an deinen Interessen; was tu ich damit? Die Erregung, die du an mir siehst, hat einen ganz anderen Grund, als du glaubst. Alles, was die Dinge betrifft, die früher groß für mich waren – Freunde, Vaterland, Zukunft und Freiheit – das sind tote Worte, die ich im Mund führe, weil es andere von mir verlangen, weil du, ohne es zu wissen, begehrst, daß ich mich so zeigen soll. Damit ich mich vor dir nicht schämen muß, folge ich dir, höre deine eigenen Gedanken aus meinem Mund sprechen. Aber nichts von all dem berührt mich mehr, nichts als mein eigenes, armseliges Leben, das gar kein Leben mehr ist.«

Oskar Steinert ließ sich auf den Stuhl gleiten, vor dem er stand, und sein Kopf sank zwischen seine weichen, starken Hände.

Tora Ljung war sehr blaß geworden. Der Schmerz, den sie hier sah, war einer, dem sie sich nicht zu nähern wagte.

»Was ist es?« sagte sie. »Kannst du mir's nicht sagen?«

Der Mann vor ihr regte sich nicht. Still, stumm blieb er in derselben Stellung, fast als schliefe er.

Alles, was an unverbrauchter mütterlicher Wärme in diesem starken Weib war, das allein stand zu einer Zeit, in der des Weibes Sehnsucht am größten ist, erwachte vor diesem Schmerz, dessen Ursache sie ahnte, dessen Ausdehnung sie doch nicht begriff. Still setzte sie sich neben ihm. Ohne zu sprechen legte sie die Hand auf Steinerts Schulter und ließ sie da ruhen. Weil sie fürchtete, ihn zu stören, wollte sie die Hand schließlich wieder zurückziehen. Mit einem Zittern, als erschrecke er, nahm Steinert diese Hand und hielt sie in der seinen fest.

So saß Tora Ljung, regungslos. Ihre Augen weiteten sich, als wolle sie mit Gewalt das Dunkel durchdringen, um den Weg zu dieser Seele in Not zu finden. Sie sah alt aus, wie eine Mutter, die unter dem Schmerz ihres Kindes leidet und es nicht zu bitten wagt, ihr zu vertrauen.

In stummem Warten saß sie so; und als sie lang genug gewartet hatte, da verstand Steinert sie. Mitten in dem dumpfen Schmerz, der ihn beherrschte, verstand er, daß er jetzt reden mußte – um seinetwillen und um ihretwillen, die in dieser Stunde, mehr als in langen Jahren, seine Freundin geworden war. In abgerissenen Worten erzählte er von seinem und seiner Gattin Leben, beichtete, wie er seither immer nur ein halbes Vertrauen gegeben hatte, ausgewichen war, versteckt hatte, wie er nur arbeitete, um zu retten, wie tief er verstrickt, wie verzweifelt seine ganze Lage war.

»Ich glaubte, ich könnte doch wenigstens die Kinder schützen«, sagte er zum Schluß. »Jetzt wissen sie alles. Sie geradezu fragen konnt ich nicht. Es war ja auch nicht nötig. Ich weiß es doch. Vergebens war alles, was ich getan habe. Nutzlos, zwecklos ist all das Leid dieser Jahre vorübergegangen. Du verstehst – es ist alles immer in Perioden gegangen. Zum erstenmal merkte ich, daß dieser kranke Punkt, von dem ich dir gesprochen habe, überhaupt da war, nach der Influenzaperiode vor ein paar Jahren. Du erinnerst dich – meine Frau war damals krank.«

»Ja, ich weiß.«

»Ich sagte, sie sei krank. Damals war's das erstemal . . .«

Steinert verstummte mit einer unaussprechlich gequälten Miene. Dann fuhr er fort, als sei es ihm eine Erleichterung, zu sprechen, ein Trost, dem Unheimlichen zu Leibe zu gehen, es in Worten, und sei es in noch so starken, um sich lebendig zu machen:

»Glaub mir, Tora – ich hab' alles getan, keiner weiß, was ich durchgemacht habe, mehr als du überhaupt hören könntest, mehr als ich dir sagen kann. Mehr als ich überhaupt selber weiß. Immer stärker kamen die Anfälle. Stundenlang hab' ich an ihrem Bett gesessen und sie zur Ruhe geredet. Nächte hindurch hab' ich gewacht, um sie zu hindern, sich selbst ein Leid anzutun oder eine der unzähligen Handlungen zu begehen, die sie vor andern hätten verraten können. Auf meinen Armen hab' ich sie vom Fenster weggetragen, als sie sich auf die Straße stürzen wollte. Ich hab' gekämpft mit ihr, mitten in der Nacht, um zu verhindern, daß sie weglief, Gott weiß weshalb und wohin. Ihr Leiden in all der Zeit war etwas Entsetzliches; dabei war ihre Liebe zu uns allen stärker als in den Tagen der Gesundheit. Und weißt du, worunter sie am meisten leidet? Darunter, daß sie für die Kinder und mich nicht sein kann, was sie gern möchte. Und doch ist weder für sie noch für mich je ein anderer Mensch das gewesen, was sie ist. Niemand kann das auch. Es ist, als verdopple sich ihre Kraft und Zärtlichkeit, wenn die Gesundheit zurückkehrt. Wie oft hat sie nicht unser Heim mit einem Glück erfüllt, das mich alles, alles vergessen ließ und mir den törichten Glauben einflößte, alles, alles sei jetzt vorüber wie ein böser Traum, der nie wiederkehrt!

Das Furchtbarste ist, daß sie immer vorauszufühlen scheint, wenn das Schlimme kommt. Schließlich ist das ja gewiß nur natürlich. Wahrscheinlich ist es fast immer so . . . in derartigen Fällen. Aber dies Warten . . . im voraus wissen . . . jetzt kommt es wieder . . . wächst . . . und wächst . . . Auf den Knien ist sie einmal vor mir gelegen und hat gebeten: Was auch geschieht . . . wie ich auch werde, schick' mich nicht von dir, laß mich nicht zu fremden Menschen! Was sollt' ich da tun? Ich mußt' es ihr ja versprechen. Und ich weiß, wenn ich mein Versprechen breche, so werd ich mir das nie verzeihen.«

Tora Ljung beugt sich vor und sagt:

»Also das ist es . . . daran denkst du jetzt?«

»Ich weiß nicht.«

Die Antwort klang wie ein Angstruf.

»Wenn's um die Kinder geht, so muß ich ja!«

Stunde auf Stunde verrinnt. Zwei Menschen sitzen beieinander in dem stillen Zimmer, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht. Sie reden nicht mehr. Bloß abgebrochene Worte, kurze Sätze fallen noch zwischen den beiden, die sich gegenseitig so seltsam nahegekommen sind, seit sie beide alles wissen.

Als Oskar Steinert sich endlich erhebt, um zu gehen, faßt Tora Ljung seine Hand und sagt:

»Wenn du mich brauchst, so laß mich's wissen, ich verspreche dir, ich werde kommen.«

»Danke!« sagt er. Dann geht er.

Drunten auf der Straße denkt er noch nach über den Sinn dieser Worte, die er vor Müdigkeit nicht verstanden hat. Um ihn fällt der Frühjahrsschnee in großen, nassen Flocken, die auf dem Pflaster zerschmelzen.

 


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