Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Fünfzehntes Kapitel

In Steinerts Arbeitszimmer sitzen die beiden Eheleute sich gegenüber. Die Lampe auf dem Schreibtisch ist angezündet: durch die grüne Kuppel fällt der Schein mild über die ernsten und verschlossenen Gesichter der zwei.

Steinert kämpft mit sich. Er weiß, er hat getrunken; und dies Bewußtsein verführt ihn eine Weile zum Glauben, seine Gedanken seien nur durch den Rausch hervorgerufene Spukgesichte. Er fühlt sich ruhiger in dieser neuen Umgebung. Gespannt untersucht er sich selber und merkt, daß sein Denken klarer ist als sonst und sein Gehirn freier. »Ein Fieberkranker,« denkt er, »kann viel trinken, ohne es zu merken.« Er wirft einen Blick auf seine Frau und sieht, wie sie die Lippen zusammenkneift, als wolle sie einen aufsteigenden Zorn oder Kummer verbergen. Um etwas zu sagen, fragt er: »Was denkst du?«

Sie erwidert ausweichend: »Nichts.«

Nach einer Weile fügt sie hinzu: »Aber du hast irgend etwas gedacht heute abend?«

Ihre Stimme hat einen scharfen Klang; ihre Augen funkeln.

Steinert beugt sich in seinem Stuhl vor; seine Hände schließen sich krampfhaft um die Seitenlehnen.

»Warum kann ich dir nicht mehr nah kommen?« fragt er. »Was hast du gegen mich?«

Sie zuckt zurück. Ihr Gesicht wird bleich.

»So etwas fragt man am besten nicht«, erwidert sie scharf.

Steinert weiß, daß er sich gefährlichem Gebiet nähert; er weiß, was er jetzt spricht, das liegt schon lange hinter all ihren Worten und Handlungen verborgen, ist unter dem ganzen wahnwitzigen Leben dieses Winters versteckt gewesen. Er redet nicht mehr mit Überlegung, nicht mehr, um etwas zu erreichen. Er redet nur, weil er muß, weil die Worte über seine Lippen wollen: »Ich frage, weil ich es wissen muß«, sagt er. »Du ahnst ja nicht, wie ich damals auf dich gewartet habe! Jeder einzelne Tag ist mir lang geworden! Jeden Morgen rechnete ich mir aus, daß er mich dem Tag näher führte, der dich mir zurückgeben mußte! Weißt du noch, wie es damals, in der ersten Zeit, zwischen uns war? Weißt du noch, wie ich mich dir näherte und du mich zurückstießest? Oder spreche ich vielleicht nicht die Wahrheit? War es vielleicht alles bloß Einbildung? Hab' ich Unrecht gehabt? So sag's. Ich ertrage das nicht länger!«

»Was erträgst du nicht?«

»Dies Schweigen zwischen dir und mir.«

Frau Ellen sitzt wie unberührt da; ihre Züge werden starr, ihr Kopf sinkt in die Hand. Die Gestalt, die er da vor sich sieht, ist ihm ganz neu; in das Gesicht kommen plötzlich Züge, die er jetzt zum erstenmal entdeckt . . . Die Abneigung, die mit einemmal in ihm aufquillt, niederzwingend, sagt Steinert: »Begreifst du denn nicht, daß ich dich noch immer liebe?«

Er hat leise gesprochen und hört selber, daß seine Worte kurz, bitter, schneidend klingen.

Frau Ellen zuckt zusammen. Ein Frösteln durchläuft sie. Sie beide sind so weit auseinander gekommen, daß nur noch das Ohr hört; das Herz ist taub. Nichts ist zwischen ihnen als eine große Leere; und doch steigt vor ihnen die Erinnerung auf an die Zeit, als noch das Glück in ihnen herrschte, ganz, voll, makellos. Es ward ein Schweigen, so quälend, so lang, so drückend, wie es nur zwischen Menschen sein kann, die einander unbewußt verwunden, einfach dadurch, daß sie allein miteinander sind . . . Weil zwischen ihnen böse Gedanken hin und wieder gehen, Gedanken, die zerreißen, zerfleischen, quälen . . .

Oskar Steinert fängt an zu verstehen; aber noch will er es nicht glauben. Es kann ja nicht wahr sein. All die langen Jahre des Kampfes gegen Krankheit und Leid können ja nicht vergebens gelebt sein. Er sucht nach Worten, die zum Herzen seiner Frau dringen, nach Worten, die stark genug sind, auch seine eignen Zweifel zu verscheuchen, die Zweifel, die es ihm sagen, daß alles, was er jetzt endlich sieht, zu spät kommt . . . Er sehnt sich nach seinem Traum, dem blinden Traum, in dem er so lange Jahre durch glücklich gewesen ist . . .

»Weißt du denn gar nichts mehr?« fragt er schließlich. »Hast du alles vergessen?«

Jetzt beginnt Frau Ellen zu reden. Sie sitzt in der Sofaecke, weit weg von ihrem Mann; und von ihren Worten wird um sie beide die Luft kalt.

»Du meinst, du hast viel für mich getan«, sagt sie.

Er versucht sie zu unterbrechen, nein zu sagen.

»Doch«, fährt sie fort. »Das denkst du. Ohne daß du es weißt, läßt du mich fühlen, was ich dir schuldig bin. Vielleicht hast du auch ganz recht. Du hast mehr für deine Frau getan, als irgend ein anderer Mann meiner Bekanntschaft. Aber das hilft nichts. Geben ist seliger denn Nehmen, heißt es, und wer immer nimmt und nicht geben kann, der wird schließlich kalt.«

Oskar Steinert starrt in das ruhige Gesicht seiner Frau; wieder geht es ihm ganz plötzlich auf, daß das ja ein neuer Mensch ist, der da zu ihm spricht. Die Frau, die da zu ihm spricht, das ist nicht das Weib seiner langjährigen Träume. Denn ein Traum von Schmerz und Glück war es, in dem er gelebt hat, und noch jetzt kämpft er zwischen Schlaf und Wachen. Seine Augen blinzeln, als tue das Licht ihnen weh.

»Ich weiß auch, wann du und ich aufgehört haben, einander zu lieben«, fährt Ellen fort.

»Wir haben also aufgehört? Es ist aus zwischen uns?« unterbricht er sie.

»Schon längst.«

»Warum läßt du mich dann Tag für Tag mich abquälen mit allem, was auf mir lastet? Was willst du denn noch von mir?« möchte Steinert rufen.

Aber er nimmt sich zusammen, sagt nichts, lehnt sich nur in seinem Sessel zurück und nickt seiner Frau zu, fortzufahren. Mit einem Gefühl der Erleichterung, daß er endlich, endlich vor einer Entscheidung steht, wartet er auf das, was noch kommen soll.

»Du meinst, ich hätte dir das früher sagen sollen, damit du dich hättest frei machen können«, fährt Ellen fort. »Aber es lebt schon so lange in mir, daß ich mich daran gewöhnt habe als an etwas, was gar nicht anders sein kann. Wenn ich hier, daheim, neben dir saß, wenn unsere Blicke sich draußen trafen, wenn ich den Lärm um uns her hörte und wenn die Stille mich quälte – – immer ist es wiedergekommen, immer hab' ich es in mir gehört: zwischen ihm und mir ist es aus. Und wenn du wissen willst, wann das angefangen hat, so will ich dir auch das sagen.«

Sie richtet sich im Stuhl auf. Das kleine, kindliche Gesicht sieht plötzlich alt aus, die Augen stehen so seltsam kalt unter der klaren Stirn, an der die Augenbrauen fehlen. Sie spricht hart, ruhig, es sieht fast aus, als ob die Grausamkeit, die sie da begeht, ihr eine unwürdige Freude machte.

»Es war, als ich so lange krank war,« fährt sie fort, »und du zu mir kamst und mir sagtest, ich müsse aus dem Hause. Du sprachst von den Kindern und von dir; und auch von mir. Und ich lag ganz still und machte die Augen zu. Ich konnte dich nicht ansehen. Ich dachte nur immer: ›Begreift er denn nicht, was jetzt geschieht?‹ Und du sprachst immer weiter. Ich konnte dir auch nicht widersprechen. ›Ich geh' fort von ihm‹, dachte ich. ›Ich tu', was er von mir will. Wenn er das wünschen kann, so will ich es auch.‹ Als du fort gingst, merkte ich, wie erleichtert du warst, daß ich nicht widersprochen hatte. Und den ganzen Tag damals hörte ich in mir nichts als eine Stimme, die nur immer sagte: ›Er will dich los sein.‹«

»Hast du gar nie daran gedacht, daß du krank warst?« sagte Steinert. »Und daß alles, was geschah, eine Notwendigkeit war?«

»Doch«, erwiderte Frau Ellen zögernd. »Das wohl. Aber am meisten dachte ich doch daran, daß du mich allein ließest, gerade als ich dich am allernotwendigsten brauchte. Hab' ich dir das nie gesagt?«

Sie heftete einen ängstlich fragenden Blick auf ihren Mann. Und blitzschnell erinnerte sich Steinert. Er dachte an die Fahrt im Wagen, an die Szene auf dem Hof des Krankenhauses, an den plötzlichen Hassesausbruch seiner Frau, an die Heimfahrt, an all das, woran er so oft gedacht und was er dann wieder vergessen hatte, all das, was er gern einmal einem Freund erzählt hätte und doch nie hatte über die Lippen bringen können. War es möglich, daß ein Zusammenhang war zwischen diesem Wahnsinnsausbruch und den kalten Worten, die ihn jetzt so ruhig und überlegen von seiner Frau schieden? Das fragte er sich. Als Antwort auf die Frage seiner Frau sagte er: »Du hast es mir einmal gesagt; aber ich habe versucht, es zu vergessen.«

»Wann?«

In schonenden, kurzen Worten beantwortete Steinert ihre Frage. Ellen lauschte, und ein Ausdruck der Erleichterung, wie wenn man endlich über eine Frage, die lange im Dunkel geschwebt hat, Klarheit erhält, glitt über ihre Züge.

»Ja, ja, ich weiß«, murmelte sie wie in Erwiderung auf ihre eigenen Gedanken.

Mit einer plötzlichen, unbeherrschten Bewegung erhob sie sich und stand kerzengerade vor ihrem Mann. Der Lampenschein fiel über ihre üppige Gestalt, die seidene Bluse, den Gürtel und den dunklen Rock, während das Gesicht im Schatten lag.

»Ich weiß jetzt alles wieder«, sagte sie. »Und ich weiß auch, was ich sagte, war Wahrheit. Und alles andere war Lüge und Schein. Diese Erinnerung steht zwischen uns und wird immer zwischen uns stehen. Und nur eins will ich dir sagen: Wenn die Rollen vertauscht gewesen wären – nie hätte ich so an dir handeln können!«

Und damit wendet sie sich um und verläßt das Zimmer. Steinert hört das Rascheln ihrer seidenen Röcke, während sie durchs Eßzimmer geht, das Geräusch einer Tür, die sich schließt. Er sitzt noch immer zusammengesunken in seinem Stuhl, und alles, was er gedacht und geträumt hat, sinkt vor ihm in Asche. Unabänderlich wandelt sich in dieser Minute sein ganzes Leben. Alles ist ihm entglitten. Nichts hat er mehr. Wo er zum besten zu handeln glaubte, hat er Böses noch schlimmer gemacht. Wo er zu heilen glaubte, hat er neue Wunden geschlagen. Wo er zu binden gedachte, hat er zerrissen . . .

Aber aus all diesen Gedanken ringt sich noch etwas anderes ans Licht, etwas, das ihn mehr demütigt als alles, weil es ihn zwingt, die Wahrheit zu sehen, wie sie ist. Die Frau, die ihm zurückgekehrt ist, die hat nie in unendlicher Dankbarkeit seine Zärtlichkeit entgegengenommen und sich an ihn geschmiegt, desto enger, je dunkler über sie die Schatten fielen . . . Nie war dies Bild Wahrheit – seine Einbildung allein hat es geschaffen, seine Einbildung und seine grenzenlose Liebe. Nicht die Krankheit seiner Frau war es, gegen die er kämpfte; etwas viel Schlimmeres war es. Eine Natur war es, deren hoffnungslose Leere er vor heute überhaupt nie begriffen hat. Der Ton hat sie verraten, der Ton, der den Worten des Schmerzes widersprach und den Mangel an Gedanken und an Herz verriet. Die Frau wird nie mehr der Pflege bedürfen. Nie mehr wird das Leiden, das sie betroffen hatte, wiederkehren. Der Zorn, der einst erwachte, als sie sich verlassen, enttäuscht sah, hat sie gestählt, hat den ganzen Menschen um und um gewendet und ihn gezeigt, wie er in Wahrheit ist und immer war. Von nun an wird sie ihren eignen Weg gehen, leer an Liebe, stark im Haß, verschlossen und klug, von ihren Leiden nur sprechend, wo es ohne Risiko geschehen kann, sonst verschwiegen . . . ein Weib, das um sich her eine Leere schafft und deren ganzes Dasein ein Scheinleben ist.

All das sieht Oskar Steinert; und ihn drückt die Scham darnieder, die Scham, ebenso zwecklos und blind geliebt zu haben, wie er gelebt hat; drückt ihn danieder, so schwer, als könne er nie wieder sich erheben. Und im Sitzen schläft er ein. Als er aufwacht, fröstelt ihn; das Öl in der Lampe ist ausgebrannt. Halb ausgekleidet schleicht er sich ins Schlafzimmer, schlägt einen Teppich um sich und liegt so wach bis zum Morgen, froh, daß wenigstens das Mädchen ihn nicht überrascht hat. Neben ihm schläft mit ruhigen, starken Atemzügen Frau Ellen.

 


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